Marie Wendland

Rapsblütenherz


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sagen hatten, obwohl sie sich doch gerade erst kennen gelernt hatten. Irgendwann wurde das Vibrieren aber zu einem Dauergeräusch, als würde jemand pausenlos versuchen, sie anzurufen. Johanna wusste, dass nur einer so penetrant sein konnte. „Ich glaube, ich muss mal los“, sagte sie schweren Herzens. Der Augenblick war so unverhofft schön, dass sie ihn gar nicht beenden mochte.

      „Ja, mach‘ das“, stimmte Evi ihr zu, ohne dass man hätte sagen können, ob auch sie das Ende der Unterhaltung bedauerte.

      „Mach’s gut, Carrie!“ Johanna kraulte dem Pferd ein letztes Mal den Hals und drehte sich dann wieder zu Evi. „Darf ich dich noch eine Sache fragen?“

      „Schieß los!“

      „Ist es wirklich so fantastisch, wie es aussieht?“

      „Was?“

      „Das Gewinnen“, erklärte Johanna, aber Evi zuckte nur mit den Schultern und lächelte wissend.

      „Komm‘ uns doch mal besuchen“, sagte sie stattdessen und reichte ihr eine Visitenkarte. Johanna nahm sie erfreut entgegen, auch wenn sie das Angebot nur für eine höfliche Geste hielt.

      „Es war schön, dich getroffen zu haben, Evi!“

      „Gleichfalls! Wir sehen uns, Janna!“ Eine klassische Abschiedsfloskel. Evi nickte ihr zu, dann wandte sie sich dem LKW zu.

      Johanna saugte noch einmal die Szene in sich auf: Das majestätisch schöne Pferd, dessen Fell in der Abendsonne glänzte, daneben die elfenhafte Reiterin, die ihr genauso mysteriös wie liebenswert erschien, alles umgeben von der ausgelassenen Stimmung des Hamburger Springderbys. Dann wandte auch sie sich um und ging. Ihr kleines Abenteuer war zu Ende. Hastig kaufte sie sich eine große Portion Wok-Nudeln, denn ihr Magen hing ihr inzwischen in den Kniekehlen. Mit der dampfenden Pappbox in der Hand eilte sie Richtung S-Bahn-Station, aber nicht ohne am Eingang des Derbyparks noch einmal kurz innezuhalten, wie um sich zu verabschieden. Im nächsten Jahr würde sie wieder hier sein!

      Mithilfe eines kurzen Sprints erreichte sie die S-Bahn, die gerade einfuhr, als sie um die Ecke bog. Außer Atem ließ sie sich auf die abgenutzten Polster eines freien Sitzes fallen und angelte ihr Handy aus der Tasche. Wie erwartet hatte sie unzählige verpasste Anrufe und WhatsApp-Nachrichten von Moritz: „Wo bleibst du???“ in allen Variationen, einige schmeichelhaft, andere eher weniger. Johanna seufzte. Sie wusste, dass ihr Freund sich schlecht mit sich selbst beschäftigen konnte, und es war ja auch lieb, dass er sie vermisste. Sie seufzte noch einmal. Schon immer hatte sie sich gut in andere einfühlen können. Ihre Empathie war ihre große Stärke, sagten andere, aber Johanna selbst war sich da manchmal nicht so sicher. Manchmal nervte es einfach, dass sie nie jemandem böse sein konnte, weil sie immer irgendwie Verständnis für alle hatte. Dabei gefiel es ihr gar nicht, dass Moritz sie so abrupt und selbstsüchtig wieder in den Alltag zurückkatapultiert hatte. So lange hatte sie sich auf diesen Tag gefreut und jetzt war er schon wieder vorbei. Sie zwirbelte eine Haarsträhne zwischen den Fingern und betrachtete sie kritisch. Die blonden Strähnen und das ständige Glätten hatten die Spitzen zweifellos geschädigt. Wenn sie solche Haare wie Evi hätte, könnte sie sich das sparen. Aber obwohl man ihre Haare auch als dunkelbraun bezeichnen würde, waren sie ganz und gar nicht so - mehr wellig als glatt, mehr scheckig als glänzend.

      Evi…und Carrie. Auch wenn Johanna die beiden höchstwahrscheinlich nie wieder sehen würde (denn sie würde das Besuchsangebot natürlich genauso höflich nicht annehmen, wie Evi es ihrer Meinung nach ausgesprochen hatte), war sie froh, sie getroffen zu haben. Eine glückliche Begegnung an ihrem Glückstag. Sie wusste zwar gerade nicht wofür, aber das musste einfach ein gutes Omen sein.

      Kapitel 2

      Napoleon

      Kleinen Männern wird Vieles nachgesagt. Das Wenigste ist schmeichelhaft. Auf Hajo Stegmann trifft alles zu.

      Johanna beglückwünschte sich zu dieser außerordentlich treffenden Erkenntnis und sah auf.

      Die S-Bahn überquerte gerade die Lombardsbrücke und machte den Blick auf die Alster frei. Auf der einen Seite tummelten sich trotz der frühen Stunde bereits Ruderer, auf der anderen Seite glitzerte die Alsterfontäne in der Morgensonne. Wieder einmal war Johanna ungemein stolz darauf, Hamburgerin zu sein.

      Aber ja, es stimmte tatsächlich, Hajo Stegmann war das personifizierte Klischee: Er war klein und drahtig, genauso selbstsüchtig wie machthungrig und hatte mehr Komplexe, als man auf seine geringe Körpergröße hätte tätowieren können. Zu allem Überfluss war er zudem ihr Chef. Johanna seufzte (das tat sie genau genommen ziemlich häufig). Das waren keine motivierenden Gedanken für den Arbeitsweg. Und überhaupt hätte sie diese am besten nie zu Papier gebracht, so etwas gehört nicht in ein unverschlüsseltes Notizbuch…

      Ihre Gedanken brauchten jedoch einfach ein Ventil, denn es fiel ihr schwer, nur so dazusitzen und zu denken. Sowieso war sie immer irgendwie beschäftigt. Optimale Zeitausnutzung war schließlich alles. Einer ihrer Dozenten an der Uni hatte es auf den Punkt gebracht: Leistung, das war Arbeit pro Zeit. Das war vielleicht die wichtigste Erkenntnis ihres ganzen BWL-Studiums, denn genau so erreichte man Bestnoten. Nicht durch überragende Intelligenz, sondern durch gute Organisation, Fleiß und Wollen. Das absolute Wollen. Ihr Durchhaltevermögen hatte Johanna bereits so weit gebracht, da würde sie diesen Arbeitstag auch noch schaffen.

      Am Bahnhof Dammtor stieg sie wie jeden Morgen aus, denn von hier aus war es nur noch ein kurzer Fußweg zum Büro. Zunächst aber erstand sie wie ebenfalls jeden Morgen einen Karamell-Macchiato. Und obwohl das Getränk an sich bereits Frühstück genug war, orderte sie heute noch ein Franzbrötchen dazu - einer der weiteren Vorzüge ihrer Heimatstadt. Sie war mit ihrer Beute schon fast beim Ausgang angelangt, als sie die Auslage der Bahnhofsbuchhandlung wie magisch anzog. Fröhlich-leichte Cover lachten ihr entgegen und erinnerten sie daran, dass draußen Frühling war. Johanna hatte eine lange Liste mit Büchern, die sie lesen sollte, äh wollte, von Werken mit historischem Hintergrund über zeitgenössische Biographien bis hin zur unvermeidlichen Fachliteratur, aber eines dieser Bücher hier stand garantiert nicht darauf. Trotzdem konnte sie insgeheim nichts Falsches daran finden, sie zu lesen. Schließlich handelten die meisten dieser Romane unter dem pastellfarbenen Einband von Nächstenliebe, Träumen und Hoffnung. Und was konnte daran schon falsch sein? Was ihr aber zunehmend auffiel, ja sie fast störte, war, dass jeder zweite Titel von einem Neuanfang handelte und die Protagonistin sich am Ende unweigerlich in einer Bäckerei in einem Bus, einer Buchhandlung in einem Boot oder einer Bäckerei in einer Buchhandlung wiederfand. Johanna mochte keine Neuanfänge. Einen Neuanfang brauchten schließlich nur diejenigen, die ihr erstes Leben versaut hatten. Neuanfänge waren was für Loser.

      Das Gebäude, in dem sich ihr Büro befand, war glatt, gläsern und anonym. Johanna schritt langsam durch die große Drehtür, die ihr immer das Gefühl einer gewissen Wichtigkeit in dieser Welt gab. Unwillkürlich straffte sie die Schultern und reckte das Kinn ein wenig. Drinnen angekommen zögerte sie nur eine Sekunde, bevor sie mit einem Knopfdruck den Fahrstuhl rief. Dieser begrüßte sie mit einem freundschaftlichen „Pling“. Johanna nahm sich jeden Tag aufs Neue vor, die Treppe zu nehmen, allein schon wegen des Karamell-Macchiatos und erst recht wegen des Franzbrötchens. Da sie sich aber schon nach drei Stockwerken überhaupt nicht mehr wichtig, sondern nur noch außer Atem und angeschwitzt fühlte, ließ sie es jeden Tag doch lieber.

      Allein in der Fahrstuhlkabine nutzte sie die kurze Fahrt, um sich Milchschaum von der Oberlippe zu wischen, den Kragen ihrer Bluse zu richten und Volumen in ihr Haar zu schütteln, das nach dem allmorgendlichen Glätten mal wieder ganz platt am Kopf lag. Sie betrachtete das Ergebnis kritisch im Spiegel, bevor sie den Aufzug im fünften Stock verließ.

      Schwungvoll betrat sie die Räume der Unternehmensberatung Stegmann & Partner, was die Empfangsdame dazu brachte, hektisch ihren HSV-Kaffeebecher hinter dem Bildschirm zu verstecken. „Ach Hanna, erschreck‘ mich doch nicht so“, maulte die blonde Frau.

      „Dir auch einen schönen guten Morgen, liebe Nana“, grüßte Johanna sie fröhlich und entfernte diskret einige Brötchenkrümel von dem ansonsten vollkommen makellosen Tresen. Bei Stegmann & Partner war das Äußere alles. Um den Kunden Professionalität