Lena Dieterle

Reduktion


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auf die Schulter, macht auf dem Absatz kehrt und streckt die Hände in den Himmel.

      „Ibiza, ich kooommmeeee!“

      „Wie siehts denn hier aus!“, wettert Justine lautstark, doch es ist niemand in der Nähe, der sie hören kann. In der Teeküche entdeckt sie einen Aschenbecher, der fast überquillt. Alles drum herum liegt voller Asche, leere Joghurtbecher stapeln sich und das Waschbecken ist voller Krümel von aufgeschnittenen Brötchen. Es gab wie jeden Dienstag Rindswürste vom Imbiss, da ist die ganze Belegschaft scharf drauf. Justine isst keine Wurst, nur eine kleine Pommes. Als hätten die Kollegen allesamt nur ein recht begrenztes Kurzzeitgedächtnis, erntet sie jede Woche aufs Neue einen dummen Spruch dafür. Redet ihr nur, denkt sie sich und lässt den Rest das Karma erledigen.

      Manchmal räumt Justine den anderen hinterher, doch heute hat sie dafür keine Energie mehr. Nachdem die Pflanzen versorgt sind, sortiert sie ihren verwuschelten, dunkelblonden Pagenkopf vor dem Spiegel. Unter ihren Augen prangen dunkle Augenringe, doch die buschigen Brauen lenken ein wenig davon ab.

      An Justines Schreibtisch im Großraumbüro hängt eine Ansichtskarte. Darauf zu sehen ist ein Haus im Grünen, drum herum ein schöner Bauerngarten und eine Bank. Immer, wenn in der Agentur die Hölle los ist, findet sie in diesem Motiv tiefe Ruhe. Die Karte ist schon älter, sie hatte sie bei den Bildern ihrer Mutter gefunden und aufbewahrt. Um welchen Ort es sich dabei handelt, ist leider nicht mehr ersichtlich.

      „Pling!“, ertönt ein Signal am Rechner. Eine E-Mail von den Kollegen, die heute Abend gemeinsam ins Kino gehen wollen. Justine ist immer hin und hergerissen, auf der einen Seite liebt sie die ganze Bande, auf der anderen Seite möchte sie mit keinem von ihnen wirklich enger befreundet sein. Meist nimmt sie an solchen Events teil, um kein Spielverderber zu sein, und hin und wieder macht es ihr tatsächlich ein wenig Spaß, dabei zu sein. Sie klickt auf „antworten“ und fängt an zu tippen: „Hey Fans *zwinker*, heute Abend bin ich leider bereits verabredet, wünsche euch aber natürlich beste Unterhaltung und leckere Nachos!“

      Bin ich eben mit mir selbst verabredet. Mir ist heute nicht mehr nach Smalltalk und Grenzüberschreitungen zumute.

      Im Bus sind um diese Zeit meist freie Sitzplätze verfügbar und Justine freut sich darüber, einen Zweierabteil ganz für sich zu haben. Sie legt die Schläfe an die angenehm kühle Fensterscheibe und sinniert. Was macht mich eigentlich glücklich, wenn es gar nicht das ist, was den anderen so wichtig ist? Und darf ich denn überhaupt nach Glück fragen, wo es doch so vielen schlechter geht als mir? Ehemann, Kinder, Karriere, Konsum? Doch wozu das alles, wenn man sich selbst genug ist? Wozu immer mehr Hornhaut auf der Seele, wo die Haut darunter doch eine Hochsensible bleibt.

      Der Briefkasten quillt über. Obwohl inzwischen ein zweiter Aufkleber mit dem Hinweis gegen den Einwurf von Werbeprospekten angebracht ist, wird er immer wieder vollgestopft, bis er überläuft. Justine greift den ganzen Stapel und wirft ihn sofort in den Müll. Sie stutzt, als sie gerade noch die Ecke eines weißen Umschlags heraus blitzen sieht. Mist. Mit hochrotem Kopf hängt sie auf dem Rand des Müllcontainers und angelt mit zwei Fingern nach dem Briefumschlag. Hoffentlich lohnt sich dieser Körpereinsatz hier überhaupt, flucht sie innerlich. Als sie ihn endlich erwischt, blickt sie neugierig auf den Absender. Es sieht nach einem höchst offiziellen Brief aus. Tom wird doch nicht irgendeinen Unsinn gemacht haben?

      Hinter ihr räuspert sich ein anderer Bewohner. Justine fährt erschrocken zurück und schlägt sich den Kopf am Deckel an. Der junge Mann mustert sie misstrauisch, weil sie mit dem halben Oberkörper im Container steckte. Sie macht ihm Platz und klopft sich kurz die Hose ab. Dann stopft sie eilig den Brief in die Handtasche, greift sich die Einkaufstaschen und flüchtet in den Hauseingang. Dort drückt sie die Ruftaste des Aufzugs und wartet, drückt nochmal und nochmal. Der Schweiß läuft ihr unangenehm in Perlen den Rücken hinab. Es ist heute unerträglich warm für Anfang Mai, doch das Hoch „Arabella“ gibt alles.

      „Mensch, nun komm endlich!,“ ruft sie und hämmert auf die Taste.

      „Pah, da können Sie warten, bis sie schwarz werden“, plärrt die Alte aus dem dritten Stock hinunter. „Der Aufzug ist wieder mal kaputt. Und die Hausverwaltung, die kümmert sich auch wieder nicht. Vor zwei Stunden habe ich da schon angerufen … und Sie sehen es ja selbst: Geht immer noch nicht. Faules Pack.“

      Na, die hat mir grad noch gefehlt. Justine lässt das Geschwätz unkommentiert und stapft vollbepackt Stufe für Stufe nach oben. Die Alte in der dritten Etage steht ihr wetternd im Weg, doch Justine blickt sie gar nicht richtig an.

      „Guten Tag, Frau Johann,“ murmelt sie aufgrund anerzogener Höflichkeit und erklimmt weiter Höhenmeter für Höhenmeter. Endlich oben, sperrt sie die Tür hinter sich ab.

      „Hallo Tom, bist Du zu Hause?“, doch die Frage bleibt unbeantwortet. Gott sei Dank, atmet Justine laut auf, endlich mal Stille.

      Sie geht in die Küche, stellt alles ab und legt sich für gleich eine Dose Bier ins Gefrierfach. Als die Einkäufe verstaut sind, streift sie alle Klamotten ab und steigt unter den eiskalten Wasserstrahl der bodentiefen Dusche. Justine duscht immer eiskalt, schon seit Jahren. Tom kann das gar nicht verstehen und schimpft jedes Mal, wenn sie die Dusche nicht umstellt und er ein paar von den kalten Tropfen abbekommt. Die Wohnung war kurz vor ihrem Einzug kernsaniert worden, innen alles vom Feinsten, fast edel. Justine war das nicht wichtig, doch für Tom, oder eher für seine Eltern, konnte es nicht schick genug sein. Die Miete der Wohnung kostet ein kleines Vermögen, das sie alleine niemals dafür ausgeben würde.

      Du siehst ganz schön fertig aus, hört sie ihr Spiegelbild sagen, obwohl sie gar nicht richtig hineingesehen hat. Halt den Mund! Sie streckt sich selbst die Zunge raus. Ihre Haut ist blass und etwas unrein, die Schminke vom Schweiß verschmiert. Nur die grünen Augen leuchten hell im Licht, das durchs Fenster hereinfällt.

      Der kalte Wasserstrahl der Dusche wäscht die ganze Anspannung des Tages fort und als sie sich abtrocknet, fühlt sie sich deutlich frischer. Zum ersten Mal an diesem Tag verspürt sie Leichtigkeit und lächelt der Frau im Spiegel sogar kurz aufmunternd zu. In der Küche angelt sie sich das Bier aus dem Eisfach und fährt den Laptop hoch, denn sie möchte endlich weiter an ihrem Roman schreiben. Dieses Projekt liegt ihr so sehr am Herzen und muss doch immer wieder zurückgestellt werden. Warum bin ich eigentlich immer so schnell dabei, meine eigenen Projekte für die anderer „zu verschieben“? Man kann fast sagen, das innere Ich und das äußere Ich begegnen sich nur sehr selten. Wenn sie sich überhaupt erkennen, winken sie sich aus der Ferne zu.

      Mit einem lauten „Rumms“ landet sie mit dem Laptop auf dem Schoß auf dem Bett, wählt eine chillige Musik auf dem Handy aus und öffnet die Dose. „Zisch!“ Das Bier schäumt und läuft ihr über die Hand. Sie versucht, es schnell abzutrinken, doch es gelingt ihr nicht ganz.

      Egal, lacht sie und lässt sich rücklings in die hohen Kissen fallen.

      „Cheers, Justine. Das war richtig gut heute!“ Die Dose in die Höhe gereckt, prostet sie sich selbst zu. Sie trinkt in durstigen Schlucken und genießt das Alleinsein. Als das Bier leer ist, rollt sie sich auf die Seite und schläft mit ihrem Rechner im Arm ein. Sie hat kein einziges Wort geschrieben.

      Momentaufnahme

      Justine erwacht nach einer traumlosen Nacht. Tom liegt neben ihr und schläft noch tief und fest. Wann er nach Hause gekommen war, kann sie nicht sagen. Sie beobachtet ihn kurz und deckt seinen freien Rücken ein wenig zu. Fast neun Stunden geschlafen, Chapeau!

      Heute wäre ihr freier Tag, doch nun muss sie für ihren Kollegen Bastian einspringen. Sie kann ihn ja durchaus leiden, doch es nervt sie, dass er sich vor wichtigen Terminen gerne mal eine „bezahlte Auszeit“ nimmt. Und Ines greift immer erst dann durch, wenn es gar nicht mehr anders geht.

      Justine schleicht sich auf Zehenspitzen durch die Schlafzimmertür hinaus in den Flur. Die Sonne blendet ihr bereits grell ins Gesicht, als sie die Küche betritt. Sie öffnet die Balkontür sperrangelweit.

      „Guten