Lena Dieterle

Reduktion


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ab. Das muss für Tom sein. Sie dreht das Blatt und prüft den Absender. Sie liest laut vor: „Frau Justine Argon, Planckstraße, 22765 Hamburg-Ottensen. Sehr geehrte Frau Argon, …“

      Das ist wirklich kurios. Dort steht geschrieben, dass sie sich mit dem Nachlassgericht in Verbindung setzen soll, um Informationen zum Testament von einer Frau Valerie Dupont zu erhalten.

      Valerie, Valerie…? Die einzige Valerie, die sie je kannte, war „Tante Vally“, die aber gar nicht ihre richtige Tante war, sie hatte sie nur so genannt. Bei Tante Vally verbrachte sie als Kind mal die Sommerferien. Damals mussten ihre Eltern beruflich verreisen und hatten keine andere Lösung als eine Unterkunft bei dieser Tante Vally. Justine protestierte damals lautstark, weil sie nicht dorthin wollte, zu einer fremden Frau, die sie gar nicht kannte. Doch der Protest half ihr nicht.

      „Du wirst es dort mögen, mein Schatz“, war sich ihre Mutter sicher. Und so kam es auch. Justine verbrachte sechs lange Wochen bei Tante Vally, die am Ende doch viel zu schnell vorüber waren.

      Ein Jahr später war Justine mit ihrer Familie bereits wieder umgezogen und so gab es irgendwann keinen Kontakt mehr zu Valerie. Justine war zu jung, um das alles zu verstehen, die häufigen Umzüge war sie auf Grund des Berufs ihres Vaters von klein auf gewohnt. Sie malte noch oft Bilder für Valerie, die ihre Mutter dann bei der Poststelle für Valerie aufgab.

      Justines Handy klingelt. Ines ist am Apparat und plappert aufgeregt etwas von einem geplatzten Termin. Sie selbst muss zum Friseur, denn auf diesen Termin habe sie ewig gewartet.

      „Ines …“, sagt Justine ruhig, doch ihre Chefin spricht ungebremst weiter.

      „Ines, hör mir mal bitte zu.“ Es wird still am anderen Ende der Leitung. Friseurtermin, ja? Jetzt reichts.

      „Ich bin krank und kann heute nicht einspringen.“

      „Oh, was hast du denn? Das ist ja furchtbar, Süße. Du warst doch noch nie krank?“

      „Wohl einen Infekt. In ein paar Tagen bin ich bestimmt wieder fit.“

      Justine legt auf, als Ines unverblümt weiter quasselt. Ein Schütteln geht durch ihren Körper. Habe ich das gerade wirklich gemacht? Bevor das schlechte Gewissen sich ausbreiten kann, nimmt sie ihr Handy und wählt die Nummer vom Briefkopf. Zu groß ist die Neugierde, was sich hinter diesem Schreiben verbirgt.

      „Nachlassgericht Obernburg, Maier, guten Tag“.

      „Hier spricht Justine Argon.“

      Nach gut zehn Minuten ist das Telefonat wieder beendet. Sie wurde gebeten, persönlich zur Testamentsverlesung nach Unterfranken zu reisen. Es scheint sich um eine Immobiliensache in Klingenberg zu handeln, allerdings konnte man viel mehr dazu telefonisch nicht sagen. Klingenberg? Klingenberg habe ich schon mal irgendwo gehört. Justine startet den Laptop und gibt den Namen der Stadt in die Suchmaske ein. Klingenberg liegt direkt am Main und ist eine Stadt im Landkreis Miltenberg in Bayern, gut fünf Stunden und über fünfhundert Kilometer entfernt von Hamburg.

      „Puh, das ist ja eine halbe Weltreise“, schnauft Justine. Sie hat gerade vor einigen Wochen eine Erbschaftssache von einem ihrer Kollegen miterleben dürfen. Hier musste er nach ewigem Hin und Her das Erbe ausschlagen, weil es mit Schulden belastet war. Das wäre wirklich das Letzte, was ich jetzt noch gebrauchen kann.

      Die Bilder von der kleinen Stadt sprechen Justine an. Sie liest klangvolle Beschreibungen wie „Rotweinstadt am Untermain“, „Historisches Kleinod“ und „Winzerstadt mit Herz“ und wird immer aufmerksamer. Es könnte sich tatsächlich um den Ort handeln, an dem ich den Sommer mit Tante Valerie verbracht habe.

      Sie stöbert weiter und entdeckt einen Artikel über die Seltenbachschlucht. Und jetzt ist sie sich sicher, dass es sich um genau diesen Ort handelt. Hier war sie mit Valerie wandern und hat zum ersten Mal in ihrem Leben einen Feuersalamander gesehen. Fasziniert von dem gelb-schwarzen Tierchen, das sie bis dahin nur aus einem Kinderbuch kannte, empfand sie diese lange Schlucht damals als einen verzauberten Ort.

      Valerie war eine ältere Dame, herzensgut und sehr schön. Während ihres Aufenthalts bei Tante Vally lernte Justine sehr viel. Sie hatten gemeinsam Wildkräuter gesammelt, die sie danach zum Trocknen zu Sträußen banden. Bei einem duftenden Tee aus Holunderblüte, Erdbeerblättern und Waldmeister erzählte Valerie ihr davon, dass hier in der Schlucht lauter gute Elfen in kleinen Höhlen wohnen und bei Dämmerung ausfliegen, um den Menschen bei ihren Sorgen und Nöten zu helfen. Und in diesem Moment beschließt Justine, noch einmal dorthin zurückzureisen.

      Sie wählt die ihr so bekannte Nummer.

      „Tom, ich muss mit dir reden.“

      „Tini, du klingst so ernst, was ist los?“

      „Nichts Schlimmes, wir besprechen das heute Abend bei einem Glas Wein. Ich habe einen Tisch in der Taverne für uns reserviert. Um sieben.“

      „Ist gut, ich bin eh gerade in Eile. Bis heute Abend, Tini.“

      Und Tom staunt nicht schlecht, als sie ihm den Brief vom Nachlassgericht zeigt. Justine hat für diesen Anlass eine gute Flasche Rotwein bestellt, dazu Knoblauchbrot vom Grill, Oliven, Peperoni und frisches Zaziki. Ihr fallen Valeries Worte ein: Die einfache Küche ist die beste Küche für die Seele.

      „Das ist ja der Kracher!“, ruft er laut aus. „Natürlich fährst Du da hin!“

      „Ich dachte, Du begleitest mich vielleicht?“, fragt Justine vorsichtig. „Ich kenne mich ja gar nicht mit so etwas aus.“

      „Ich doch genauso wenig“, erwidert Tom. „Du kannst es dir doch erstmal anhören und wir bereden dann alles Weitere, wenn du zurück bist. Ich unterstütze dich dann natürlich beim Verkauf. Vater hilft dir sicher auch, wenn es dann um die Entscheidung geht.“

      „Beim Verkauf?“

      „Ja klar!“

      „Na gut, ich höre mir das erst einmal an“.

      „Wann willst du los?“

      „Sobald ich mit Ines gesprochen habe. Übermorgen wahrscheinlich. Ich hatte mich heute kurzerhand krank gemeldet, weil sie mich wieder einmal einspannen wollte.“

      Tom macht große Augen.

      „Das hast du ja noch nie gemacht? Find ich echt mal ’ne coole Aktion von dir, dass du mal das Stoppschild hochhältst. Deine Chefin verlangt zu viel von dir. Ich sag‘s dir ja immer, irgendwann macht dich der Job noch krank. Und schließlich bin ich derjenige, der dann mit einer überarbeiteten und miesepetrigen Partnerin leben muss.“

      Das Augenzwinkern am Satzende ist von Tom gekonnt platziert, um einer Reaktion von Justine zuvorzukommen. Er sagt sonst selten etwas dazu, dass sie so viel arbeitet. Und irgendwann hat er es akzeptiert, dass Justine in ihrer Freizeit oft die Ruhe dem Trubel vorzieht.

      „Wie der Wein duftet.“ Sie nimmt einen Schluck und hängt ihren Gedanken nach. Mein Sommer in Klingenberg. Das gibt eine überraschende Wendung für meinen Roman, wenn ich irgendwann einmal wieder dazu komme, daran weiterzuschreiben.

      Wahnsinn, wie schnell die Welt vorbei fliegt, staunt Justine, die Augen stets aus dem Fenster des Zuges gerichtet. Sie ist um 7:30 Uhr in Hamburg in den Intercity-Express Richtung Zürich gestiegen und hat nun eine Fahrt von über sechs Stunden vor sich. Zweimal muss sie umsteigen, die geplante Ankunft ist gegen 13 Uhr. Der Termin beim Notar, der vom Nachlassgericht ausgewählt wurde, ist erst am nächsten Morgen, weshalb sich Justine eine Übernachtung in einem Hotel gebucht hat. Danach reist sie wieder zurück nach Hamburg. Sie ist sehr dankbar darüber, dass der Zug die weite Fahrtstrecke für sie übernimmt, denn sie fährt nicht gerne selbst. Tom fährt einen Audi und hat ein schickes Cabrio von seinen Eltern geschenkt bekommen. Nur selten nimmt Justine einen der beiden Wagen, wenn sie mal beruflich zu Terminen außerhalb der Stadt fahren muss.

      Der Zug scheint fast lautlos über die Gleise zu schweben. Justine ist beeindruckt, dass ein