Lena Dieterle

Reduktion


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den Rubikon überschreiten.

      „Ahoi!“, ruft der Kapitän eines voll beladenen Kohletankers, als wäre er der Gastgeber in dieser Stadt. Seine Selbstverständlichkeit steckt sie an. Justine flüstert in alter Hamburger Manier: „Moin, Moin, Käpt’n“.

      Faszinierend, die ganzen sattgrünen Steilhänge mit den Weinreben. Oben am Berg thront die Burgruine „Clingenburg“, den Namen hatte Justine im Stadtführer gelesen. Für jemanden, der aus dem Norden angereist kommt, bietet sich hier eine Weinstadt-Idylle aus dem Bilderbuch dar.

      „Hallo Tante Vally, da bin ich! In Deiner so geliebten Stadt am Main. Danke für die Einladung.“

      Nachdem Justine ihr Hotelzimmer bezogen hat, nimmt sie eine Dusche. Der Nachmittag ist noch jung, deshalb geht es nun weiter auf Erkundungstour. Sie hat die Route der Seltenbachschlucht herausgesucht und macht sich mit einer Flasche Wasser im Beutel auf den Weg. All diese kleinen Gassen, aufwendig mit Mosaik Pflastersteinen belegt, das alte Fachwerk, das größtenteils aufwendig restauriert wurde, faszinieren sie. Vor einem Haus bleibt Justine stehen und bewundert das hellblau angestrichene Fachwerk, denn so etwas gibt es in Hamburg nicht zu sehen. Um einen kleinen Brunnen ranken sich schmiedeeiserne Weinreben mit üppigen Rispen. Eine schwarze Katze mit weißer Schnauze liegt schlafend in der Sonne.

      „Ciao Bella … Prego?“, fragt der Eisverkäufer, als sich Justine die Auslage anschaut.

      „Eine Kugel von dem Klingenberger Eis bitte. Was ist das genau?“

      „Oh … das ist unsere neuste Kreation. Ein Most-Eis.“

      „Mhhh … klingt gut. Hier, stimmt so. Vielen Dank“

      „Grazie, lassen Sie es sich schmecken und beehren Sie uns recht bald wieder.“

      Justine probiert von der ihr bisher unbekannten Eissorte und ist begeistert von dieser Cremigkeit in Kombination mit dem vollen Geschmack von Äpfeln, eine feine Note Zimt und Zitronenabrieb.

      „Vorzüglich, Danke!“, ruft sie lachend zurück. Sie spaziert weiter, jetzt mit Kurs auf die Schlucht. Diese Stadt ist im Vergleich zu Hamburg menschenleer. Justine schaltet ihr Handy aus, um für einen Moment nicht mehr erreichbar zu sein, sie gönnt sich jetzt die völlige Ruhe.

      Die kalten, groben Felsen in der Schlucht fangen sie ein und entführen sie in eine andere Welt. Überall ragen riesige Farne auf den schmalen Pfad, der entlang eines Bachlaufes führt. Was als Kind schon faszinierend auf Justine gewirkt hat, haut sie jetzt schier um. Sie läuft andächtig weiter in die Schlucht hinein und staunt über das Schauspiel der Sonne im quirligen Wasser, es blitzt und blinkt, als würde Gold darin liegen.

      Hier ist ein Ort, an dem man eins werden kann mit der Natur … An dem man sich vor der Welt und ihren Anforderungen verbergen kann. Hier wird Justine für einen Moment von den massiven Felsen verschluckt, als hätte es sie nie gegeben. Sie wünscht sich, völlig unbedeutend, ja, unsichtbar zu sein.

      An einem Hang sind kleine Löcher zu sehen. Vielleicht von Wasserratten? Justine denkt an die alte Geschichte und stellt sich vor, wie von dort in wenigen Stunden die Elfen hinausfliegen, um ihre guten Taten zu verrichten.

      „Immer wenn du ein Spinnennetz siehst, weißt du, dass die Elfen nicht weit sind. Denn an den Spinnennetzen hängen sie ihre Flügel zum Trocknen auf.“, so war eine von Valeries Erzählungen damals.

      Justine erinnert sich, wie sehr Tante Vally mit der Natur verbunden war. Um heute einen Feuersalamander zu sehen, ist es gerade viel zu trocken, doch sie erkennt die Stelle wieder, wo sie vor über zwanzig Jahren den ersten und einzigen Salamander ihres Lebens gesichtet hatte. Als sie genauer hinsieht, entdeckt sie in einem kleinen Becken im Bachbett einige Larven von dem kleinen Reptil. Plötzlich lautes Geschrei, Justine fährt ruckartig zusammen.

      „Puh, ihr habt mich aber erschreckt!“, tadelt Justine. Es waren nur zwei Eichelhäher, die sich streiten. Hier gibt es sie also noch, diese wilde Natur.

      Ein Weg durch die Schlucht führt auch hinauf zur Burg. Justine schleicht durch das alte Gemäuer und malt sich aus, wie das Leben hier wohl einmal ausgesehen hat. Überall hängen Plakate für Veranstaltungen, auch direkt auf der Burg: Festspiele, Konzerte, Musicals. Klingenberg hat an Unterhaltung richtig was zu bieten.

      Auf der großen Terrasse genießt sie einen weiten Ausblick über die Weinberge und das sattgrüne Maintal. Es scheint, als hätte sich der liebe Gott für dieses schöne Fleckchen Erde besonders viel Muße aufgehoben. Kein Wunder, dass es Valerie gut achtzig Jahre lang hier ausgehalten hat.

      Das Alte Gewürzamt

      Randvoll mit schönen Eindrücken kehrt Justine aus ihrer Reise in die Vergangenheit zurück, mit all diesen Erinnerungen. Sie mag den Namen Seltenbach, dem irgendjemand diesem eigensinnigen kleinen Bachlauf einmal gegeben hat. Auch sie selbst hält sich nicht selten für seltsam im Sinne von besonders. Und während sie weiter gedankenverloren durch die Gassen streift, entdeckt sie ein Ladengeschäft, das ihre Aufmerksamkeit auf sich zieht. Sie kann sich nicht erinnern, es schon einmal gesehen zu haben, doch es lockt sie beinahe magisch an.

      „Mama, hast du Zimt in die Soße gegeben?“, hatte Justine ihre Mutter gefragt, als sie ein kleines Mädchen war.

      „Ja, mein Schatz. Das schmeckst Du heraus?“

      „Ich hatte einen kurzen Grießbrei-Moment … deshalb. Lecker, ich wusste nicht, dass man Zimt auch zu einer Bratensauce geben kann.“

      „Ach, man kann es zumindest probieren. Mit der Zeit stellt sich heraus, was schmeckt und was nicht so gut passt. Ich liege auch manchmal noch daneben. Weißt du noch, als ich den Fisch mit Vanille kombiniert habe? Das hat euch nicht so gut geschmeckt.“

      „Du bist also eine Erfinderin von neuem Geschmack!“, schlussfolgerte Justine und ihre Mutter musste lachen.

      Die Welt der Gewürze verzauberte sie schon als kleines Mädchen und bis heute ist davon nichts verloren gegangen. Anders als andere Kinder vielleicht, mochte Justine zum Beispiel schwarzen Pfeffer, Kümmel und fruchtig-scharfe Currys schon im Alter von gerade mal 5 Jahren.

      Justine staunt über den massiven Sandstein, der den unteren Teil der Fassade ziert. Sandstein war hier überall verbaut. Sie erinnert sich in diesem Moment wieder daran, dass Valerie einen Keller aus ebensolchem Gestein besessen hatte. Tante Vally kultivierte damals auf Strohballen sogar Champignons, die Justine ernten durfte. Es herrschte ein herrlich angenehmes, erdiges Klima in diesem Keller, auf den Regalen rund herum war eine Auslage von Weinflaschen und etwas Gemüse.

      Sie betritt den Gewürzladen und sieht sich um. Direkt im Eingangsbereich hängt ein rot schimmernder, großer Deckenleuchter. Ein Verkäufer an der Theke befindet sich in einem Beratungsgespräch und grüßt nur kurz, dafür mit einem herzlichen Lächeln. Justine ist ganz froh darüber, für sich zu sein und allein durch die Regale zu stöbern. Es gibt zahlreiche grüne Döschen, die gefühlt alle Gewürze der Welt enthalten. Auf einem Tisch in der Mitte stehen größere Gläser, darin sind verschiedene Gewürzproben. In den hölzernen Auslagen ringsum gibt es dazu passende Ergänzungen wie Pfeffermühlen, Reiben und Weine. Sie hat so oft mit den unterschiedlichsten Gewürzen hantiert, doch hier bekommen sie eine ganz eigene, große Bühne. Justine schaut ganz genau hin und versinkt in diesen Beobachtungen. Das kleine schwarze Pfefferkorn trägt einen ledrig anmutenden Mantel, den es um sich geschlungen hat wie ein wabenförmiges Netz. Der Name schwarzer Pfeffer wird dem Produkt gar nicht ganz gerecht, denn es schimmert in den unterschiedlichsten Nuancen, zeigt zahlreiche Brauntöne. Justine geht weiter zum Sternanis. Das Gewürz erscheint ihr wie eine Blüte gefertigt aus Holz und Rinde, so fein ausgearbeitet von der Natur, wie es ein Handwerk nicht schaffen könnte. Sie öffnet das Glas mit der echten Vanille, schließt die Augen und atmet tief ein.

      „Riecht gut, was?“, fragt der junge Mann und strahlt übers ganze Gesicht. Justine zwinkert ihm nickend zu und schlendert weiter.

      Als sie den Laden wieder verlässt, ist es bereits eine ganze Stunde später. Im Hotel breitet