Lena Dieterle

Reduktion


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Ein anderer isst völlig ohne Manieren sein Sandwich. Als die Remoulade mit einem „Platsch“ auf seiner Hose landet, flucht er und versucht umständlich, sich Finger, Unterarm und Hose abzuschlecken. Sie wendet den Blick mit einem Schaudern ab und schüttelt den Kopf. Eine Dame hustet andauernd, ein anderer bräuchte ein Taschentuch, hat aber scheinbar keines zur Hand.

      Ich muss hier raus. Justine steht auf und verlässt ihren reservierten Platz unter den Augen von all diesen Menschen um sie herum.

      Sie schnappt sich ihren Koffer und den Umhängebeutel und stolpert durch den Gang. Es gibt in diesem ganzen Abteil keine ruhigere Ecke, auch nicht im nächsten. Der ruhigste Winkel war der Bereich zwischen den Abteilen, direkt an der Tür. Sie setzt sich dort auf den blanken Boden, die Beine stellt sie auf den zwei Stufen ab, die sonst zum Aussteigen dienen.

      Himmlische Ruhe! Und ein großes Fenster ist auch vorhanden. Als sie gerade die Kopfhörer heraus gekramt hat, klopft ihr jemand auf die Schulter.

      „Junge Dame, das hier ist kein Sitzplatz.“ Justine sieht einen netten Herrn in Uniform vor sich, der hier seinen Job macht. Sie zückt unaufgefordert ihre Fahrkarte und reicht sie ihm.

      „Ist es verboten hier zu sitzen? Sie müssen wissen, mitten in diesem Abteil, da ersticke ich“, erklärt sie mit sehr ernster Miene.

      „Na ja, direkt verboten ist es nicht. Es ist halt kein Sitzplatz.“ Der Mann denkt nach und sie schaut ihm hoffnungsvoll in die Augen.

      „Gut. Wenn der Zug hält, müssen Sie aber den Platz frei machen, ja?“, mahnt er und Justine nickt bejahend und schenkt ihm ihr schönstes Lächeln. „Ihr Ticket habe ich ja bereits gesehen. Gute Fahrt weiterhin.“

      Justine atmet auf, steckt das Kabel der Kopfhörer ins Handy und dreht die Musik auf. Jetzt hat sie ihren ganz persönlichen Schutzmechanismus wie einen Vorhang zugezogen und fühlt sich dahinter sicher und geborgen.

      In Frankfurt hat sie eine Wartezeit von gut vierzig Minuten. Justine schlendert über den großen Bahnhof, hinaus ans Tageslicht, um sich auf dem großen Platz die Füße zu vertreten. Ein Fremdenführer begrüßt die ihm zugeteilte Gruppe und deutet in Richtung des Bahnhofs. Als Justine seinem Fingerzeig reflexartig folgt und sich umdreht, sticht ihr eine große Statue auf dem Dach des Bahnhofs ins Auge. Die Skulptur zeigt einen sehr muskulösen Mann, der eine mächtige Kugel schultert.

      „…hilft Herkules, die Weltkugel zu tragen.“

      Was für eine kraftvolle Darstellung! Für einen kurzen Moment findet es Justine schade, nicht etwas mehr Zeit für einen Rundgang zu haben, denn sie hätte sich gerne mucksmäuschenstill der Gruppe angeschlossen. Aus Angst sich zu verlaufen, verlässt sie den Bahnhof aber nicht.

      „Samosas, Samosas“, ruft ein junges Mädchen mit langen schwarzen Haaren. Plötzlich merkt Justine, wie sehr ihr der Magen knurrt. Zwar hatte sie Obst und ein Avocado-Brot dabei, doch das war schon viele Stunden her. Das Mädchen winkt sie zu ihrem Stand. Justine wählt zweimal die fleischlose Variante und bezahlt mit einem Zehner.

      „Stimmt so.“ Justine verneint lächelnd die Annahme des Wechselgelds. Die junge Köchin strahlt übers ganze Gesicht und wickelt Justine noch drei Halva-Kugeln in ein Papier.

      „Die Samosas sind ja köstlich“, schmatzt Justine vor lauter Begeisterung. Die frittierten, würzigen Teigtaschen Gebäck sind geschmacklich perfekt abgestimmt. Außen sehr knusprig, innen leicht cremig. Die Schärfe von Ingwer und Chili gepaart mit dem besonderen Aroma von Koriander und Kreuzkümmel.

       Ein Gedicht! Hier, mitten am Frankfurter Bahnhof, da versteht jemand sein Handwerk.

      Benisha ist der Name des indischen Mädchens, das Justine zum Abschied noch ein Frischetuch mit Eukalyptus und Zitrone für die Hände reicht. Justine bedankt sich ganz herzlich und streunt auf leisen Sohlen weiter durch all die Menschen um sie herum, bis sie auf der rechten Seite der Passage die Bahnhofsbuchhandlung entdeckt.

      Bücherläden haben auf mich doch irgendwie eine große Anziehungskraft. In Hamburg hat sie sich oft Stunden lang in die Leseecken verkrochen und ist so in andere Welten abgetaucht. Für Justine war es ein liebgewonnener Spleen geworden, sich blind irgendeinen Roman aus dem Regal zu greifen und mit dem Lesen zu beginnen. Ohne Blick auf das Cover und ohne den Klappentext zu lesen. Nicht selten hat sie das Buch dann gekauft, weil es sie so gefesselt hat. Aber dafür reicht die Zeit heute nicht. Sie tritt ein und schaut sich um.

      Regionale Literatur. Justine nimmt sich einen Franken-Führer und blättert durch. Bei den Schlagwörtern sucht sie nach Klingenberg und wird fündig. Danach bestellt sie einen schnellen Espresso und überfliegt die Seiten zur Region. Irgendwie schon komisch, wie sehr sie das nach all den Jahren noch fasziniert. Justine geht es nicht um das Geld, nicht um das Erbe an sich.

      Warum denkt Tante Vally nach all den Jahren gerade an mich?, ohne sich die Frage selbst beantworten zu können, stellt sie das Buch zurück ins Regal.

      Im Regionalexpress angekommen, steuert Justine eine leere Sitzgruppe an. Es ist wenig los im Zug, so darf es für sie gerne weiter gehen. Justine wählt die Podcastfolge von „Psychologie to go“ aus und sinkt in ihren Sitz. Ein süßlicher Geruch von Kokos steigt ihr in die Nase. Sie hebt ihre Tasche und schnuppert.

      Ah, das ist das Gebäck von Benisha. Justine nimmt das Päckchen mit den in Papier geschlagenen Halva-Kugeln aus dem Beutel.

      Mhhh, wie das duftet! Was ist da Leckeres drin? Grieß vielleicht, dann etwas Nussiges … Könnte Pistazie sein. Rosinen, Sesam, Kardamom. Die gelbe Färbung kommt von Kurkuma oder ist es vielleicht sogar etwas Safran? Justine beißt ein zweites Bällchen auf und untersucht das Innenleben des Gebäcks nochmal genauer. Das Rezept wird leider Benishas Geheimnis bleiben.

      Klingenberg am Main

      Nach einem weiteren Halt mit reibungslosem Umstieg in Aschaffenburg atmet Justine laut auf, als sie endlich den Namen „Klingenberg a. M.“ in weißer Schrift auf blauem Schild geschrieben liest. Aufregung lässt ihr Herz schneller schlagen. Sie ruckelt unruhig auf dem Sitz hin und her, bis der Zug mit einem lauten Quietschen zum Stehen kommt und sie aussteigen darf.

      Am Bahnsteig sieht sie sich um. Vor ihr steht ein Sandsteingebäude mit kaum noch lesbarer Aufschrift. Der Schaffner pfeift und steigt ein, die Türen schließen sich. Der Zug rollt langsam los und gewinnt zunehmend an Tempo, als wolle er vor ihr davonrennen. Niemand sonst war ausgestiegen und so steht Justine plötzlich mutterseelenallein an Gleis 2. Als hätte mich das alte Leben ausgespuckt, weil ich ungenießbar geworden bin.

      Die Energie verlässt schlagartig ihren Körper und sie fängt an zu weinen. Warum tue ich mir mit den einfachsten Dingen immer so schwer? Justine schüttelt sich und macht sich auf den Weg, links den Koffer in der Hand und rechts das Handy mit der Navigationsroute für Fußgänger. Und wie ihre negativen Gedanken es so heraufbeschwören, steht sie prompt vor der ersten Straßensperre.

       Scheinbar gibt es Bauarbeiten an der Brücke und ein Weiterkommen ist auf diesem Weg nicht möglich. Weit und breit niemand, den ich fragen könnte.

      Justine steht minutenlang unentschlossen vor der Absperrung, die Sonne brennt erbarmungslos hoch über ihrem Kopf und quält sie wie ein Brennglas. Sie hat mit vielem gerechnet, aber nicht damit, dass sie noch nicht mal den Weg in die Altstadt finden würde. Die Tränen kullern jetzt hemmungslos von ihren Wangen. Wo war nur die ganze gute Energie hin? Dann endlich gibt es einen älteren Herrn mit Rad, der für Justine bremst und ihr den Weg zeigt. Puh, die Stimmung steigt.

      Mitten auf der Mainbrücke bleibt sie stehen und beobachtet den Fluss. Wer die Elbe gewohnt ist, für den gleicht der Main bald einem kleinen Rinnsal. Sie wirft eine Cent-Münze in den Main. Das hatte sie sich schon auf der Fahrt vorgenommen, denn etwas von sich wollte sie auf jeden Fall gleich hierlassen. Ob eine Cent-Münze den früheren Glückspfennig ersetzt hat?

      Direkt unter ihr fahren kleine Motorboote