Lena Dieterle

Reduktion


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      „Hallo Tini, hattest Du einen guten Tag?“, fragt Tom. „Wunderbar“, schwärmt sie. „Ich habe mir vorgenommen, wieder häufiger selbst zu kochen, so wie früher. Hier gibt es einen kleinen Laden, der mich sehr inspiriert hat. Lass Dich überraschen.“

      „Klingt gut. Ich habe Theo und Lars eingeladen, sie kommen in einer Stunde. Wir wollen bisschen FIFA zocken, deshalb rufe ich jetzt schon an.“

      „Okay, hast du denn was eingekauft?“, will Justine wissen.

      „Lars bringt zwei Sechser und Chips von der Tanke mit.“

      „Ah … gut, dann wünsche ich euch viel Spaß und wir hören uns dann morgen. Ich melde mich, wenn ich im Zug sitze.“

      Nach dem zehnminütigen Austausch ist das Telefonat wieder beendet. Justine streckt ihren Fuß vom Hotelbett aus in die Luft, streift sich den zweiten Schuh ab und gähnt. Dann knurrt ihr Magen mit einem Mal so laut, dass sie lachen muss. Die ganzen Aromen haben ihren Appetit angeregt und bis auf drei kleine Probierhäppchen im Alten Gewürzamt und das Eis hatte sie nach der Ankunft nichts mehr zu sich genommen.

       Also los, lass uns was futtern.

      „Die Nummer drei aus der vegetarischen Karte bitte. Dazu den Spätburgunder vom Klingenberger Schlossberg, der klingt sehr gut“, wählt Justine aus der fränkischen Karte der Häckerwirtschaft aus.

      Sie hat einen lauschigen Platz im Freien bekommen. Als Tisch dient ein altes Holzfass mit einem roten Deckchen, direkt über ihr ranken die Reben. Noch sind die Zweige fast kahl, doch im Herbst, wenn alles voller Weinblätter und Trauben hängt, sieht das sicher noch viel schöner aus.

      „Einmal das rote Frankengold für die junge Dame, zum Wohlsein.“

      Als das Glas serviert wird, ist er angenehm kühl. Justine mag es, wenn der Rotwein etwas kälter ist, gerade bei diesen Temperaturen. Sie schwenkt das Glas und hebt es gen Himmel.

      „Auf Dich, Tante Vally.“

      Es schmeckt vorzüglich. Im Französischen bedeutet Bouquet auch Blumenstrauß, daher passt die Bezeichnung auch wunderbar zu dem charakteristischen Duft der Weine. Der hier schimmert rubinrot im Sonnenlicht.

      Die Kellnerin bringt einen kleinen Salat, Klöße mit einer schön einreduzierten, kräftigen Dunkelbiersauce und Scheiben von gebratenen Sommersteinpilzen aus der Region sowie ein Schälchen Rotkraut und eingekochte, süß-säuerliche Johannisbeeren. Das Kraut ist hand-geschnitten und verfeinert mit etwas grob gewürfeltem Apfel, Wachholderbeere und Lorbeerblatt. Lecker!

      Valeries Brief

      Erfüllt vom Tag und aufgeregt vor dem morgigen fällt Justine in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Als sie mit dem Wecker um 7 Uhr erwacht, lacht schon die Sonne zum Fenster herein. Am Bahnhof steigt sie nach einem Kaffee, etwas Obst und Körnerbrötchen in die Westfrankenbahn ein und fährt Richtung Obernburg. Gleich werde ich erfahren, was Tante Vally mir vererben möchte.

      An dieses „Sicher nur Schulden“ von Tom, wollte Justine nicht glauben. Im Wartebereich nestelt sie aufgeregt an ihrem Umhängebeutel herum, bis sie aufgerufen wird. Dann schließt sich eine schwere Eichentür und die Testamentseröffnung beginnt.

      Eine halbe Stunde später erkundigt sich der Notar, ob sie alles verstanden hat oder ob noch Fragen bestehen.

      „Ich habe dann sechs Wochen Zeit, um mich zu entscheiden, das Erbe anzunehmen oder auszuschlagen, richtig?“, versichert sich Justine.

      Er nickt, schüttelt ihr die Hand und bringt sie zur Tür.

      „Hier ist noch ein Umschlag, den Frau Dupont dem Testament beigefügt hat. Er ist an Sie persönlich adressiert. Sie können ihn später in aller Ruhe lesen, für die Testamentsverkündung ist er ohne Relevanz.“

      Draußen verstaut Justine den Brief sorgsam mit den anderen Dokumenten in ihre Tasche und wandert wieder Richtung Bahnhof.

       Doch Moment!

      „Schauen Sie es sich an, bevor Sie sich entscheiden“, riet ihr der Notar noch im Gehen. Ehe sich Justine versieht, sitzt sie im Taxi Richtung Klingenberg, und der Taxifahrer hat die Adresse aus der Erbverkündung in sein Navigationsgerät eingegeben.

      „Hier irgendwo muss es sein“, sagt er und parkt den Wagen.

      „Okay, warten Sie bitte auf mich“, weist Justine ihn an.

      „Die Uhr läuft aber weiter, junge Dame“.

      „Das macht nichts, ist in Ordnung.“

      Justine schaut sich um und entdeckt eine Hofeinfahrt, die sie langsam hinauf geht. Das schwere, eiserne Tor ist natürlich verschlossen. Sie geht um das Grundstück herum und traut ihren Augen kaum. Vor ihr erscheint das Landhaus von der Postkarte an ihrem Schreibtisch.

      „Das gibt’s doch nicht!“, ruft Justine laut aus. Allerdings ist es in die Jahre gekommen und von wilden Gräsern und Pflanzen umwuchert. Mit einem Mal kommt die Erinnerung Stück für Stück zurück, denn hier in diesem Haus lebte sie einen Sommer lang mit Tante Valerie. In diesem Haus lebte die Liebe. Valerie war für Justine wie eine Oma, die sie nie wirklich hatte.

      „So ein Mist“, flucht Justine beim Versuch, die Mauer hochzuklettern. Die Hose hat Grasflecken bekommen und Justine auch noch eine blutige Schramme. Der Taxifahrer hat das Fluchen gehört und kommt herbeigeeilt.

      „Was ist passiert?“, fragt er ganz außer Atem.

      „Wären Sie so lieb, mir Ihre Hände für eine Räuberleiter zu borgen?“, säuselt sie den Mann an.

      „Das dürfen Sie nicht, das ist Hausfriedensbruch!“ mahnt er.

      „Natürlich darf ich das, schließlich ist das mein Haus!“, triumphiert Justine. Der Mann kommt ihrer Bitte nach. Mit einem Schwung sitzt sie auf der Mauer und springt in den Garten. Wie großartig sich das anhört ... mein Haus.

      Die Stockrosen, die rings herum emporragen, sind weit höher als Justine selbst. Ein traumhaftes Anwesen. Sie schleicht ums Haus und versucht, sich Zugang zu verschaffen, doch keine Chance. Alles ist verriegelt. Der Notar hatte ihr mitgeteilt, dass sie den Schlüssel erst nach Erbannahme erhält, wenn sie im Grundbuch eingetragen ist. Beide Hände zu einem schützenden Dreieck vor den Augen, schaut Justine durch die zwei kleinen Fenster, die nicht mit Klappläden verschlossen sind. Sie sieht einen Boden aus alten Mosaikfliesen im Flur und eine Treppe, viel mehr allerdings nicht. Es scheinen Möbelstücke vorhanden zu sein, die aber mit Überwürfen abgedeckt sind. Justine macht mit ihrem Handy Bilder von allem, was ihr – zurück in Hamburg – bei einer Entscheidungsfindung mit Tom helfen könnte. Das Haus ist bald hundertvierzig Jahre alt und war schon immer im Besitz der Familie Dupont, viel mehr Angaben konnte man ihr leider nicht machen.

      „Ich müsste dann weiter“, hört sie den Taxifahrer hinter der Mauer rufen. So muss sich Justine schweren Herzens und fast unverrichteter Dinge von dem Ort trennen, den sie gerade erst wieder gefunden hat. Über einen großen Holzklotz gelingt ihr der Überstieg und sie landet nur knapp neben dem Fuß des Taxifahrers, der sie beim Herunterklettern stützt. Ups.

      „Lassen Sie mich gerne gleich hier raus“, bittet Justine den Fahrer. Sie möchte jetzt allein sein und ab der Kreuzung kennt sie sich wieder aus. Sie zahlt großzügig und schlendert Richtung Main.

      Ahhh, das tut gut … Neben ihr stehen ihre Schuhe, die Füße sind in den kalten Fluss gestreckt. Ein Fisch springt aus dem Strom in die Luft und macht einen Schnalzer.

      Da sitze ich nun, auf der anderen Seite des Rubikons. Das Gleichnis begegnete Justine vor längerer Zeit in einem philosophischen Artikel und hat sie seither immer wieder mal gedanklich eingeholt. Es bedeutet vereinfacht gesagt so viel wie: Wenn der Fluss erst einmal durchquert ist, dann gibt es kein Zurück mehr.

      Sie nimmt den Brief aus der Tasche und dreht ihn einige Male hin und her. Auf dem fliederfarbenen