Martin Dolfen Thomas Strehl

... und am Ende wird alles gut


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Bierdosen und Zigarettenstummel, stumme Zeugen ehemaliger Besucher.

      Ich lehnte mein Rad vorsichtig gegen einen Busch und grinste dabei.

      Ich hatte tatsächlich »mein Rad« gedacht, den Diebstahl schon fast aus meinem Gedächtnis getilgt.

      Dann sah ich mich gründlich um und stellte zufrieden fest, dass dieses Stückchen Erde im Moment mir allein gehörte. Ich begann damit, mich auszuziehen.

      Gut, ich hatte keine Badehose dabei, sondern nur meine normalen Shorts. Egal. Auf meine alten Tage wurde ich echt zum Revoluzzer.

      Ich legte meine Sachen in den Anhänger und schritt vorsichtig zum Wasser. Als ich den ersten Fuß hineinsetzte, hätte ich beinahe laut aufgeschrien. Entweder war ich so erhitzt, von meiner ungewöhnlich sportlichen Tätigkeit oder das Wasser war wirklich kurz vor dem Gefrierpunkt.

      Beim zweiten Fuß wurde es nicht besser, ich überlegte bereits, ob es nicht schon genug Abkühlung für heute war, als ich im Schlick des Ufers ausrutschte und schmerzhaft auf meinem, sowieso schon misshandelten, Hinterteil landete.

      Diesmal entfuhr mir ein lautes »Scheiße« und ich sah mich sofort um, ob mich jemand beobachtete.

      Alles blieb ruhig.

      Bis auf das Klappern meiner Zähne, denn das eiskalte Wasser fraß sich durch Haut und Haar und schien direkt an meinen ungeschützten Knochen zu nagen.

      Genug Gefrierbrand für heute, beschloss ich, rappelte mich mühsam auf und kroch beinahe auf allen Vieren zurück ans Ufer.

      Ich setzte mich ins Gras, und die Nachmittagssonne brauchte nur Minuten, um mich wieder aufzutauen.

      Dann kam der Hunger und ich lernte die Vorzüge des geschenkten Campingkochers und einer Dose Erbsensuppe kennen.

      Mit vollem Bauch, von innen und außen erwärmt, ließ ich mich ins Gras sinken.

      Die Müdigkeit kam auf mich zugerast wie ein ungebremster ICE. Ich hatte keine Chance mehr darüber nachzudenken, ob es eine weise Entscheidung war, hier, völlig ungeschützt, ein Nickerchen zu halten. Meine Augen klappten einfach zu und ich versank in Morpheus Armen.

      Als ich erwachte, war es bereits dunkel. Sterne standen am Himmel und spiegelten sich im ruhig daliegenden See. Doch für Romantik war hier der falsche Platz, denn sofort hatte mich Panik fest im Griff.

      Es war ein Gefühl, als läge ich nicht am Ufer, sondern wäre zurück im Wasser. Die Fluten klatschten über mir zusammen, ich sank immer tiefer, unfähig noch Luft zu bekommen. Mein Herz begann zu rasen und mir war plötzlich klar, dass ich einen Infarkt bekam. Dass ich hier und heute in den nächsten Minuten tot zusammenbrechen würde. Ja, ich wollte sterben, aber nicht jetzt und nicht so.

      Verzweifelt versuchte ich mich zu beruhigen. Spulte alle guten Empfehlungen ab, die man mir in tausend Therapiesitzungen beigebracht hatte.

      Leider war das immer nur Theorie. Keiner, oder die wenigsten, der Professoren oder Doktoren hatten Depressionen und Angstzustände selbst erlebt. Es war keine Krankheit, gegen die man einfach eine Tablette nahm und ein paar Tage später war man wieder gesund. Man wurde völlig vereinnahmt. In diesen Momenten war ich die Depression und die Depression war ich.

      Natürlich gab es chemische Mittel, die einem halfen, die Angst zu unterdrücken und ich hatte einige davon dabei. Doch bei meinem tollen Ausflug, in den letzten Tagen, hatte ich nicht wirklich auf regelmäßige Einnahme geachtet.

      Jetzt bekam ich die Quittung. Schweiß brach mir am ganzen Körper aus und ich begann unkontrolliert zu zittern.

      Alles wird gut, sagte ich mir.

      Mein Gott, wie ich diesen Spruch hasste. Manche Dinge, manche Leben kamen nicht wieder in Ordnung und genau deshalb war ich unterwegs.

      Deshalb gibt es Suizide, deshalb beendeten Menschen ihr Leben.

      Weil es keinen Lichtstrahl am Ende des Tunnels gab. Weil alle Mühe vergebens ist.

      Plötzlich ging mir der Mann von heute Mittag durch den Kopf. Der springen wollte und gerettet wurde.

      Wirklich gerettet? Oder hatte man nur dafür gesorgt, dass sich sein Elend verlängerte?

      Ich wusste nicht warum, aber ich beruhigte mich langsam.

      Mein Puls ging Richtung normal und mein Herz setzte doch nicht aus. Nur das Zittern blieb, weil die Nacht eine gewisse Kühle mitgebracht hatte und mein T-Shirt durchgeschwitzt war.

      Gut, wenigstens da konnte ich Abhilfe schaffen. Ich hatte ein zweites dabei.

      Ich blieb noch gefühlte fünf Minuten sitzen, bekam die Panikattacke noch etwas weiter in die Ecke gedrängt, dann schaffte ich es auf wackeligen Beinen zu meinem Anhänger zu gehen.

      Ich öffnete meine Tasche und durchwühlte die wenigen Dinge, die ich eingepackt hatte. Ich sah das frische Shirt, konnte mich aber nicht dazu durchringen, es anzuziehen.

      Plötzlich waren da tausend Gedanken in meinem Kopf.

      Die meisten davon beschäftigen sich mit der Frage, was ich hier eigentlich machte. Was hatte mich geritten, diese Reise anzutreten?

      Noch dazu, so schlecht vorbereitet.

      Ja, ich wollte zur Ostsee. Aber mit dem Fahrrad? Keine Kohle, um unterwegs vernünftig zu übernachten und keinen Schlafsack oder eine Decke, fürs Rasten unter freiem Himmel.

      Natürlich war alles anders geplant gewesen. Und wie so oft, waren meine Pläne gescheitert.

      Ich ließ mich vor dem Fahrrad auf den Boden sinken und spürte Tränen aufsteigen.

      Es war wie immer. Nichts funktionierte wirklich.

      Diesmal begleiteten meine Gedanken keine Angstzustände, doch die Depression griff auch so nach mir. Heimtückisch hatte sie sich in meinem Rücken angeschlichen und gnadenlos aus der Dunkelheit zugepackt. Aber ich konnte sie abschütteln, hatte jahrelang dafür trainiert.

      Früher hätten solche Momente Stunden, Tage, manchmal Wochen angehalten. Zeit, in der ich zu nichts anderem fähig gewesen wäre, als zu Hause zu sitzen und Löcher in die Wand zu starren. Damals waren mir zum ersten Mal Selbstmordgedanken gekommen, doch ich hatte, dank fremder Hilfe, wieder herausgefunden.

      Wie? Indem ich mit jemandem redete.

      Frauen haben deutlich häufiger Depressionen als Männer. Trotzdem ist die Suizidrate beim »stärkeren« Geschlecht deutlich höher?

      Warum? Weil Frauen sich ihren Ängsten stellen, weil Frauen reden und eben keine Angst haben, als schwach zu gelten.

      Männern wird von klein auf erzählt, dass sie richtige Kerle sein müssen. Da kann man sich keiner Krankheit hingeben, die keine äußeren Symptome hat.

      Ein gebrochenes Bein beim Sport, klasse. Beim Heimwerken in die Hand gesägt, super. Aber Depressionen? Nein, nicht mit uns.

      Ich hatte lange gekämpft, bis ich mich in Behandlung begab und da war es beinahe zu spät. Doch ich hatte immer wieder einen Weg aus der Krankheit gefunden. Mich zurück ins Leben gekämpft, bis ich mir, vor nicht allzu langer Zeit, eingestehen musste, dass ich dieses Leben gar nicht wollte.

      Jetzt, nachdem ich mir alles noch einmal eingestand, konnte ich endlich mein T-Shirt wechseln.

      Wieder ein Blick zum See. Das Wasser war so nah? Warum bis zur Ostsee warten? Warum nicht hier einfach allem ein Ende bereiten?

      Die Antwort war einfach. Viele Menschen sind als Kind schon depressiv, auch wenn es nicht oft erkannt wird. Werden gemobbt oder fühlen sich nicht geliebt oder nicht gut genug.

      Bei mir war das anders. Ich hatte eine mehr als glückliche Kindheit gehabt. Mit Eltern und Großeltern, die mir das Aufwachsen leicht machten.

      Dorthin wollte ich zurück. Einmal noch eine Reise in die Vergangenheit. Zu Plätzen, an denen ich glücklich war.

      Und dann mit einem Lächeln auf dem Gesicht sterben. Das hatte ich mir verdient.

      Ich