Martin Dolfen Thomas Strehl

... und am Ende wird alles gut


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hatten Sie eben recht, junger Mann.«

      Da war es wieder, aber in diesem emotional, dermaßen aufgeladenen Augenblick, erschien es mir belanglos.

      »Es gibt Dinge, die keiner von uns vergisst. Keiner. Immer wieder werden Menschen mit Aufgaben konfrontiert. Kaum lösbare Aufgaben. Aber wir müssen uns stellen.«

      Kräftig ballte sie die Hände zu Fäusten. Sie kämpfte. Mit sich, mit ihrer Trauer und ihrer erschütternden Vergangenheit.

      »Edgar versuchte, dieser Konfrontation aus dem Weg zu gehen. Er begann zu trinken. Wein, Whiskey, Korn, egal. Hauptsache, es war hochprozentig und er konnte dadurch die Bilder aus seinem Kopf vertreiben. Betrunken fiel er jede Nacht in einen unruhigen Schlaf und schrie ab und an. Verstehen konnte ich nie, was er dort von sich gab. Aber er muss schreckliche Alpträume gehabt haben. Es ging ihm immer schlechter. Später ging er nicht einmal mehr arbeiten und lag den ganzen Tag auf der Couch. Meine Versuche, ihn dazu zu bewegen, etwas zu unternehmen, irgendwie wieder am Leben teilzuhaben, scheiterten kläglich. Glauben Sie mir, ich habe mein Bestes versucht.«

      Schluchzend ließ sie sich an meine Schulter fallen. Ich heulte mit ihr. So, als hätte ich das Ganze selbst erlebt. Die Umgebung existierte nicht mehr. Was blieb, waren ich, die alte Frau und die Parkbank, auf der wir saßen. Langsam richtete sie sich wieder auf, hob entschuldigend die Hand und fuhr fort: »Er war nicht mehr der Mann, der er einmal war und ich nicht mehr die Frau von damals. In der Zeit vor Pamela. Aber ich hatte gelernt, was es bedeutet, zu leben. Einfach zu leben. Und wenn man dieses Leben als Geschenk betrachtet, fällt vieles leichter. Edgar konnte das nicht. Er wurde immer depressiver. Eines Tages ging er aus dem Haus.« Wieder lachte sie kurz auf, doch in ihrem Gesicht spiegelte sich keine Freude wider.

      »Ich kann mich noch gut daran erinnern. Es war ein Samstag. Im Fernsehen lief gerade die Sportschau. Fast das Einzige, was er noch mit Verstand schaute. Ich dachte er sei auf dem Sofa. Doch als ich ins Wohnzimmer ging, lief der Fernseher und die sonst chaotisch umherfliegenden Alkoholflaschen standen sauber aufgereiht auf dem Tisch. Die Sachen meines Mannes waren fein säuberlich gefaltet. Die Kissen an den richtigen Positionen und die Decke glattgestrichen. Auf dem Couchtisch lag ein Brief. Handgeschrieben. Eigentlich schrieb Edgar grauenvoll. Manche würden sagen, er hatte eine Sauklaue. Doch diesmal waren die Buchstaben wie gemalt. Wunderschön geschrieben. Der Inhalt jedoch war das Traurigste, was ich je gelesen habe.«

      Sie machte eine Pause und blickte mich verzeihend an.

      »Ich will Sie nicht mit jedem einzelnen Wort belästigen«

      Ich nickte und lächelte vorsichtig.

      »Er ging zu seiner Mutter. Die alte Gertrud war schwer dement. Sie hatte keine Ahnung, was ihr Sohn veranstaltete. Er holte sich einen Holzkohlegrill vom Balkon und schloss sich in der Abstellkammer ein. Von innen klebte er die Türschlitze mit Kreppband ab. Dann zündete er die Holzkohle an und wartete auf den Tod.«

      Ihre Stimme wurde brüchiger. Mit jedem Wort grub sich die schmerzende Erinnerung weiter in ihre Stimmbänder.

      »Von außen hatte er vorher einen Zettel an die Tür geheftet. Daran kann ich mich noch gut erinnern, weil es das wiedergab, wie er eigentlich war. Dort stand: Liebe Feuerwehrleute! Passt auf! Beim Öffnen der Tür besteht die Gefahr einer Vergiftung! Er hatte sie gewarnt, damit ihnen nichts passiert, in solch einem Moment.« Ihre Stimme brach endgültig. Tränen liefen ihr über die Wangen.

      Ich schluckte schwer und traute mich kaum etwas zu sagen, sah, wie diese kämpferische Frau mit Tränen, Wut und Verzweiflung rang. Dann schüttelte ich den Kopf, nahm ihre Hand in meine und flüsterte: »Das tut mir unglaublich leid.«

      Ich glaube, dass es keinen besseren Augenblick in meinem Leben gab, um ehrliche Traurigkeit auszudrücken. Nicht aufgesetzt, sondern von Herzen.

      »Danke!« Ihre tränenerstickte Stimme war ernst und doch mit so viel Dankbarkeit erfüllt, dass mir ein Schauer über den Körper lief. Dann begann sie erneut. Ihre Worte wurden wieder klarer und deutlicher. »Das, was ich nach Pamela durchmachte, erlebte ich nun noch einmal. Wieder suchte ich mir Hilfe, wieder bemühte ich mich, meinem Leben trotz aller Hindernisse einen Sinn zu geben. Es dauerte lange. Sehr lange. Irgendwann aber sah ich spielende Kinder. Sah ihre Lebensfreude. Eine Freude, die Erwachsenen abhandenkommt.« Sie wischte sich hastig ein paar Tränen fort. »Ja, das Leben kann ein Kampf sein, aber am Ende bist du der Krieger, der die Waffen wählt.«

      Überrascht von den doch etwas martialischen Worten, rieb ich mir mein Kinn und versuchte meine Sicht der Dinge zu erklären. »Ab und an sind es halt stumpfe Waffen. Ich will nichts schönreden, dafür ist ihre Geschichte zu tragisch und ich kann kaum erahnen, was sie durchgemacht haben, aber nicht jeder schafft den Weg aus solch einer Krise.«

      Ich wollte mich nicht auf Edgars Seite begeben. Was für einen Grund hätte ich gehabt? Die einzige Gemeinsamkeit unseres Weges war das Ziel, aber das durfte ich hier auf keinen Fall erwähnen.

      Die Frau erhob sich, klopfte sich ihr Kleid ab und drehte sich zu mir um. »Danke. Sie waren ein guter Zuhörer. Darüber reden tut immer noch weh, aber es hilft mir auch.«

      Sie bedankte sich noch einmal, trotzdem glaubte ich, etwas Falsches gesagt und sie verärgert zu haben. Es war ein sensibles Thema, aber ich hatte mir Mühe gegeben.

      Doch sie war mir nicht böse, viel schlimmer, sie hatte mich durchschaut.

      »Bitte tun Sie mir den Gefallen und begehen nicht den gleichen Fehler wie mein Mann. Sie sind ein wertvoller Mensch. Glauben Sie mir das.«

      Und mit diesen Worten ließ sie mich allein und nachdenklich auf der Parkbank zurück. Fieberhaft überlegte ich, ob ich irgendetwas von meinem Vorhaben Preis gegeben hatte. Doch ich war mir sicher, dass dem nicht so war. Nicht eine Silbe. Verdammt! Wie hatte sie das wissen können? Ein Deja vu. Die Bauersfrau hatte sich ähnlich ausgedrückt. Mir wurde immer bewusster, dass Frauen scheinbar die Gabe hatten, ins tiefste Innere eines Menschen zu blicken. Ein Talent, das den meisten Männern nicht gegeben war. Was für ein seltsamer Tag, dachte ich, schnappte mir das Fahrrad und machte mich auf zu den Ufern der Ewigkeit. Vielleicht sogar zu Edgar.

      Kapitel 5

      Die Geschichte der alten Dame hatte mich sehr bewegt, wirklich mitgenommen und es fiel mir unglaublich schwer, mich wieder zu sammeln.

      Es war erst Nachmittag, eigentlich hätte ich noch ein paar Stunden fahren können, doch mein Körper schmerzte und die Unterhaltung und die Reise in die Vergangenheit der Lady schienen alle Kraft aus mir herausgesaugt zu haben.

      Trotzdem trat ich in die Pedale, weil ich die Stadt hinter mir lassen wollte. Mit all ihren Menschen und Schicksalen.

      Ich wollte alleine sein, mir Gedanken um mich selbst machen, schließlich hatte ich damit wirklich genug zu tun.

      Die Häuser wurden flacher, standen weiter auseinander. Reihenhäuser wichen freistehenden Gebäuden mit großen Gärten, dann hatte mich die Natur wieder. Fast jedenfalls, denn ich radelte auf ein riesiges Kieswerk zu.

      Und überall, wo etwas dem Boden von Mutter Erde entrissen wurde, entstanden Narben, tiefe Löcher, in denen sich Grundwasser sammelte.

      Ich ließ den See, an dem die Bagger scheinbar noch in Betrieb waren, rechts liegen und sah mich genauer um.

      Ein Schild verkündete, dass ich mich am Rossenrayer See befand, an dem es sogar Boote und einen Tauchverein gab.

      Doch ich setzte meinen Weg fort, fuhr unter einer Autobahnbrücke hindurch und hielt kurz an.

      Noch mehr künstliche Seen, kleine und große und ich verspürte plötzlich die unbändige Lust, meine müden Beine ins kalte Wasser zu halten.

      Das nächste Gewässer hörte auf den wunderschönen Namen Haferbruchsee und ich stieg vom Rad, schob es eine Weile und versuchte, durch die dichte Böschung einen Weg ans Ufer zu finden.

      Ein kleiner Trampelpfad führte mich durch dorniges Gestrüpp und endete an einem zehn Meter langen Uferstreifen, den Menschen, mit ähnlicher