Ihnen gleich, dass ich die Menschen, mit denen sich Jacob abgibt, nicht kenne.“
„Da bin ich auch überfragt. Mein Mann hat immer verboten, dass Freunde unseres Sohnes in unser Haus kommen dürfen, und daran haben wir uns immer gehalten.“
Winzl starrte seine Frau abermals fassungslos an. Schon wieder ein ungerechtfertigter Vorwurf, der ihn sprachlos machte. Was war los mit seiner Frau?
„Sie haben auf meine Frage noch nicht geantwortet, Frau Winzl. Gibt es jemanden in Ihrem Leben, der Ihnen so etwas antun könnte?“
„Sie meinen mich? Nein!“
„Was ist mit Ihren Freunden oder Bekannten?“
„Ich habe keine Freunde und auch keine Bekannten.“ Frau Winzl sprang auf, rannte ins Badezimmer und schloss die Tür hinter sich. Sie musste jetzt ganz ruhig bleiben und durfte sich nicht verraten, sonst flog alles auf. Jacob war entführt worden und sie ahnte, wer dahintersteckte. Sie hatte sich in den letzten Jahren sicher gefühlt und war mutiger geworden, ging sogar ab und zu raus unter Menschen, was sie immer vermieden hatte. Sie hatte sich damals in Alfred einen verlässlichen Beschützer gewünscht, der ihr Sicherheit bieten konnte. Aber ihr Mann war nicht der strahlende Held. Er war nicht mit ihr, sondern mit seiner Firma verheiratet. Wann hatte er angefangen, sie nicht mehr wahrzunehmen? Wann war ihm die Familie völlig gleichgültig geworden? War das nicht schon immer so gewesen? Sie hatte sich etwas vorgemacht, denn von Anfang an war sie auf sich gestellt und hatte sich verkrochen. Seit drei Jahren verlor sie mehr und mehr ihre Angst und begann, das Leben schrittweise zu genießen. Sie stand kurz davor, ihr erdrückendes, liebloses Zuhause für immer zu verlassen. Und jetzt war alles anders! Sie kramte in ihrem vollen Medikamentenschränkchen und wühlte in der üppigen Auswahl. Medikamente waren zu ihrem Grundnahrungsmittel geworden, ohne sie konnte sie nicht leben, nicht mehr. Vor vielen Jahren hatte sie angefangen, das Teufelszeug zu nehmen. Sie hatte sich schnell daran gewöhnt und nicht nur die Auswahl, sondern auch die Dosen wurden immer größer. Alfred war nicht glücklich darüber, dass sie von diesen Medikamenten abhängig war, besorgte sie ihr aber trotzdem auf dem Schwarzmarkt, da sich die ansässigen Ärzte allesamt irgendwann weigerten, ihr neue Rezepte auszustellen. In dem Punkt war auf Alfred Verlass! Er sorgte immer für Nachschub, sie brauchte es ihm nur sagen. Da ist es! Endlich fand sie das Päckchen mit den starken Beruhigungstabletten und nahm gleich drei davon. Mit zitternden Händen trank sie das Wasserglas leer und setzte sich auf den Badewannenrand. Nicht lange, und sie würde sich besser fühlen. Sie wollte schon lange mit diesem Teufelszeug aufhören und schob den Termin immer wieder auf. In Kürze wäre es so weit gewesen und sie hätte ein neues Leben begonnen. Sie wäre von diesen Tabletten losgekommen und hätte endlich angefangen, zu leben. Jetzt war alles anders. Jacob war entführt worden.
Trotz der langsam einsetzenden Wirkung der Tabletten fühlte sie sich schlecht. Sie ahnte, wer hinter der Entführung ihres Sohnes steckt. Vor vielen Jahren hatte sie einen dummen Fehler gemacht und sie dachte, dass der der Vergangenheit angehörte und sie endlich in Ruhe leben könnte. Aber die Entführung Jacobs und die Erinnerungen schlugen ihr hart ins Gesicht.
3.
Mit dem Einverständnis von Alfred Winzl sah sich Krohmer in Jacobs Zimmer um. Es war kleiner, als er es sich vorgestellt hatte, aber es war sehr geschmackvoll mit teuren Möbeln und üppigen Gardinen, die fast den ganzen Raum beherrschten, eingerichtet. Das Bett war gemacht, es war nicht eine Falte zu sehen. Das war das Zimmer eines 28-jährigen Studenten? Der Kleiderschrank war ordentlich, darin befand sich nur Markenkleidung, deren Wert bestimmt Krohmers ganzes Jahresgehalt verschlingen würde. Auf dem Nachttisch lag ein Buch von Goethe, das relativ neu war. Krohmer blätterte darin und stellte fest, dass sich weder ein Einmerker, noch eine Notiz darin befand. Lag das nur zur Dekoration da? In der Schublade waren nur zwei Packungen Tempotaschentücher, sonst nichts. Vielleicht gab der Schreibtisch mehr her, denn noch konnte sich Krohmer von dem jungen Mann kein Bild machen. Wer waren seine Freunde? Wo waren Briefe, Karten, Zettel, irgendwas, das Aufschluss über Jacobs Leben geben könnte? Jacobs Handy war bereits bei der Spurensicherung und bald hatten sie dessen Kontakte in Händen. Vielleicht gab es sogar aufschlussreiche SMS-Nachrichten?
Auf dem Schreibtisch stand ein Laptop. In der Schublade des Schreibtisches fand Krohmer hinter einem Heer von Stiften und Büromaterial ein kleines Notizbuch, das er rasch in seine Jackentasche steckte, denn er hörte Schritte auf dem Gang. Eine ältere Frau steckte neugierig den Kopf in die Tür.
„Wer sind Sie? Was haben Sie hier zu suchen?“, fragte sie unfreundlich.
Krohmer zeigte ihr seinen Ausweis.
„Polizei? Was hat der Junge denn jetzt schon wieder angestellt? Ich habe mich schon gewundert, dass ich ihn gestern und auch heute nicht gesehen habe.“
„Wer bitte sind Sie?“
„Iris Daubner, ich bin die Putzfrau und Mädchen für alles,“ stellte sich die schlanke, 56-jährige Frau vor. Ihre wachen Augen musterten Krohmer von oben bis unten.
„Ich kenne Sie doch. Sie sind der Chef der Kriminalpolizei!“, rief sie erschrocken. „Was ist passiert? Ist Jacob etwas zugestoßen?“
„Laufende Ermittlungen, ich darf Ihnen leider nichts sagen. Wie lange arbeiten Sie schon hier? Wie gut kennen Sie Jacob?“
„Ich arbeite seit über fünf Jahren hier und ich bin angemeldet, wie sich das gehört. Das können Sie gerne überprüfen.“ Sie machte eine kurze Pause und Krohmer lächelte. Er glaubte ihr unbesehen, dass sie angemeldet war, sonst hätte sie es nicht erwähnt. „Bei den Winzls bleibt keiner lange. Jacob macht gerne seine Späße und ärgert jeden. Und der alte Winzl ist ein richtiger Kotzbrocken. Immer hat er etwas zu meckern, mit nichts ist er zufrieden. Frau Winzl ist eine feine Dame, für sie arbeite ich gerne, wegen ihr bin ich auch noch hier.“ Iris Daubner erzählte ausführlich einige Auseinandersetzungen mit Alfred Winzl, die sich ähnelten und Krohmer mehr und mehr langweilten. Diese Frau Daubner war eine sehr gesprächige Frau, die sehr viel Wert auf die genaue Darstellung ihrer Erzählungen legte, weshalb sich die Unterhaltung in die Länge zog. Ungeduldig sah er auf die Uhr.
„Was ist mit Jacob Winzl? Was können Sie mir von ihm erzählen?“, unterbrach Krohmer.
„Der Junge ist im Grunde genommen kein schlechter Mensch, obwohl auch ich unter seinen dummen Späßen und Beleidigungen zu leiden habe. Ich vermeide es, ihm zu begegnen. Frau Winzl hat ihren Sohn nach Strich und Faden verzogen. Der alte Winzl schimpft oft mit seinem Sohn, der Alte ist sehr hartherzig und oft auch grob. Aber man muss ihm hoch anrechnen, was er geschaffen hat. Ich kann mich noch gut an den kleinen Schrottplatz erinnern. Dort haben wir oft gespielt, als ich noch ein kleines Mädchen war. Ja, das waren noch Zeiten damals…“
„Haben Sie Freunde oder Bekannte von Jacob kennengelernt? Oder wissen Sie, wo er sich in seiner Freizeit aufhält?“
Iris Daubner kam einen Schritt näher und sah sich verschwörerisch um.
„Hier ins Haus dürfen keine Fremden, das hat der alte Winzl strikt verboten. Ich möchte niemanden anschwärzen,“ flüsterte sie. „Abgesehen davon, dass Jacob eigentlich nur Freizeit hatte, pflegte er nicht den Umgang, den seine Eltern sich für ihr einziges Kind gewünscht haben. Keine Rowdies oder Asoziale, sondern versnobte Taugenichtse, die sich auf den Lorbeeren ihrer Eltern und Großeltern ausruhen und deren Geld mit vollen Händen rauswerfen. Ich habe Jacob in einer Gruppe dieser unsympathischen jungen Leute gesehen, als ich meine Tochter in München besucht habe. Ich mag Jacob eigentlich sehr gerne, aber inmitten dieser Leute war er peinlich und ich habe mich für ihn geschämt. Sie haben einem Obdachlosen 100 Euro hingehalten und er musste dafür für sie tanzen. Als er tanzte, haben sich die jungen Leute über ihn lustig gemacht. Das macht man doch nicht, das geht nicht.“
„Kennen Sie diese jungen Leute?“
„Von mir erfahren Sie keine Namen, ich bin doch nicht blöd. Nachher erfährt einer, dass die Polizei den Namen von mir hat und dann werden sie mir einen Killer auf den Hals schicken.“ Krohmer musste lachen, die Phantasie und das einfache Gemüt dieser Frau waren erfrischend komisch.