Irene Dorfner

JACOB


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der pinkfarbene Koffer, den sie hinter sich herzog, zog alle Blicke auf sich.

      „Frau Gutbrod? Welch Glanz in unserer Hütte!“, rief Hans Hiebler aus und umarmte die ehemalige Kollegin. Das mit dem Glanz meinte er wörtlich, denn Frau Gutbrod hatte es mit ihrem hellgrünen Paillettenkleid, den hochhackigen Lackstiefeln und dem üppigen Schmuck völlig übertrieben. Bei jeder Bewegung glitzerte und klimperte es. Auch die anderen begrüßten sie herzlich. Sie wurde trotz ihrer nervigen Neugier, mit der sie viele fast um den Verstand brachte, schmerzlich vermisst.

      „Ich habe Frau Gutbrod gebeten, uns als Expertin in Sachen Märchen zu unterstützen,“ erklärte Krohmer. „Ich weiß, dass sie sich sehr gut darin auskennt und alle gängigen Märchenbücher besitzt.“ Krohmer stellte seiner ehemaligen Sekretärin die neue Mitarbeiterin Tatjana Struck vor, da sich die beiden noch nicht über den Weg gelaufen waren.

      Frau Gutbrod sah abschätzend an der neuen Kollegin auf und ab. DAS war die Neue? Klein, pummelig, um nicht zu sagen dick. Und dann noch diese fürchterliche, unvorteilhafte Kurzhaarfrisur. Wie alt sie wohl ist? Bestimmt noch keine 40, das sah man an ihrer Haut. Aber warum ließ sie sich so gehen? Aus ihr könnte man etwas machen, wenn man sich Mühe gab. Ein wenig Make-up und eine neue Frisur würden Wunder bewirken. Und diese Kleidung ging gar nicht! Der dicke, womöglich auch noch selbstgestrickte, farbenfrohe Pullover trug viel zu sehr auf. Die bequemen Schuhe waren nicht geputzt und die Hose saß nicht richtig. Außerdem roch die Frau fürchterlich nach Zigaretten.

      „Was ist? Wollen Sie ein Passfoto?“, sagte Tatjana frech, der die Musterung der in ihren Augen überkandidelten Frau missfiel. Ihr ging die Frau jetzt schon auf die Nerven. Warum war sie hier? Waren sie nicht in der Lage, das Rätsel selbst zu lösen? Gegen ihre Anwesenheit zu protestieren würde nichts bringen. Krohmer hatte sie herzitiert und er war nun mal der Chef.

      Frau Gutbrod rümpfte die Nase über die tiefe Stimme und die Ausdrucksweise von Frau Struck, die keinen Deut besser zu sein schien als ihre Vorgängerin Viktoria Untermaier. Tatjana Struck hieß die Frau also. Sie hatte den Namen noch nie gehört. Wo kam sie her? Was hatte sie vorzuweisen? Die Neue stand plötzlich auf, kam einen Schritt auf Frau Gutbrod zu und sah ihr direkt in die Augen. Tatjana hasste es, wenn sie angestarrt wurde. Das war doch kein Benehmen! Sekundenlang war es mucksmäuschenstill. Alle waren gespannt, was zwischen den beiden Frauen passieren würde. Nur Krohmer bemerkte nichts. Hilde Gutbrod setzte sich schließlich, und auch Tatjana gab nach. Eins stand fest: Die beiden würden keine Freunde werden.

      „Geben Sie Frau Gutbrod das Rätsel. Ich bin gespannt, was es damit auf sich hat,“ drängelte Krohmer.

      Frau Gutbrod erschrak, als sie die wenigen Worte überflog. Ängstlich sah sie Krohmer an.

      „Was ist los?“

      „Das wird Ihnen nicht gefallen Chef, lesen Sie selbst.“

       „Den alten Sultan schieß ich morgen tot, der ist zu nichts mehr nütze!“ 20865169

       Krohmer war blass geworden, die Sache war offensichtlich ernster, als er angenommen hatte.

      „Verstehe ich das richtig? Jacob soll morgen erschossen werden?“

      „Nun mal ganz langsam,“ unterbrach Leo, der nicht an einen vorhergesagten Mord glauben wollte. „Bisher haben wir nur einen Satz, mehr nicht. Wie sieht es aus Frau Gutbrod, könnte dieser Satz aus einem Märchen stammen?“ Leo hatte die ehemalige Sekretärin beobachtet, die sofort zu einem Buch griff und hektisch darin blätterte.

      „Ich bin mir sicher, dass die Stelle zu dem Märchen Der alte Sultan gehört,“ sagte sie und fand endlich die richtige Zeile. „Hier habe ich es. Ich lag richtig mit meiner Vermutung: Eine Textzeile aus dem Märchen Der alte Sultan. Es ist von den Gebrüdern Grimm und steht an 48. Stelle.“

      „Klären Sie uns mit wenigen Worten über den Inhalt auf,“ sprach Krohmer den anderen aus der Seele, die ebenfalls keine Ahnung hatten, worum es in dem Märchen ging.

      „Sultan ist ein alter Hofhund, der aufgrund seines Alters erschossen werden soll, da er den Bauern keine Dienste mehr leisten konnte. Sultan hatte die Worte des Bauern gehört und klagte dem Wolf gegenüber sein Leid. Der Wolf hatte Mitleid und heckte mit Sultan einen Plan aus. Dieser bestand darin, dass der Wolf den unbeaufsichtigten Säugling der Bauern stehlen soll. Sultan sollte ihm bellend hinterher und den Säugling retten. Der Plan ging auf und Sultan bekam aus Dankbarkeit sein Gnadenbrot auf dem Hof. Der Wolf kam eines Tages und bat Sultan wegzusehen, wenn er sich ab und zu ein fettes Schaf holen wollte. Aber Sultan dachte nicht daran, er stand loyal zu seinem Herrn und verriet den Wolf. Daraufhin forderte der Wolf ihn zusammen mit einem Wildschwein heraus, wohl wissend, dass der zahnlose, alte Sultan keine Chance hatte. Sultan fand nur in einer dreibeinigen Katze Beistand und ging zum vereinbarten Treffpunkt. Durch den von Schmerzen geplagten Gang der Katze streckte diese den Schwanz nach oben, dadurch vermuteten der Wolf und das Wildschwein, die beiden führen einen Säbel mit sich. Die Katze sah durch den Gang der drei Beine so aus, als sammelte sie auch noch jede Menge Steine auf, die sie dann auf die beiden werfen wollte. Das Wildschwein versteckte sich im Laub und der Wolf sprang auf einen Baum. Das Wildschwein hatte sich nicht ganz verstecken können, ein Ohr ragte heraus. Es bewegte sich und die kurzsichtige Katze dachte, das sei eine Maus. Sie sprang darauf zu und biss herzhaft hinein, worauf sich das Wildschwein erschrak und davonrannte. Als Sultan und die Katze den Wolf auf dem Baum entdeckten, schämte sich der Wolf und bot Frieden für alle Zeit an.“

      „Ich muss zugeben, dass das Märchen nicht nur lehrreich, sondern auch sehr amüsant ist,“ sagte Krohmer überrascht, der sich aber trotzdem nicht mit Märchen anfreunden konnte. „Könnte mit dem Märchen auch ein Tierheim, ein Gnadenhof oder etwas Ähnliches gemeint sein?“

      „Könnte sein. Warum nicht?“

      „In unserem Zuständigkeitsbereich haben wir fünf Tierheime und zwei Gnadenhöfe,“ sagte Werner, der die Informationen hierüber im Internet fand. Werner hatte immer ein Tablet bei sich, ohne dies schien er nicht lebensfähig. „Ein Gnadenhof ist bei Winhöring, der andere ist in Landshut.“ Er notierte die beiden Adressen.

      „Teilen Sie sich auf und nehmen Sie sich zuerst die Gnadenhöfe vor. Danach sind die Tierheime dran.“

      „Was ist mit den Freunden? Sollten wir uns die nicht zuerst vornehmen?“ Tatjana befand, dass das mit den Gnadenhöfen und Tierheimen in eine völlig falsche Richtung führte und sie dadurch nur unnötig Zeit vertrödelten. Aber Krohmer war nun mal der Chef.

      „Die Freunde können noch warten, der Hinweis geht vor. Bevor Sie aufbrechen, möchte ich noch über diese Zahlen sprechen. Was haben sie zu bedeuten?“ Krohmer war erschrocken, dass auch auf dem neuen Zettel abermals Zahlen notiert wurden. Und wieder handelte es sich um eine 7-stellige Zahl.

      Auch die anderen hatten sich bereits Gedanken darüber gemacht und konnten sich keinen Reim darauf machen. Tatjana hatte sich mit Fuchs darüber unterhalten, der ebenfalls nichts damit anfangen konnte. Er versprach ihr, sich darum zu kümmern.

      Krohmer blieb nichts anderes übrig, als das Ehepaar Winzl zu informieren, er hatte sein Wort gegeben. Das würde nicht leicht werden, denn er hatte nichts als den neuen Hinweis, von dem er noch nicht einmal wusste, ob sie damit richtig lagen. Aber das würde sich in Kürze herausstellen. Zuerst wollte er Alfred Winzl anrufen, entscheid dann aber spontan, das Ehepaar Winzl zuhause aufzusuchen, da er in der Gegend noch einen Termin hatte, den er sehr gut damit verbinden konnte.

      Krohmer hatte seinen Besuch nicht angemeldet und musste lange klingeln, bis Frau Winzl öffnete. Er war sich sicher, dass jemand zuhause war, denn im oberen Stock hatte sich die Gardine bewegt.

      „Herr Krohmer? Entschuldigen Sie, dass Sie warten mussten, ich hatte mich hingelegt. Ich habe Iris nach Hause geschickt, mein Mann ist auch weg. Ich bin hier allein...“

      „Verständlich,“ sagte Krohmer freundlich, obwohl ihm die Nervosität der Frau sehr merkwürdig vorkam. Frau Winzl machte keine Anstalten, ihn ins Haus zu bitten, was ihn zusätzlich irritierte. Er informierte Frau Winzl an der Haustür über die wenigen Worte des Schreibens, das seine Leute am Wasserturm in Graming gefunden haben. Auch Frau Winzl