Sigrid Jamnig

Eine neue Göttin für Myan


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zu denken, dass ihm auch andere Beschreibungen zu ihr einfallen würden, etwa sinnlich und sexy. In den letzten Jahren, in denen er im Zuge seiner Ausbildung viele Jahre in Rom und anderen Teilen der Erde verbrachte und viele Leute kennenlernte, hatte er nie auf diese Art an eine Frau gedacht. Aber jetzt bekam er diese Gedanken einfach nicht aus seinem Kopf. Jetzt musste er sich aber auf seine Aufgabe konzentrieren und daher fragte er nach den Kindern und was bisher gemacht worden war. Bevor Frau Konrad anfing, ihm davon zu berichten, glaubte er, bei ihr einen wissenden Blick zu bemerken, den er jedoch nicht recht zuordnen konnte.

      Nun wusste Ally wieder, warum sie so ungern die Zeitung las oder Nachrichten im Fernsehen ansah. Da sie aber warten musste, bis sie sich nach Myan aufmachen konnte, wollte sie irgendwie die Zeit totschlagen. Doch es stand wieder einmal nichts Gutes in der Zeitung: nur traurige Meldungen oder düstere Prognosen, die das Bild des heutigen Tages prägten. Und natürlich der Promiklatsch, welcher Ally aber auch nicht sonderlich interessierte. Sie war zwar eine leidenschaftliche Kinogeherin bzw. Filmeguckerin, aber es war ihr egal, was die Schauspieler in ihrer Freizeit machten. Von den meisten Schauspielern wusste sie nicht einmal die Namen.

      Seufzend blätterte Alyssa um. Sie saß in ihrer Wohnung am Küchentisch. Vor ihr stand ein leerer Kaffeebecher. ‚Wie kann jemand nur so etwas tun?’, fragte sie sich zum wiederholten Male, während sie einen ausführlichen Artikel über die Entführung einiger Geistlicher aus verschiedenen Religionen verstreut über den gesamten Erdball las. Die Religion war die einzige Verbindung. Es wurde vermutet, dass es sich um denselben Täter handelte. Aber ansonsten gab es keine Spuren. Sie waren einfach weg. Im einen Moment hielten sie eine Predigt, alles schien normal – und eine Stunde später waren sie einfach weg. Keine Zeugen. Keine Spuren.

      Ally konnte nicht verstehen, warum jemand oder eher eine Gruppe von Menschen Priester entführen sollte. Was versprachen sie sich davon?

      Obwohl ... Ally wusste ganz genau, was sie mit einem bestimmten Priester machen würde. Ihr wurde ganz heiß bei dem Gedanken, Christopher zu küssen. Seine Hände auf ihrem Körper zu spüren. Natürlich war das lächerlich. Er war ein Priester und mit Sicherheit nicht an ihr interessiert. Aber Gedanken waren harmlos. Nur hatte sie ein Verlangen danach, ihren Gedanken Taten folgen zu lassen. Trotz der Tatasche, dass sie ganz alleine in der Wohnung war, grinste sie peinlich berührt und versuchte, die Gedanken abzuschütteln. Bis jetzt war sie immer zu schüchtern und ängstlich gewesen, um einen Mann näher an sich heranzulassen. Warum fühlte es sich jetzt so anders an? Sie hatte Herr Baliy erst zweimal gesehen und nur wenige Worte mit ihm gewechselt. Allmählich glaubte Ally, dass das Schicksal es nicht gerade gut mit ihr meinte. Angesichts ihrer bisherigen Leistungen konnte Ally darauf vertrauen, dass sie diese Göttersache ganz fürchterlich in den Sand setzen würde. Sollte sie jemals den Mut dazu aufbringen, dann würde sie Sharon oder Shila davon erzählen.

      Und dann waren da auch noch die Dämonen, welche sie gestern umbringen wollten. Lucy hatte nichts dazu gesagt, was sie von Ally wollten. Nur dass es untypisch für diese drei Männer war. Das half ihr aber nicht weiter. Der neue Schutzzauber an ihrer Wohnungstür trug nicht dazu bei, ihr ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln. Was wollten sie von ihr? Möglicherweise war es ja eine Art Prestigesache, wenn Dämonen Götter tötetenn, und sie war ja immerhin noch neu im Geschäft.

      Ally war überzeugt davon, dass etwas Schlimmes passieren würde. Diese ganze Göttinnensache musste irgendeinen Haken haben. Außerdem würde sie doch irgendwann auch gegen Dämonen kämpfen und Menschen helfen müssen. Dann wenn sie ihre Kräfte erst einmal beherrschen würde. Das nahm Ally zumindest an. Ob die Götter bei diesen Entführungen der Geistlichen etwas unternahmen? Es musste etwas Großes dahinterstecken. Schließlich passierten die Entführungen auf der ganzen Welt.

      Ally hatte ihre Zeitung inzwischen zu Ende gelesen. Sie hatte sich nur schwer auf die Artikel konzentrieren können, da ihre Gedanken ganz durcheinander waren. Zudem war sie furchtbar nervös, was sie heute wohl erwarten würde. Heute würde klar werden, dass alles nur ein Missverständnis war. Inzwischen hatte Ally ziemliche Bauchschmerzen. Wenn ihre Ängste sehr groß waren, dann musste sie sich manchmal auch übergeben. So grenzte es an ein Wunder, dass sie den Schulabschluss überhaupt geschafft hatte.

      Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es an der Zeit war aufzubrechen. Ally schloss ihre Wohnungstür ab. Dann nahm sie ihre Handtasche und den Tayler zur Hand. Mit zitternden Fingern wählte sie „Hauptquartier“ auf dem kleinen Apparat aus. Sie drückte den grünen Knopf. Wieder erfasste sie ein Gefühl der Leichtigkeit, und helles Licht umgab sie. Ally verlor den Boden unter den Füßen. Als das Licht sich wieder verzogen hatte, stand sie neben dem großen runden gelben Schild und schaute die breite Treppe zum großen Eingangstor hoch.

      ‚Na dann los!’ Ally atmete tief durch und schritt die Stufen hinauf. Zusammen mit einigen anderen betrat sie die Eingangshalle. Es schienen noch mehr Leute als gestern hier zu sein. Heute saß ein junger Mann mit kurzen blonden Haaren hinter der Rezeption.

      Sie folgte der Treppe im Inneren nach oben und wandte sich dann nach links. Die Räume waren alle beschriftet. Auch der Flur war weiß gehalten und gefliest. Am Ende des Ganges war ein Fenster. Vor Raum 1.05 blieb Ally stehen und atmete tief durch. Sie hob die Hand und wollte klopfen. Da wurde die Tür aufgerissen und Tina stand vor ihr. Heute trug sie weiße Jeans und ein weißes T-Shirt mit einem hellblauen Muster. Ihre roten Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden.

      „Hi Ally!“, sagte sie und lächelte.

      Ally zuckte zusammen. „Hallo“, stammelte sie. Tina trat zur Seite und ließ sie einen kleinen Raum mit zwei Fenstern betreten. An den Wänden standen ein paar Tische, welche zur Seite gerückt waren. Die dazugehörigen Stühle waren übereinander gestapelt und ebenfalls an die Wand gerückt. Der Raum wirkte wie ein Klassenzimmer, nur dass vorne die Tafel fehlte. Die hintere Wand zierte ein großes Graffiti von einer roten Rose. Ansonsten war auch hier alles weiß. Ally stellte ihre Tasche auf einen der Sesselstapel direkt neben der Tür.

      „Wie geht’s dir?“, fragte Tina und schloss die Tür hinter sich.

      „Gut“, erwiderte Ally schlicht.

      „Sehr gut, es war gestern wirklich viel auf einmal.“ Tina stellte sich in die Mitte des Raumes. „Wir fangen heute klein an“, erklärte sie dann. „Zuerst musst du die Magie in dir entdecken und anwenden. Da du bisher noch nie Magie benutzt hast, musst du die Sperre in dir überwinden. Wenn du Fragen hast, dann unterbrich mich einfach.“ Tina hob ihre rechte Hand und ließ sie langsam wieder sinken. Ihre Hand leuchtete wie eine Glühbirne. „Jeder sendet immer magische Wellen aus. Dieser einfache Zauber macht die Wellen sichtbar!“ Davon hatte Ally bereits gehört. Sie starrte das Licht verwundert an. „Das ist unglaublich.“

      Tina ließ das Leuchten wieder verschwinden. „Das ist noch gar nichts“, lächelte sie. Eine kurze angedeutete Bewegung mit der Hand, und schon kam Bewegung in die wenigen Möbel. Die Tische hoben sich ruckelnd vom Boden ab und hielten in wenigen Metern Höhe. Einer der Tische hatte eine Schublade an der Vorderseite. Langsam öffnete sich die Lade, und ein kleiner roter Vogel flog zwitschernd hervor. Der kleine Vogel zog ein paar Kreise um die Deckenleuchte und ließ sich schließlich auf Tinas Schulter nieder. Die Möbel sanken wieder auf den Boden zurück.

      „Kann ich das auch?“ Ally war beeindruckt, auch wenn alles wie ein Zaubertrick auf sie wirkte.

      Tina nickte. „Jetzt bist du an der Reihe. Stell dich bequem hin und hebe deine Hand.“ Ally tat wie ihr geheißen. „Konzentriere dich auf deine Hand. Versuche, die Umgebung der Hand zu fühlen. Wie die Luft um deine Hände spielt.“ Tina tat es Ally gleich. „Überall um dich herum sind magische Wellen. Immer – zu jeder Zeit. Versuche, etwas zu fühlen, was nicht da ist. Stell dir dabei eine Kerze vor. Du fühlst die Wärme. Wie Luft kann man auch Wärme nicht sehen, nur fühlen. Bei magischen Wellen ist es genauso. Magie ist nichts anderes als die Manipulation dieser Wellen, damit der aussendende Gegenstand tut, was man möchte. Nun ist deine Hand dabei die Kerzenflamme, und die magischen Wellen sind die Wärme. Konzentriere dich auf diese Wärme und stell dir vor, sie würde leuchten wie eine Glühbirne.“ Tinas Hand fing wie auf Kommando an zu leuchten.

      „Wie genau macht man dieses Leuchten sichtbar?“,