Sigrid Jamnig

Eine neue Göttin für Myan


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auf den Engel. Irgendwie wirkten die Männer nicht so, als wären sie freiwillig hier. Sie wirkten eher wie Marionetten. Aus seiner Hand löste sich wieder einer dieser Feuerbälle, aber Lucy war darauf vorbereitet. Der Engel hatte die Hände erhoben, fast so, als wollte sie den Ball fangen. Der Feuerball wurde langsamer, und wenige Zentimeter vor Lucy hielt der Ball einfach an. Sie griff danach, aber sie berührte den Ball nicht wirklich. Stattdessen hielt sie die Hände über und unter dem Ball. Um die Kugel schien es zu flackern, und der Ball war von leichtem Nebel umgeben. Und dann verpuffte er einfach ins Nichts, aus dem er gekommen war.

      „War das schon alles?“, fragte Lucy. Anscheinend kannte sie die Angreifer. So als hätte Lucys Aussage in den Köpfen der drei Männer irgendeinen Schalter umgelegt, gingen alle drei plötzlich gleichzeitig auf sie los. Die Magie schien vergessen. Ally fragte sich, warum Lucy sie nicht einfach in eine Starre versetzen oder sie einschlafen lassen konnte. Einen Augenblick wollte Ally ihr das auch raten, aber Lucy hatte keine Probleme mit der handgreiflichen Auseinandersetzung. Die Brüder wollten den Engel packen, doch sie schien die Bewegungen kommen zu sehen. Sie duckte sich unter Ians Arm hinweg und schubste Alex ein klein wenig, sodass er über seinen Bruder stolperte. Alex und Ian waren hingefallen und standen sich gegenseitig beim wieder Aufstehen im Weg. Lucy stand nun direkt zwischen Florian und dem Knäuel aus seinen Brüdern, die aussahen, als müssten sie sich nach einer Partie Twister wieder entknoten. Florian drehte sich zu Lucy und wollte sie wieder packen. Er machte einen weiteren Schritt nach vor. Lucy sah ihn kommen, stand jedoch still und wartete bis zum letzten Moment, ehe sie ihm einfach aus dem Weg trat. Florian konnte nicht mehr rechtzeitig anhalten und stürzte nun ebenfalls über seine Brüder. Lucy schüttelte den Kopf.

      „Was ist nur in euch gefahren?“ Wieder antworteten ihr die Brüder nicht. Mühsam standen sie nacheinander auf. Immer noch starrten sie den Engel an, bevor sie im nächsten Moment sie einfach in einem Lichtblitz verschwanden.

      Ally hatte sich in der Zwischenzeit aufgerichtet und kam nun mit wackeligen Schritten auf den Engel zu.

      „Ist es vorbei?“, fragte sie leise. Der Engel drehte sich zu ihr um. Lucy lächelte breit.

      „Ich denke schon!“ Ally schaute von dem nur mehr leicht rauchenden Auto zu der Stelle, wo eben noch die Brüder gestanden hatten.

      „Was war das gerade?“

      „Das, Ally, waren Dämonen!“ Lucy hatte freundliche, helle Augen und wirkte sehr fröhlich.

      „Dämonen?“ flüsterte Ally verwundert. „Aber was wollen denn Dämonen von mir?“ Auf diese Frage hatte Lucy keine Antwort.

      „Es ist für die Brüder absolut ungewöhnlich, dass sie überhaupt jemanden angreifen“, meinte sie. Da es auf ihre drängendste Frage keine Antwort gab, wollte Ally das nächste höchst Merkwürdige wissen.

      „Warum ist keine Polizei oder so aufgetaucht?“

      „Sie hätten nur gestört und ohnehin nicht helfen können“, erklärte Lucy und wandte sich dann den zerstörten Autos zu. Wieder hob sie die Hände. Ein Wind kam auf. Magie lag in der Luft. Der Rauch verzog sich. Die zersprungenen Scheiben setzten sich von alleine wieder zusammen. Das Auto, gerade noch ein Wrack, sah plötzlich wieder aus wie vorher. Überhaupt sah es nach wenigen Minuten auf der Straße so aus, als wäre nie etwas geschehen.

      „Siehst du? So gut wie neu!“ meinte Lucy zufrieden. „Ich heiße übrigens Lucy“, fügte sie hinzu. Das hatte Ally zwar bereits mitbekommen, aber auch sie stellte sich vor.

      „Bist du ein Engel?“, platzte es dann aus ihr heraus. Sofort war es ihr unangenehm. „Es tut mir leid, ich wollte ...“

      Aber Lucy winkte ab. „Schon gut! Ja, ich bin ein Engel.“ Ally war nun etwas mulmig zumute. Heute war ein ungewöhnlicher Tag. Zuerst wurde ihr mitgeteilt, dass sie eine Göttin war und Unterricht besuchen musste, dann hatte sie höchst unpassende Gefühle für einen Priester. Und jetzt wurde sie auch noch von Dämonen angegriffen.

      Lucy schien zu merken, dass sie etwas bedrückte. „Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich werde mit Tina und Christine darüber reden. Es werden dich keine Dämonen mehr angreifen. Du bis vollkommen sicher. Wir werden dich beschützen.“

      Ally lächelte dankbar. „Es ist nicht nur das“, sagte sie leise. „Der ganze Tag war schon unglaublich!“

      „Ich weiß, was du meinst. Als ich gestorben bin und mir gesagt wurde, dass diese Welt existiert und ich ein Engel sein kann, hat es mich umgehauen.“

      „Du bist gestorben?“

      „Ja.“ Lucy schaute etwas verträumt. „Kaum zu glauben, dass das schon zweihundert Jahre her ist.“

      Als Lucy Allys verdutzten Blick sah, musste sie lächeln. „Die meisten Engel sind Menschen, die gestorben sind und dann als Engel weiterleben“, erkläre sie ihr.

      „Also gibt es doch ein ewiges Leben?“

      Lucy schüttelte den Kopf. „Man muss ein gutes und anständiges Leben geführt haben, dann kann man ein Engel werden. Ansonsten wird man einfach wiedergeboren.“ Für Ally ergab das viel Sinn. Im Vergleich zur Erde war Myan sehr klein. Wo sollten denn sonst die ganzen Leute hin?

      Trotz der vielen Fragen, welche in Allys Kopf herumgeisterten, wusste die junge Frau nicht, was sie als nächstes sagen sollte. Sie hatte, wie so oft, ein beklemmendes Gefühl, dass jedes weitere Wort nicht passend wäre. Also schwieg sie. Sie schaute sich um. Es war noch relativ früh, und dennoch fühlte sie sich so unglaublich müde.

      „Ich bringe dich nach Hause“, sagte Lucy schließlich.

      Ally aber winkte ab. „Ich wohne doch gleich hier!“ Mit der Hand wies sie auf ein zweiflügeliges Haustor mit Drahtglasscheiben wenige Meter weiter.

      „Das weiß ich doch!“ Lucy lächelte. „Aber ich muss doch einen Schutzzauber über deine Wohnung legen.“

      Zusammen betraten sie das Haus. Allys Wohnung lag im ersten Stock. Den Weg dorthin legten sie schweigend zurück. Der Flur lag dunkel vor ihnen. Die wenigen Lampen spendeten nur spärliches Licht. Die meisten Sandsteinstufen waren teilweise ausgebrochen, und auch an den Wänden bröckelte der Verputz ab.

      Erst als die Tür zu Allys Wohnung hinter ihnen ins Schloss fiel, ergriff Lucy wieder das Wort: „Du wohnst nicht gerade in einem hübschen Haus.“ Sie schaute sich in der kleinen Wohnung um, welche nur aus einer großen Küche, einem winzigen Kabinett und einem noch kleineren Bad besand. „Aber hier ist es richtig nett!“

      Ally dankte ihr schüchtern und führte Lucy in die Wohnküche. Die Möbel passten allesamt nicht zusammen. Aber Ally fühlte sich in diesem kreativen Chaos, wie sie es nannte, sehr wohl. Sie war neugierig. Bis auf das Beamen oder … wie hieß das noch gleich ... das Taylen hatte sie noch kaum Magie gesehen, und sie war gespannt, wie Lucy ihre Wohnung sicherer machen wollte. Zuerst schaute Lucy sich um. Sie warf sogar einen Blick in das Bad und das Schlafzimmer.

      „Das ist einfach“, erklärte Lucy ihr. „Deine Wohnung ist nicht groß!“

      Ally stand immer noch in der Mitte ihres Wohnzimmers. Lucy kam wieder zu ihr.

      „Gib mir deine Hand!“ Unsicher streckte Ally die Hand aus. Lucy ergriff sie und fragte: „Gibt es irgendwelche Zeichen oder Symbole, welche dir besonders gut gefallen?“ Ally wusste nicht, was die Frage zu bedeuten hatte, und natürlich fiel ihr in genau diesem Moment nichts ein. Daher schüttelte sie den Kopf.

      „Na gut, wenn das so ist … was hältst du von einem Stern?“

      „Okay!“, sagte Ally leise. Lucy hielt ihre Hand und schloss einen Augenblick die Augen. Es dauerte nur wenige Sekunden. Wärme pulsierte in ihrer Hand. Ein paar Lichtfunken tanzten um die Hände herum. Lucy sagte beschwörend: „Nocram ora est“. Die Lichtpunkte bündelten sich über Lucys Hand und bildeten einen kleinen goldenen Stern. Lucy ließ Allys Hand los und nahm den Stern mit beiden Händen. Es sah aus, als würde sie den Stern in einer Glaskugel tragen. Sie ging zur Eingangstür und drückte den Stern auf die rechte obere Ecke der Tür. Dort leuchtete er einen Moment