Volkmar Kuhnle

Tod des Helden


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Wange hinab, seine Unterlippe zitterte. „Habt Ihr das gehört?“

      Valerius trat neben ihn und legte seine Arme um den Jungen. „Ja, das habe ich.“

      Aidan umschlang seinen Lehrmeister und Freund ebenfalls. „Ich hasse ihn!“, sagte er und vergrub sein Gesicht an dessen Schulter.

      „Ich weiß.“ Beruhigend strich der Animagus ihm über den Rücken. „Doch Hass hat noch nie zu etwas Gutem geführt. Lass uns in die Bibliothek gehen, das bringt dich auf andere Gedanken.“ Sie verließen die Terrasse, während am Horizont dunkle Wolken aufzogen.

      Valerius schreckte hoch, nur langsam beruhigte sich sein klopfendes Herz. Es war dunkel, nur vage hoben sich die Konturen der Regale und seines Schreibtisches von der Umgebung ab. Regen prasselte gegen die Butzenscheiben seiner Kammer. Was hatte ihn geweckt? Er entzündete eine kleine Lampe, die auf seinem Nachttisch stand und schwang seine Beine aus dem Bett. Rasch zog er sich an und verließ sein Zimmer. Im Schloss war es gespenstisch ruhig, der Gang lag in Dunkelheit, und doch spürte er, dass etwas nicht stimmte. Er wollte nach Aidan sehen, fand dessen Zimmer jedoch leer vor, die Tür stand offen. Der Raum sah aus, als ob ein Wirbelsturm darin gewütet hätte, auch das Bettzeug war zerrissen. Ein einzelner Schrei durchbrach die Stille, so voller Verzweiflung und Todesangst, dass Valerius das Blut gefror. Sofort stürmte er aus dem Zimmer. Er hetzte den Korridor zum Empfangssaal hinunter und fand die Flügeltüren zerborsten und schief in den Angeln hängend. Die schweren Holztische waren umgeworfen. Durch das zerborstene Fenster wehte kalter Wind herein, der die Vorhänge zum Flattern brachte. Auf dem regennassen Parkett erkannte Valerius verwischte Spuren, die aus der Halle hinaus ins Freie führten. Er eilte nach draußen und wäre fast über einen am Boden liegenden Körper gestolpert. Ein kurzer Blick zeigte ihm, dass es Celerion war, der blutüberströmt und mit toten Augen dalag. Valerius schloss die Lider des Toten und erbat stumm die Aufnahme der Seele ins Reich der Toten. Vom Waldesrand ertönte ein weiterer Schrei. Rasch sprang der Gelehrte auf und eilte den Kiespfad hinab. Die Steine knirschten unter seinen Sohlen, sein Atem hinterließ feine weiße Wölkchen. Inzwischen hatte der Regen aufgehört und der Himmel riss mehr und mehr auf. Das fahle Licht der Gestirne beleuchtete den schmalen Pfad, der tief in den Wald führte. Im Schein der Lampe erkannte der Animagus immer wieder blutige Abdrücke an der Rinde der Bäume und auf den Blättern der Büsche. Keuchend erreichte er den kleinen Bachlauf, der sich durch die Ländereien des Fürstentums wand. Im Uferschlamm waren die Spuren verschiedenster Tiere zu erkennen. Dem aufmerksamen Blick Valerius‘ entgingen auch die Stiefelabdrücke nicht. Er folgte ihnen und kam an eine Stelle, an der der Boden aufgewühlt war. Die Pfotenabdrücke eines außergewöhnlich großen Wolfes hatten sich tief in das weiche Sediment gegraben. Auch auf dem Boden befand sich Blut. Hatte hier ein Kampf stattgefunden? Angst um seinen Schützling griff wie eine kalte Faust nach seinem Herzen und presste es zusammen. Eine laute Stimme, die die Stille im Wald durchbrach, wies Valerius den Weg. Mit schmerzenden Lungen und rasselndem Atem erreichte er die Lichtung mit der Eiche. Im Schein des Mondes gewahrte er Geralf, der sein langes Schwert auf einen Wolf richtete. Das Tier lag zusammengekauert zu Füßen des Mannes, den Blick zum Adeligen erhoben.

      „Haltet ein!“, rief Valerius und stürmte auf die beiden zu.

      Überrascht fuhr der Fürst herum. Nasse Strähnen klebten in seinem Gesicht, Wahnsinn loderte in seinen Augen.

      „Mischt Euch nicht in meine Angelegenheiten.“ Nur schwer kamen die Worte über Geralfs Lippen, begleitet vom Gestank nach Wein. Er hob das Schwert und wollte den Wolf mit einem Hieb töten, doch Valerius warf sich dazwischen und fing den Schwertstreich ab. Ein greller Schmerz durchzuckte seinen Arm. Er sank auf die Knie herab und legte eine Hand auf die Schulter des Wolfes. Das schwarze Fell war nass, und als er die Hand wieder hob, klebte Blut daran. Er strich dem Tier über die Schnauze und ein bläuliches Leuchten erstrahlte.

      „Das ist Euer Werk“, brüllte der Fürst und hob das Schwert zum erneuten Stoß.

      „Nein, es ist das Eure“, erwiderte Valerius und richtete sich mühsam vor dem Wolf auf, um ihn zu schützen.

      Die Klinge durchbohrte den Animagus und ein jäher Schmerz ließ ihn aufkeuchen. Er sank in sich zusammen, fühlte das warme Blut aus der Wunde rinnen. Der Fürst ließ das Schwert los und taumelte zurück, Entsetzen in seinen Augen. Nur noch am Rande bekam Valerius mit, wie der Wolf sich auf die Hinterbeine kämpfte, den nun wehrlosen Fürsten ansprang und sich knurrend in ihn verbiss. Eine eisige Kälte breitete sich in Valerius‘ Leib aus, jeder Herzschlag in seiner Brust war eine einzige Qual. Wie durch Nebel sah er, wie der Wolf von dem leblosen Fürsten abließ und den Blick seiner blauen Augen auf den Gelehrten richtete. Ein leises Winseln entrang sich seiner Kehle und mit einem Satz war er bei ihm. Valerius spürte, wie er hochgehoben wurde und seine Hände krallten sich in das weiche Brustfell.

      „Bring mich zu der Eiche“, brachte er röchelnd hervor.

      Auf den Hinterbeinen gehend, trug der Werwolf den Gelehrten zum Fuße des großen Baumes. Dort setzte er ihn sanft auf den Boden. Schwach hob der Animagus die Hand und der Wolf legte seine Wange hinein, schaute ihn aus traurigen Augen an. „Der Tiergeist, der bei deiner Geburt in dir zurückblieb, ist nun durch des Fürsten Fluch erwacht, du musst lernen, damit zu leben. Die Wolfsseele ist nun ein Teil von dir und wird dich beschützen. Da ich es nicht mehr kann …“ Valerius‘ Hand glitt vom weichen Fell des Wolfes und ein letzter rasselnder Atemzug entwich seinen Lippen, ehe sich die Welt um ihn herum in vollkommener Schwärze verlor.

      Der Werwolf legte die Vorderpfoten um den leblosen Körper seines Lehrmeisters, ein klagendes Heulen entwich seinen Lefzen. Langsam schrumpfte der Leib des Mischwesens, das Fell fiel kleinen Staubpartikeln gleich, herab und das Heulen ging in einen Schrei voller Trauer und Verzweiflung über. Aidan klammerte sich an Valerius, der wie ein Vater für ihn gewesen war und drückte sein tränenüberströmtes Gesicht an dessen Brust. Doch dieses Herz würde nie wieder schlagen.

      Tabea Petersen Nach dem Sturm

      Hat der Sturm nachgelassen? Aryonna kommt es so vor, doch vielleicht hat das Tosen nur ihre Sinne abgestumpft. Der Sturm durchdringt nicht nur die Lagen ihrer Kleidung. Nein, das klagende Heulen scheint bis in ihre Gedanken vorzudringen und sie zu lähmen, bis Aryonna nichts anderes mehr tun kann, als steif und teilnahmslos auf dem Kutschbock zu hocken und – die Augen gegen die herumwirbelnden Schnee- und Eiskristalle zusammengekniffen – geradeaus zu starren. Ihre Kräfte reichen gerade noch, um mit beinahe gefühllosen Fingern die Zügel zu umklammern. Die Gestalt des mageren Pferdchens, das tapfer den alten Marketenderwagen durch die unwirtliche Schneewüste zieht, ist vor ihr zu einem vagen, dunklen Umriss verschwommen. Auch die Alte, die zusammengekauert neben ihr auf dem Kutschbock sitzt, erahnt Aryonna mehr, als dass sie sie sieht. Wie lange sind sie nun schon unterwegs, sind es Stunden oder nur Minuten? Aryonna weiß es nicht. Vielleicht hat die Alte ja recht, und es ist tatsächlich aussichtslos, bei diesem Wetter hier draußen nach einem lebenden Menschen, noch dazu einem Kind, zu suchen. Doch Aryonna schiebt den Gedanken beiseite. Sie beißt sich auf die vom Frost rauen Lippen, bis sie Blut schmeckt, und starrt weiter vorwärts. Zwingt ihre Augen, das Gewimmel der Flocken zu durchdringen und den schneebedeckten Boden abzusuchen. Sie darf den Jungen nicht auch noch verlieren. Er ist nur ein dürrer, zerlumpter Betteljunge, diebisch und frech obendrein, aber sie hat sonst niemanden mehr, der zu ihr hält. So sehr Aryonna sich auch zur Konzentration zwingt – sie kann nicht verhindern, dass das stete Getöse des Sturms und die unablässig fallenden Schneeflocken sie dösig machen, sodass ihre Gedanken abzuschweifen beginnen. Was hat sie getan, dass alle Menschen, die ihr etwas bedeuten, sie nach und nach verlassen?

      Die Mutter war eine Heilerin. Seit frühester Kindheit hatte Aryonna von ihr die Namen der Pflanzen, die im Gebirge wuchsen, und ihre Heilkräfte gelernt. Auch die Pflanzen des Marschlandes und der fernen Küstenregionen zeichnete die Mutter für Aryonna auf kleine Stücke gepresster Baumrinde und nannte ihre Namen. Die Mutter kannte sie alle, denn sie selbst war in der Hauptstadt des Neu-Nordischen Reiches an der Küste geboren und aufgewachsen. Über ihre Kindheit oder ihre Familie sprach die Mutter nie, doch Aryonna verstand, dass sie reich gewesen sein musste. Ob sie vielleicht sogar eines jener Kinder gewesen war, die als besondere Ehre bei einer feierlichen