Volkmar Kuhnle

Tod des Helden


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Tagen musste sie sich zu jedem Schritt, jeder Bewegung zwingen. Erfrieren täte nicht weh, sagte man. Wenn sie sich also einfach irgendwo auf die gefrorene Erde fallen ließ, liegenblieb und nie wieder aufstand, wem läge etwas daran? Allein der Gedanke an den Vater trieb sie weiter an. Ob er noch am Leben war? Ja, er musste leben, irgendwo dort in der Welt jenseits der Berggipfel. Aryonna musste ihn finden. Ab und zu glaubte sie, in einem Gebüsch in der Nähe ein Tier rascheln zu hören. Irgendwann ließ sich das Gefühl, dass sie beobachtet wurde, nicht mehr abschütteln. War es ein Wolf oder Schakal, der auf eine leichte Beute lauerte? Der sich dichter und dichter anschleichen würde, bis sie irgendwann zu erschöpft war, um sich gegen ihn zur Wehr zu setzen? Unwillkürlich tastete Aryonna nach dem Griff des Messers an ihrem Gürtel. Die Erschöpfung war vergessen, sie würde sich nicht kampflos in ihr Schicksal fügen. Als es ihr schließlich gelang, ihren Verfolger zu überwältigen, hätte sie vor Erleichterung beinahe laut aufgelacht. Was da unter ihr auf dem harten Boden lag und sich in ihrem Griff wand, war kaum mehr als ein Kind: Ein Junge, vielleicht zehn oder elf Jahre alt, zerlumpt und derart schmutzig, das Aryonna kaum etwas darüber hätte sagen können, wie seine Gesichtszüge aussahen oder welche Farbe sein Haar haben mochte. Einzig die dunklen Augen, die in dem mageren Gesicht unablässig hin und her huschten, waren deutlich zu erkennen. Sie erinnerten Aryonna an ein kleines Tier, ein Frettchen vielleicht oder ein Wiesel.

      „Au!“

      Einen Augenblick lang nur war Aryonna unaufmerksam gewesen, weil sie den Jungen genauer betrachtete, doch diese Zeit hatte ausgereicht, dass er ihre linke Hand zu packen bekam und seine spitzen Zähne in die Daumenwurzel grub. Mit Mühe gelang es Aryonna, ihrem ersten Impuls zu widerstehen und nicht mit dem Messer, das sie noch immer in der geballten Rechten hielt, auf das Kind einzustechen. Grimmig fuhr sie dem Knaben stattdessen mit Handrücken und Fingerknöcheln ins Gesicht, während sie mit den Schenkeln weiterhin seinen dürren Körper fest an den Boden drückte. Der Junge duckte und wand sich. Gleichzeitig stieß er ein schrilles, zischendes Geheul aus, in dem Aryonna einzelne Schimpfwörter ausmachen konnte.

      „Halt den Mund!“, herrschte sie ihn an. „Ich lasse dich los und tue dir nichts, aber du darfst nicht davonlaufen. Und wehe, du versuchst, mich zu bestehlen!“, setzte sie hinzu, die abschätzenden Blicke des Knaben deutend, mit denen er ihre Kleidung und das Messer in ihrer Hand musterte.

      Wenig später hatte der Junge sich aufgerappelt, saß neben ihr am Feuer, und sie teilten die karge Mahlzeit, die Aryonna aus in der Glut gegarten Wurzeln zubereitet hatte. Dann fragte sie den Jungen nach seinem Namen.

      „Ratte“, erwiderte er.

      Sie sah ihn stirnrunzelnd an. „Ratte? Das ist doch kein Name! Wer nennt dich denn so?“

      „Jeder“, war die gleichmütige Antwort. „Und wenn es ohnehin alle sagen, kann ich es auch selbst tun. Ratten sind schlau“, setzte der Betteljunge trotzig hinzu.

      Aus den Erzählungen des Jungen, der unter der Einwirkung von Nahrung und Wärme recht gesprächig wurde, erfuhr Aryonna, dass das Winterquartier der Rebellen aus den Bergen gar nicht weit entfernt lag, und dass Ratte ein Späher und Spurenleser war. Zumindest hielt er sich selbst dafür, und es mochte wohl stimmen, dass die Krieger ihn in ihrer Nähe duldeten, weil er ihnen gelegentlich Botendienste leistete.

      „Dann kennst du vielleicht auch ...“ Aryonna nannte zögernd den Namen ihres Vaters und hielt gespannt die Luft an.

      „Käpt'n Alessandro? Klar, wer kennt den nicht“, sagte der Junge großspurig. „Im Moment haben sie kein funktionierendes Luftschiff, aber wenn es irgendjemand schafft, aus den Überresten der verunglückten Schiffe wieder eins flott zu kriegen, dann er. Doch sag mal …“ Mit einem Mal funkelten die Augen des Jungen Aryonna misstrauisch an. „Was willst du vom Käpt'n?“

      Die Erleichterung darüber, dass ihr Vater am Leben und gesund war, hatte Aryonna einen Augenblick lang abgelenkt. Was sollte sie dem Jungen sagen, sollte sie sich als Tochter des Befehlshabers zu erkennen geben? Aber würde man ihr überhaupt glauben und sie zu ihrem Vater vorlassen? Während sie noch überlegte, schien der selbst ernannte Späher bereits eigene Schlüsse gezogen zu haben.

      „Wenn du jemandes Mätresse werden willst, biste bei ihm falsch. Der Käpt'n nimmt sich nie 'ne Liebste. Der hat Frau und Kinder zu Hause, sagt man – obwohl das die meisten Männer nicht abhalten würde. Du könntest es bei einem von den anderen probieren, da kannste aber nicht wie 'ne Landstreicherin rumlaufen. Komm!“

      Aryonna blieb keine Zeit mehr, den Jungen von dem Glauben abzubringen, sie wolle im Austausch für Schutz und Nahrung ihren Körper verkaufen. Wenn sie nicht ihre einzige Informationsquelle verlieren wollte, blieb ihr nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.

      Die flache, halb verfallene Holzhütte am Ufer eines kleinen Baches, zu der der Junge Ratte Aryonna führte, erschien ihr im ersten Moment wie aus dem Boden gewachsen zu sein. Dann jedoch erkannte sie, dass das Häuschen Räder hatte. Es war ein alter Marketenderwagen, neben dem in einigem Abstand ein mageres Pferd graste. „Verschwinde, habe ich gesagt!“ Die kreischende Frauenstimme, die aus der Hütte drang, ließ Aryonna zusammenfahren.

      „Wenn du was zu essen willst, verdiene es dir. Gebettelt wird nicht bei der alten Marja!“ Der Junge jedoch huschte ungerührt hinein.

      Wie alt die Frau war, der Aryonna wenig später gegenüberstand, vermochte sie nicht zu sagen. Krummgebeugt und dürr war sie, das dunkle Haar von grauen Strähnen durchzogen. Ihre Stimme glich dem Gekrächz einer Krähe, und wie ein Vogel neigte auch die Alte den Kopf erst zur einen Seite, dann zur anderen, während sie Aryonna aufmerksam beäugte.

      „Was willst du im Rebellenlager?“, fragte sie. „Den Bauch voll und eine warme Lagerstatt, so wie alle?“

      Aryonna trat einen Schritt zurück, um aus der Reichweite der Klauenfinger zu kommen, mit denen die Frau prüfend über ihre Kleidung, und ihr Gesicht strich.

      „Ich muss den Kapitän sprechen, es ist sehr wichtig!“, erklärte sie und hoffte, dass ihre Stimme dabei fest klang. Die Alte jedoch lachte so heftig, dass ihre dürre Gestalt schwankte wie in einem plötzlichen Sturm.

      „Den Kapitän will sie sprechen. Wichtig, soso! Und du denkst, dass jeder dahergelaufene Bettler einfach so ins Lager spazieren kann? Das haben andere vor dir probiert, glaube mir!“ Im Nu war die Alte ernst geworden. Aryonna gab sich Mühe, ihrem Blick standzuhalten.

      „Wenn es tatsächlich so wichtig ist, wie du sagst, will die alte Marja dir einen Rat geben: Du scheinst schon eine Weile in den Bergen unterwegs zu sein, und da du bis hierher überlebt hast, bist du weder dumm noch schwach. Das Recht, den Kapitän zu sprechen, musst du dir verdienen, und das kannst du am besten, wenn du im Kampf deinen Mann stehst. Es haben schon Mädchen versucht, in Verkleidung der Rebellenarmee beizutreten – und mancher ist es gelungen.“

      So kam es, dass Aryonna der Alten ihre Kleider, die der sehnigen alten Frau wohl passen mochten, als Bezahlung für Männerhosen, Wams und Fellumhang überließ. Die erhandelten Sachen waren verschlissen und nicht sauber, aber sie hielten warm. Aryonnas Kopf und ihr Nacken jedoch fühlten sich seltsam nackt und verwundbar an ohne den schweren dunklen Zopf, den die Marketenderin ihr mit einem kurzen, gnadenlosen Ruck abschnitt. „Den werd' ich behalten, vielleicht bringt er mir irgendwann ein paar Münzen ein. Schade, dass er nicht blond ist. Die feinen Damen aus den Küstenstädten geben ganze Vermögen aus, um ihre Haare aufzuhellen – blond wie die Hofdamen des Kaisers.“ Erneut brach die Alte in ein meckerndes Lachen aus. „Obwohl die seit Jahren keiner mehr zu Gesicht bekommen hat, genauso wenig wie den Kaiser selbst. Wer weiß, vielleicht sind sie längst alle tot.“

      Doch der Krieg ging weiter, so oder so. Aryonna fragte sich in den kommenden Wochen wieder und wieder, ob es die richtige Entscheidung gewesen war, dem Rebellenheer beizutreten. Sicher, sie war nicht mehr allein, und sie hungerte auch nicht. Die Tage waren angefüllt mit harter Arbeit, und die Männer stellten ihr kaum Fragen. Mit spürbarem Vorbehalt, aber ohne offene Feindseligkeit, hatten sie sie in ihrer Mitte aufgenommen, nachdem die alte Marja ihr das Losungswort verraten hatte, das sie benötigte, um ins Lager eingelassen zu werden. Sie ließ sich Yann nennen, brauchte aber darüber hinaus kaum etwas von sich