Volkmar Kuhnle

Tod des Helden


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sie zum Küchendienst eingeteilt worden, und die anderen fanden schnell heraus, dass sie selbst aus dem kärgsten Proviant – denn jetzt im Winter musste fast alles, was die Rebellen aßen, zuvor aus den Transporten der kaiserlichen Armee entwendet werden – recht schmackhafte Mahlzeiten zuzubereiten verstand. Bald war sie zum Lagerkoch aufgestiegen, und ab und an ernannte sie den Jungen Ratte, der stets in der Nähe des Lagers herumlungerte, zu ihrem Helfer. Auch das war bei ihren Kameraden zunächst auf Ablehnung gestoßen. Man warnte sie vor der alten Marja: „Die Leichenfledderin hat mehr von unseren Männern auf dem Gewissen als so mancher kaiserliche Soldat, und ihre Brut wird kaum besser sein“, hieß es. „Sobald einer auf dem Schlachtfeld liegen bleibt, stürzen sie sich auf ihn, und wenn er noch nicht ganz tot ist, helfen sie nach. Die klauen wie die Raben.“ Da aber gerade Rattes unbestrittenes Talent als Dieb bei der Nahrungsbeschaffung von Vorteil war, ließ man den Jungen schließlich gewähren.

      Unter den geschickten Händen der Arbeiter nahm das Luftschiff mehr und mehr Gestalt an, und eines Abends brach der Kapitän mit einigen Männern zu einem Probeflug auf. Unter dem Jubel der Zurückbleibenden erhob sich das Schiff wie ein stählerner Greifvogel in die Lüfte, und Aryonna spürte die alte Sehnsucht in sich aufsteigen, als sie ihm nachsah. Während sie und der Junge Ratte zusahen, wie in der Abenddämmerung die letzten Vorbereitungen für den morgigen Großangriff getroffen wurden, hörte Aryonna in Rattes Stimme dieselbe Sehnsucht:

      „Dich nehmen sie doch mit, oder? Kannst du nicht dafür sorgen, dass ich auch mitkomme?“

      „Ich werd' mich hüten“, fuhr Aryonna den Jungen schärfer als beabsichtigt an. „Du bleibst schön hier!“ Nein, bei allem Fernweh: Ein Kind hatte an einem Kampfplatz nichts zu suchen.

      „Du kannst mich nicht zwingen!“, begehrte der Junge auf. „Tu bloß nicht so, als hättest du mir irgendwas zu sagen. Sonst könnte ich den anderen ja auch etwas über dich erzählen. Was du unterm Hemd hast, zum Beispiel.“ Rattes Stimme hatte einen lauernden Unterton angenommen, und Aryonna sah den Jungen, der ihr längst zum Freund geworden war, erschrocken an. Das würde er nicht tun! Oder? Aber allein das Wissen, dass er es könnte – ob absichtlich oder nicht – ließ sie einlenken. Er hatte ja recht, sie hatte ihm im Grunde nichts zu befehlen. Hatte er denn, genau wie sie, sonst niemanden?

      „Sag mal, stimmt es, was die Männer sagen?“, fragte Aryonna vorsichtig. „Dass die alte Marja in Wahrheit deine Mutter ist?“

      „Phh!“ Der Junge spuckte verächtlich aus. „Meine Mutter ist tot.“

      „Meine auch“, sagte sie versöhnlich.

      Die Stimmung unter den Männern am Lagerfeuer war von einer lärmenden Ausgelassenheit, die Aryonna frösteln ließ. War es immer so vor einem Kampf? Feierten die Männer umso lauter, weil sie ahnten, dass dieser Abend für einige von ihnen der letzte auf dieser Welt sein würde?

      „He, Yann“, rief einer leutselig und knuffte Aryonna gegen die Schulter. „Freuste dich auf morgen, oder haste Schiss? Haste daheim in deinem Dorf vielleicht schon eine Liebste, die sich die Augen nach dir ausheult?“

      „Nee!“, fuhr Aryonna auf. „Darauf kann ich gut verzichten, Liebe bringt doch nichts als Ärger.“

      Die Männer um sie herum lachten dröhnend: „So ein Grünschnabel! Noch keine Bartstoppel im Gesicht, aber will schon über die Liebe Bescheid wissen.“ Selbst der Kapitän, ihr Vater, stimmte mit in das Gelächter ein. Trotzig wandte Aryonna sich ab und rollte sich in ihre verschlissene Schlafdecke ein. Genauso hatte er auch bei seinem Besuch im Frühling über sie gelacht, hatte sie aufgezogen und nach der Liebe gefragt. Ihrer Mutter jedenfalls hatte die Liebe nur Armut und Tod gebracht, so viel wusste Aryonna. Und was bedeutete Liebe schon für einen Mann? Ihr Vater hatte Aryonna bisher kaum eines Blickes gewürdigt, nachdem man sie ihm als neuen Rekruten vorgestellt hatte. Weder ihr Gesicht noch ihre Stimme hatte er erkannt, und selbst als sie den Namen ihres Dorfes nannte, hatte Aryonna in seiner Miene vergeblich nach irgendeiner Regung gesucht. Kamen denn so viele junge Männer zu ihm, fielen sie so schnell und waren vergessen, dass einer mehr oder weniger keine Rolle mehr spielte? Hatte er keinen Gedanken übrig für die Familie, die er verlassen hatte? Wie so oft in den letzten Wochen musterte Aryonna den Kapitän aus den Augenwinkeln. Irgendwann würde sie ihm offenbaren müssen, wer sie war und was mit ihrer Mutter und ihrem kleinen Bruder passiert war. Doch würde es ihn überhaupt noch kümmern? Erinnerte er sich an jenen Abend, an dem er vom Frieden gesprochen hatte? Sie wusste es nicht. Schweren Herzens schloss sie die Augen. Ratte lag zusammengerollt neben ihr und rutschte, Wärme suchend, im Schlaf dichter und dichter an sie heran. Sie ließ ihn gewähren. Im Traum war sie wieder daheim, draußen vor ihrer Hütte, und sah einem kleinen Jungen zu, wie er übermütig mit der Ziege um die Wette tollte. Als sich das Luftschiff am nächsten Morgen aus dem frostigen Dunst erhob, der noch über den Bergwiesen lag, spürte Aryonna dieselbe Mischung aus Erwartung und Furcht wie am Abend zuvor. Sie hatte Ratte nicht davon abhalten können, sich ebenfalls an Bord zu schleichen, und die Männer waren viel zu beschäftigt, um viel Notiz von ihm zu nehmen. Jeder andere schien seinen Platz genau zu kennen. Während die Armbrust, mit der Aryonna mit wenig Erfolg das Schießen geübt hatte, sich in ihren Händen noch immer kalt und fremd anfühlte, schienen die Waffen, die die anderen Männer trugen, regelrecht mit ihren Eigentümern verwachsen zu sein. Ja, die Finger des Kapitäns umschlossen das mächtige Steuerrad, als sei das blankpolierte Holz lediglich eine Verlängerung seiner Hände. Seine Miene war reglos wie die steinernen Felswände, die vor ihnen aufragten, während er schweigend in den Morgennebel spähte. Wenn der Dunst sich erst verzogen hatte, würde es ein klarer Wintertag werden, wusste Aryonna – ein Tag, den man schön nennen könnte.

      Sie waren erwartet worden. Anders konnte Aryonna es nicht erklären, dass die Stellung der kaisertreuen Soldaten, die sie angriffen, vor Geschäftigkeit nur so summte, kaum dass der erste Schuss gefallen war. Sie wirkte wie ein einziges, großes Lebewesen. Ein stählerner Koloss, der sein riesiges Maul aufsperrte, Geschützfeuer und mit Enterhaken besetzte Stahltrosse ausspie. Nur der Geschicklichkeit des Kapitäns war es zu verdanken, dass das Luftschiff keinen Volltreffer erlitt.

      Später vermochte Aryonna nicht zu sagen, wie lange der ungleiche Kampf gedauert hatte. Irgendwie war es den Rebellen gelungen, dem drohenden Absturz zu entgehen und sich zurückzuziehen. Doch das Schiff war erneut schwer beschädigt, die Mannschaft bis auf einige Ausnahmen verwundet oder tot. Aryonna gehörte zu den wenigen, die unverletzt geblieben waren. Sie war nie dazu gekommen, ihre Armbrust abzufeuern. Stattdessen hatte sie, als der erste Kampfgefährte an ihrer Seite getroffen zusammensank, ohne nachzudenken die Waffe von sich geschleudert und war dem Verletzten zu Hilfe geeilt. Danach war der Strom derjenigen, die ihren Beistand brauchten, nicht mehr abgerissen. Der Junge Ratte und ein paar andere freiwillige Helfer hatten, ohne zu fragen, Aryonnas Anweisungen befolgt, und so hoffte sie, dass es ihr gelungen war, dem Tod zumindest einige seine Opfer abzuringen. Vielleicht war sie doch eine Heilerin. Nachdem das Luftschiff mehr schlecht als recht gelandet war, musste sich selbst der Kapitän eine Schusswunde behandeln lassen. Als Aryonna die Wunde ihres Vaters versorgte, war es ihr, als musterte er sie eingehender als sonst, doch sie hatte kaum Zeit, seinen Blick zu erwidern. Es gab noch so viele andere, die auf Hilfe warteten. Erst als sie halb ohnmächtig vor Erschöpfung am Feuer kauerte und ihr irgendjemand einen Kanten Brot in die Hand schob, kam Aryonna dazu, an den Jungen zu denken. Ratte, wo war er nur? Auf dem Schiff war er an ihrer Seite geblieben, um zu helfen, doch dann hatte sie ihn aus den Augen verloren. Auch unter den Verwundeten konnte sie ihn nirgends entdecken. War er am Ende während der harten Landung über Bord gegangen? Von den Männern, die Aryonna fragte, hatte ihn keiner gesehen, doch die machten nur wegwerfende Handbewegungen: Sie sollte sich keine Sorgen machen, dem kleinen Strauchdieb passierte schon nichts. Doch trotz lähmender Müdigkeit kam sie nicht zur Ruhe. Schließlich schlich sie sich hinaus, kämpfte sich gebeugt gegen den zunehmenden Schneesturm vor und fand den Weg zum einzigen Ort, an dem sie auf Unterstützung hoffen konnte. Ihre erste Hoffnung, den Jungen schlafend in Marjas Marketenderwagen vorzufinden, erfüllte sich nicht. Nein, die Alte hatte ihn nicht mehr gesehen, seitdem sie ihm vor ein paar Tagen dringend davor gewarnt hatte, sich freiwillig in den Kampf zu stürzen. Ihn jetzt in diesem Sturm zu suchen, wäre Wahnsinn, weigerte sich die alte Frau zunächst: „Er wollte nicht auf mich hören, also muss er zusehen, wie er zurechtkommt, basta!“