Volkmar Kuhnle

Tod des Helden


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doch ihr Blick zwang die keifenden Proteste der Alten nieder, bis Marja sich schließlich in ihren Fellumhang hüllte und Aryonna nach draußen folgte, um das Pferd anzuspannen.

      „Ich hätte auf sie hören sollen“, denkt Aryonna mutlos. „Sie hatte Recht, wir setzen nur vergeblich unser Leben aufs Spiel.“ Ihre Erleichterung darüber, dass der Sturm tatsächlich nachgelassen hat, ist schnell von neuerlicher Angst verdrängt worden: Das Knacken des Eises, das sich unter den Rädern ihres Wagens bewegt, übertönt längst das Heulen des Windes. Sie müssen umkehren, wenn sie nicht in dieser unwirtlichen Landschaft umkommen wollen. Doch gerade als Aryonna sich mühsam auf dem Kutschbock aufrichtet, um die Zügel anzuziehen und das treue Pferdchen zum Einlenken zu bringen, sieht sie es: Es ist nur eine kleine Erhöhung inmitten des Schnees, die ein verschneites Grasbüschel hätte sein können – könnte Aryonna nicht den Lauf der Armbrust erkennen, der daraus emporragt. Sie hatte den Kopf geschüttelt, als Ratte die Waffe anhob, die sie selbst achtlos beiseite geschleudert hatte, um sich an Bord des Luftschiffes um die Verletzten zu kümmern. Sie war viel zu schwer für ihn, und es würde wohl noch Jahre dauern, bis er sie richtig spannen, geschweige denn damit schießen konnte. Dennoch hat er die Waffe nicht mehr aus der Hand gelegt, hat sie selbst dann noch bei sich getragen, als er hilflos im Schnee umherirrte und schließlich vor Erschöpfung zusammensank. Doch er kann noch nicht lange hier gelegen haben. Den Göttern sei Dank, es ist noch Leben in ihm, stellt Aryonna fest, als sie unter der steifgefrorenen Kleidung seinen Herzschlag ertastet. Sie hüllt ihn in ihren eigenen Umhang und trägt ihn zum Kutschbock, wo er – so hofft sie – zwischen ihr selbst und der Alten sitzend schon ein wenig Wärme bekommt, bis sie es zurück ins Lager schaffen. Doch sie sind noch nicht weit gekommen, als ein neuerliches Knacken, lauter und schärfer als zuvor, wie ein Schuss die Nacht durchdringt. Unerbittlich neigt sich der Wagen zur Seite, und unter den Rädern dringt schwarzes Wasser hervor. Das Pferdchen wiehert und bäumt sich auf, doch es gelingt ihm nicht, den Wagen aus dem Eisloch zu zerren, das schnell größer wird. Aryonna ist vom Kutschbock gestolpert, hat den Jungen über ihre Schulter gelegt, doch schon spürt sie, wie eisiges Wasser in ihre Stiefel dringt. Auch die Alte ist vom Bock gestiegen, hat von irgendwoher eine Axt, mit der sie sich an der Deichsel zu schaffen macht, um den Wagen loszuschlagen. Der Wagen ist verloren, vielleicht aber können sie das Pferd noch retten. Endlich gibt das Holz unter ihren Schlägen nach. Schon macht sie einen Schritt zur Seite, doch da bricht auch unter ihr das Eis. Aryonna gelingt es gerade noch, auf Knien liegend, den Arm der alten Frau zu packen, die binnen weniger Augenblicke in der schwarzen Tiefe zu versinken droht. Aryonna schwankt unter der doppelten Last. Eben noch hielt sie Marjas Arm, jetzt ist es nur das Handgelenk. Wenn sie mit beiden Händen zupacken könnte – doch dann müsste sie erst den Jungen loslassen.

      „Lass … mich. Nimm … das Kind. Das Pferd …“ mit einem Ruck hat sich die Alte von Aryonnas Hand gelöst. Einen Augenblick lang sieht Aryonna noch ihr Gesicht, bevor es vom dunklen Wasser verschlungen wird. Aryonna taumelt zurück. Keuchend richtet sie sich auf, schultert den noch immer reglosen Jungen und stolpert die wenigen Schritte zu dem Pferd, das treu stehengeblieben ist und sich willig den Jungen auf den Rücken laden lässt. Weiter geht es schwankend, Schritt für Schritt, doch irgendwann knicken die Hinterbeine des Pferdes ein. Einen Moment lang versucht es mit zitternden Flanken, sich aufzurichten, dann geben auch die Vorderbeine nach, und es sinkt zu Boden. Aryonna lauscht in die Dunkelheit, es ist völlig still. Haben sie das verräterische Eis hinter sich gelassen? Sie müsste den Jungen nehmen, müsste weitergehen. Aber als sie versucht, ihn vom Rücken des Pferdes zu heben, das sie mit seinen dunklen Augen scheinbar verständnisvoll ansieht, wollen die Füße ihr nicht mehr gehorchen. Ein paarmal noch versucht sie aufzustehen, doch irgendwann lässt sie sich nur gegen den am Boden ausgestreckten Bauch des Pferdes sinken, zieht den Jungen zu sich herab und bettet ihn zwischen sich und den noch warmen Pferderumpf. Ihr ist, als habe er sich unter ihren Händen bewegt. Vielleicht haben die Männer im Lager ja ihr Verschwinden bemerkt und suchen sie. Sie hat getan, was sie tun konnte. Was eine Heilerin tun muss.

      Es ist ein frostklarer Morgen, so still, als habe es nie einen Sturm gegeben. Aber auch der gestrige Tag war schön gewesen – heiter und sonnig, und doch angefüllt mit Leid und Tod. Binnen eines Tages hat Kapitän Alessandro die Hoffnung auf einen erfolgreichen Feldzug ebenso begraben müssen wie viele seine Kameraden. Es war ihre letzte Hoffnung. Sie sind nicht mehr genug Männer, um das Luftschiff wieder klarzumachen und einen neuen Vorstoß zu wagen. Und dennoch, nach all dem Unglück, ist es das rätselhafte Verschwinden des Rekruten Yann, das Kapitän Alessandro am meisten schmerzt. Er versteht selbst nicht wieso, doch er ahnt, dass der Junge, der nicht schießen konnte, aber wusste, wie man eine Wunde versorgt, ein Geheimnis verbarg. Nun wird er es vielleicht nie mehr lüften können. Während der Kapitän seine verbliebenen Männer mit barschen, verbissenen Befehlen wieder und wieder zur Suche antreibt, schüttelt er innerlich den Kopf über sich selbst.

       Vielleicht werde ich alt und sehe Gespenster, denkt er. Aber als der junge Rekrut gestern seinen verwundeten Arm verband, hätte er schwören können, dass es in seinen Augen blau aufgeblitzt hat.

      Kaum eine Stunde später hat der Kapitän Gewissheit: Die Männer haben die Reste des verunglückten Marketenderwagens gefunden und nicht weit entfernt den steif gefrorenen Leib des Pferdes. Sie sind zu spät gekommen. Die Augen so blau wie nur ein anderes Augenpaar, das der Kapitän je gekannt hat, starren blicklos in den bleichen Winterhimmel. Wie hat er so blind sein können, nicht zu durchschauen, dass jenes schmale, makellos glatte Gesicht das Antlitz eines jungen Mädchens ist? Wochenlang hat seine eigene Tochter bei ihm und seinen Männern gelebt. Doch er hat sie nicht erkannt, hat sie kaum eines Blickes gewürdigt – ebenso wenig wie den Betteljungen, der ihr wie ein Hund folgte. Der Junge jedoch lebt. Selbst als ihre Kräfte schwanden, hat Aryonna ihn mit ihrem eigenen Körper bedeckt und ihn so vor dem Erfrieren bewahrt. Auch später, als Aryonna im Lager aufgebahrt liegt, weicht das Kind nicht von ihrer Seite. Mit vor Angst geweiteten Augen schaut es zu Alessandro auf, als er fragt:

      „Wusstest du es?“

      „Dass sie ein Mädchen ist? Ja.“ Der Junge nickt zögernd.

      „Und sonst? Hat sie dir irgendetwas von ihrer Familie erzählt?“

      „Ihr Mutter ist tot, sagte sie“, flüstert der Junge. „Sie hatte noch einen Bruder, glaube ich. Aber der ist auch tot.“

      Alessandro muss die Augen schließen, um sich gegen den plötzlichen Schwindel zu wappnen, der ihn überfällt. Seine Frau, tot! Seine Kinder, die den Frieden kennenlernen sollten … Er hatte geglaubt, in den Bergen seien sie sicher. Hatte sich vorgegaukelt, sie würden auf ihn warten, wann immer er nach Hause kam. Was für ein Narr war er doch!

      „Oh, es ist alles meine Schuld!“ Das verzweifelte, atemlose Schluchzen des Jungen durchbricht das Schweigen. „Ich wollte doch nur ein Krieger sein! Aber dann bin ich über Bord gefallen und habe mich verlaufen. Irgendwann konnte ich nicht mehr weitergehen, doch als ich aufgewacht bin, lag ich neben dem Pferd, und sie war da. Ich wollte sie wärmen, aber das nützte nichts, mir war ja selbst so kalt!“

      Alessandro sieht den Jungen an: Mager ist er und schmutzig, verlaust und diebisch, und niemand nennt ihn je anders als Ratte. Dennoch ist er ein Kind. Der Junge windet sich unter dem prüfenden Blick des Mannes – des Anführers, den er in Alessandro sieht, und dieser schämt sich mehr als je zuvor.

      „Deine Schuld ist es nicht, höchstens meine“, murmelt er.

      „Dann lassen Sie mich bei Ihnen bleiben und kämpfen lernen?“ Den hoffnungsvollen Ausdruck, den das Gesicht des Jungen angenommen hat, kann Alessandro kaum ertragen. Nein, es kann nicht so weitergehen wie bisher. Er kann nicht zulassen, dass noch mehr Leben in sinnlosen Kämpfen verschwendet werden. Es muss einen anderen Weg geben. Ein Gedanke beginnt, in Alessandros Kopf Gestalt anzunehmen. Kräftig ist der Junge nicht, denkt er. Aber flink und aufgeweckt. Er wäre ein guter Spion.

      „Sag, bist du schon einmal in einer Stadt gewesen?“, fragt er. Der Junge schüttelt den Kopf.

      „Aber meine Gro... die alte Marja wollte im Frühjahr in Richtung Hauptstadt ziehen, um Handel zu treiben und Neuigkeiten zu erfahren“, ergänzt er hoffnungsvoll. „Sie meinte, man müsse endlich die Wahrheit über den