Stefan Högn

NESTOR


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alles zu erklären! Dieser blasse Mann von eben wird wiederkommen und dann …«

      Nestor fummelte wieder an den Knöpfen herum.

      »Braucht diese Maschine denn eigentlich Strom?«, wollte Lilly wissen.

      »Jede Menge! Die kann kaum genug davon bekommen.« Er klopfte vorsichtig auf den Bilderrahmen, aber es tat sich nichts.

      »Und woher kommt der Strom?«

      »Na aus der Steckdose, Lilly! So etwas wirst du doch wohl kennen.« Nestor war sich nicht mehr so sicher, ob es wirklich eine gute Idee war, ihr Gehirn nicht zu desorientisieren. Er kniete sich unter das Pult und suchte hilflos herum.

      »Dann würde ich das Ding auch mal ein stöpseln«, gab Lilly selbstbewusst zurück.

      »Wie bitte?«

      »Da rechts neben deiner Maschine liegt der Stecker, direkt neben der Steckdose.«

      Nestor fuhr hoch, stieß sich ganz fürchterlich den Kopf, sammelte sich kurz, lief rechts um die Maschine und … tatsächlich, dort lag der Stecker. Er musste durch den Blitzeinschlag aus der Wand geflogen sein. Er nahm ihn, untersuchte ihn kurz, stöpselte ihn ein und, als wenn nichts gewesen wäre, summte die Maschine wieder leise los und leuchtete sanft in einem hübschen hellblau – ganz genau wie vorher.

      Nigglepot stürzte auf das Pult zu, tippte in erstaunlicher Geschwindigkeit auf den Knöpfen herum, im Bilderrahmen erschien der alte Mann wieder, und Nestor rief hektisch: »Notfall, Rául! Zeitvektor auf dreißig Sekunden!«

      »Wie sie wünschen, Sir!«, antwortete Rául gelassen.

      Die Tür der Maschine öffnete sich ganz und Nestor drehte sich auf dem Weg hinein noch einmal zu dem Mädchen um. »Ich danke dir, Lilly! Wenn ich mehr Zeit hätte, würde ich dir jeden Wunsch erfüllen, aber ich muss weg. Leb wohl!« Dann ging er in die Maschine hinein.

      »Nimm mich doch mit!«, rief Lilly.

      »Warum eigentlich nicht?«, dachte Nestor. Oder hatte er es gesagt, denn schon einen Augenblick später stand die Chinesin neben ihm in der Maschine, und die Tür schloss sich mit dem hallenden Wuuusch.

      Nestor und Lilly wurden in dunkelblaues Licht getaucht, während eine metallische Stimme gleichmäßig rückwärts zählte: »Vier … drei … zwei … eins … null … Zeitvektor geschlossen!«

      Plimm!

      Die Lagertür öffnete sich, ein Halbvampir trat ein und starrte fünf Minuten lang in völlige Leere.

      II

      Seldom House

      Nachdem das dunkelblaue Licht erloschen war und die Türe sich mit ihrem Wuuusch wieder geöffnet hatte, trat Nestor aus der Maschine und sagte selbstsicher zu dem Mädchen: »Komm, Lilly! Du wirst staunen!«

      Nestor liebte es einzigartig zu sein.

      Und Lilly staunte tatsächlich. Sie befand sich nicht mehr in der Lagerhalle, sondern in einer Art Labor. Überall standen Maschinen von verschiedenster Art. Keine davon hatte sie jemals gesehen oder auch nur eine Ahnung, wofür sie gut sein sollten. Unsicher folgte sie dem ungewöhnlichen Mann.

      »Wer bist du? Wo sind wir? Was ist das alles hier und wie ist das alles möglich?«, wollte Lilly wissen.

      »Fragen über Fragen – wir haben genug Zeit dafür, unglaublich viel Zeit, mein Kind!«, gab Nestor eingebildet zurück.

      »Gerade eben hatten wir aber noch überhaupt keine Zeit, Nestor Nigglepot! Und nenn mich nicht mein Kind! Also, was ist hier los?« Lilly war ungeduldig und wollte noch weiter fragen, als sich eine Tür öffnete und ein älterer Mann eintrat. Offensichtlich war es Rául.

      »Hatten sie eine angenehme Reise, Sir?« Der Butler hielt kurz inne. »Oh! Wir haben Besuch? Soll ich ein zweites Teegedeck in den Salon bringen lassen?«

      »Nein, Rául, keinen Tee, es gab ein paar Probleme beim Einkaufen, nur Wasser für das junge Fräulein, Früchtekuchen und Sandwiches, ich nehme einen … Sherry«, antwortete Nestor Nigglepot leicht genervt.

      »Nun, Sir, ich habe vorsichtshalber First Flush Darjeeling Tee für sie besorgt. Das Wasser kocht bereits«, entgegnete der Butler.

      »Na gut. Kein Sherry, Darjeeling … besser als nichts.« So klang es, wenn Nestor Nigglepot frustriert war. »Möchtest du lieber Tee statt Wasser, Lilly?« Und so wiederum klang es, wenn er besonders weltmännisch tun wollte.

      »Tee und Antworten, bitte!« So klang übrigens Lilly, wenn sie langsam zickig wurde.

      »Wenn mir die Herrschaften bitte in den Weißen Salon folgen wollen …« Rául verließ durch dieselbe Tür das Labor, durch die er gekommen war, und Nestor Nigglepot folgte ihm. »Komm! Du wirst staunen!«

      »Muss ich das jetzt öfter?«, fragte Lilly.

      »Immer und immer wieder, meine Liebe!«, gab Nestor so dandyhaft zurück, wie er nur konnte.

      Als Lilly Foo den beiden durch die Tür folgte, betrat sie ein riesiges Gewächshaus, in dem die prächtigsten Blumen, Palmen und exotischsten Früchte wuchsen, die man sich nur vorstellen kann. Für Menschen die Pflanzen liebten, war dieser fast komplett aus Glas und Eisen gebaute Raum, ganz sicher das Paradies. Ihm schloss sich eine Bibliothek von der Größe einer Turnhalle an. Bücherregale standen dicht an dicht, vom Boden bis zur Decke. Es müssen Zehntausende Bücher gewesen sein.

      »Du liest aber viel, Nestor Nigglepot. Wieso verstehst du dann nichts von theoretischer Physik und Astronomie?«, wollte das Mädchen wissen.

      »Ich? Viel lesen? Unsinn!« Mit einer lässigen Handbewegung wischte er Lillys Frage einfach weg. »Alle diese Bücher sind etwas Besonderes! Wenn nicht einzigartig, dann zumindest sehr selten. Dort zum Beispiel …«, er zeigte nach rechts. »Alle Welt glaubt, es gäbe nur ein erhaltenes Exemplar des über tausend Jahre alten irischen Buchs Book of Kells. Sie irren. Dort steht mein Exemplar – im 9. Jahrhundert handgeschrieben in einem Kloster, nahe der Stadt Cork. Oder da …«, sein Blick wanderte nach links oben. »Dreiundzwanzig Gutenberg-Bibeln aus dem 15. Jahrhundert. Fast die ganze Auflage. Und direkt daneben: das einzige, ich wiederhole, das einzige, erhaltene Exemplar des Gutenberg-Kochbuchs. Außer uns weiß keiner, dass es das überhaupt gibt!« Nestor strahlte über das ganze Gesicht. Der Stolz quoll ihm beinahe aus jeder Pore. »Na ja … und der Rest ist halt auch so was: Unikate, handsignierte Erstauflagen-Exemplare, Folianten … Bücher eben.«

      »Sir, sie belieben zu untertreiben! Ihre Bibliothek ist mit Abstand, die wertvollste der Welt«, sagte der Butler antrainiert bewundernd und ging weiter voraus.

      »Vielen Dank, Rául, sehr liebenswürdig!«, entgegnete Nestor in lässiger Manier.

      Lilly bekam den Mund kaum zu. Als sie die Bibliothek verließen, kamen sie in einen langen Korridor mit hohen Wänden und vielen Türen an beiden Seiten. Zwischen den Türen und darüber hingen überall Bilder, zum Teil in schwülstigen goldenen Rahmen, zum Teil ungerahmt. Viele der Bilder waren offensichtlich Gemälde aus vergangenen Jahrhunderten und vereinzelt sehr groß – einige allerdings waren winzig. Andere Bilder hatten kein erkennbares Motiv, sondern bestanden aus wildem Gekrakel oder einfachen Farbflächen.

      »Interessierst du dich auch für Kunst, Lilly?«, wollte der merkwürdige Mann wissen.

      »Bisher habe ich mich eigentlich nur für mein Überleben interessiert«, antwortete sie mit ungläubigen Augen.

      »Das ist bestimmt auch ein schönes Hobby!« Nigglepot hatte gar nicht richtig zugehört. »Hier, ein Rembrandt, da … ein Chagall, Mondrian, Magritte, Picasso, Michelangelo, Dürer … und dort … ein da Vinci – schwierig zu bekommen. Der malt zu wenig und erfindet zu viel, vergeudet sein ganzes Talent für unnützes Zeug. Eine Schande, sage ich dir!«

      Er war kaum zu bremsen und zeigte von einem Bild zum nächsten, erzählte von verarmten Künstlern, die sich Ohren abschnitten und verrückten Künstlern, die zerfließende Uhren malten.

      »Du