Stefan Högn

NESTOR


Скачать книгу

Der Polizist putze sich laut vernehmlich die Nase und schaute ihn wieder lange finster an.

      »Hören sie … Herr Grafula … ich kann ihnen helfen, aber wenn sie nicht freiwillig mit mir zusammenarbeiten, und offen und ehrlich die Wahrheit sagen, kann ich sie auch zum Reden bringen lassen!«

      »Ich bin unsterblich …«, sagte Grafula.

      »Auf einmal geht es ja doch«, triumphierte Fazzoletti und hatte offensichtlich gar nicht verstanden, was ihm der kleine, fahle Mann, mit der kalten Stimme, da gerade gesagt hatte.

      »Ich wurde vor über 36.000 Jahren als Sohn eines Vampirs und einer Sterblichen geboren. Also bin ich ein Halbvampir, was bedeutet, dass ich nicht sterben kann, aber kein Blut trinken muss, ich kann bei Tageslicht überleben, aber meine Flugkünste als Fledermaus gleichen eher der eines Huhns.«

      »Aha.«

      »In all diesen Jahren ist mir besagter Nestor Nigglepot immer wieder begegnet. Damit muss irgendwann Schluss sein, sonst werde ich noch wahnsinnig!«

      »Sie sind auch schon ganz blass.« Fazzoletti schaute kurz zu ihm auf und band dann seine Schuhe zu. »Wenn man sie so sieht, möchte man gar nicht glauben, dass sie unsterblich sind … eher das Gegenteil. Aber, sie sind absolut sicher, dass sie unsterblich sind?«

      »Absolut!«

      »Könnte das jemand bezeugen, ihre Eltern zum Beispiel?«

      »Meine Mutter ist vor über 36.000 Jahren verstorben und meinem Vater wurde seine romantische Vorliebe für Sonnenaufgänge zum Verhängnis.« Grafula klang nur mäßig betroffen. Er hatte mit den Jahrtausenden gelernt privaten Schmerz zu verarbeiten.

      »Irgendwelche Nachbarn mit gutem Leumund?«

      »Leider nein.«

      »Irgendwelche Nachbarn mit schlechtem Leumund?«

      »Hören sie, Inspector!« Der Untote wurde nun unruhig. »Die Zeit drängt! Dieser Mann könnte inzwischen überall sein Unwesen weitertreiben.«

      »Was hat dieses Individuum denn verbrochen?« An gutem Willen mangelte es dem Inspector zwar erheblich, aber er vermochte die Vorschriften wenigstens einigermaßen einzuhalten.

      »Er ist verschwunden!«

      »Verschwinden ist im British Empire, einschließlich Hongkong, nicht verboten.« Fazzoletti war inzwischen genauso genervt wie sein Gegenüber. »Damit Scotland Yard aktiv wird, müssten sie schon ein bisschen mehr auf Lager haben. Hat er wenigstens einem Baby die Bonbons geklaut?«

      »Kennen sie sich mit theoretischer Physik und Astronomie aus?«

      »Nicht, das ich wüsste!«

      »Ich meine, verstehen sie etwas von Zeitabläufen?«

      »Dass schon«, entgegnete der Inspector. »Wenn sie nicht zügig etwas Stichhaltiges präsentieren, ist Ihre Zeit hier abgelaufen … Also?«

      »Ich will versuchen, ihnen ein Beispiel für seine gravierenden Einflüsse auf den Ablauf der Zeit zu geben.« Grafula stemmte seine Fäuste auf die Hüften. »Ich vermute, hätte Nestor Nigglepot im Jahre 1773 auf einer Tee-Party Samuel Adams und seine Freunde nicht mit dem Satz: Dann macht euch doch selbstständig, gegen die britische Krone aufgebracht, dann wären die USA heute kein unabhängiger Staat.«

      »Warum hätte er, das denn tun sollen?«, wollte Fazzoletti eher gelangweilt wissen.

      »Was weiß ich? Vielleicht wollte er die originale Unabhängigkeitserklärung haben?«

      »Schön und gut, aber ich fürchte, dass solche Gegebenheiten dennoch keine Verbrechen sind, und selbst wenn, wären sie vermutlich verjährt. Außerdem müssten sie ihr Anliegen, dann vermutlich an das Betrugs-Dezernat richten.«

      »Inspector! Wer weiß, was er jetzt schon wieder plant? Vielleicht wird durch sein Eingreifen China zur größten Wirtschaftsmacht auf diesem Planeten!«

      Das war eine unerwartete Wendung. Fazzoletti machte große Augen und sagte: »Gott bewahre!«

      Er griff in die oberste Schublade seines Schreibtischs und zog ein Formular hervor, das er unter Schwierigkeiten in die Schreibmaschine spannen wollte. Nach einigen Fehlversuchen kam er auf die Idee, zunächst sein Butterbrot von der Maschine zu entfernen, und erst dann den Bogen einzuziehen.

      Der Inspector tippte langsam suchend los. Nach einer Weile hielt er inne. »Tja, lieber Herr Grafula. Ich fürchte, mir sind da doch die Hände gebunden.«

      »Aber, warum?«

      »Weil sie kein Künstler sind!«

      »Das tut doch nichts zur Sache!« Grafula war fassungslos, fast hatte er die Staatsmacht soweit gehabt.

      »Leider doch. Ich darf das Feld Nachname auf diesem Formular nur dann leer lassen, wenn der Anzeigenerstatter, in diesem Fall also sie, Künstler ist.«

      IV

      Sofia

      Im Haus von Nestor Nigglepot gab es eigentlich nur eine wichtige Regel: Wenn man nicht wusste, wofür etwas gut war, ließ man am besten die Finger davon. Doch Lilly Foo war nicht nur schlau, sondern auch vorsichtig genug, um auf diese Einschränkung selber zu kommen. Aber, sonst gab es hier jede Menge zu entdecken!

      Scheinbar hatte dieser bemerkenswerte Mann so ziemlich jede wichtige Epoche der Menschheitsgeschichte besucht, um sich möglichst viele Besonderheiten, Schätze und Kostbarkeiten unter den Nagel zu reißen. Warum er das tat, war der Chinesin völlig unklar.

      Lilly wusste nicht, was sie von Nestor Nigglepot halten sollte, darum war ihre erste Adresse für wichtige Fragen sein Butler Rául. Obwohl der ständig irgendetwas zu erledigen hatte, nahm er sich immer Zeit, um ihr auf fast alles möglichst umfassend zu antworten.

      »Arbeiten sie eigentlich schon lange für Nestor Nigglepot, Herr Rául!«

      »Nennen sie mich bitte einfach nur Rául, junge Dame!«

      »Nur, wenn sie mich Lilly nennen!«

      »Gut Lilly, darauf können wir uns einigen«, war die Antwort. Und weiter: »Ich denke, ich habe Herrn Nigglepot kennengelernt, als ich so alt war wie du jetzt.«

      »Aber jetzt sind sie ein alter Mann … ähm, tut mir leid … ich wollte …« Lilly war verlegen.

      »Ich fürchte, du hast recht.« Rául lächelte sie an. »Aber ein Leben, hier in diesem Haus, kann recht anstrengend sein.«

      »Wieso? Hat Nestor Nigglepot sie zu irgendetwas gezwungen, zum Arbeiten, oder so etwas?«

      Lilly war wieder in Hab-Acht-Stellung, denn das Kinder zu etwas gezwungen werden konnten, davon wusste sie aus ihrem Kinderheim genug zu berichten.

      »Um Himmelswillen!« Jetzt musste Rául richtig lachen. »Nein, ganz sicher nicht. In diesem Haus kann dir nichts passieren. Eigentlich hast du sogar das große Los gezogen.«

      »Wieso eigentlich?«, wollte Lilly wissen.

      »Wenn du es lange genug mit Nestor Nigglepot aushältst, wirst du erkennen, was ich meine.«

      »Wie lange halten sie es denn schon mit ihm aus, Rául?«

      »Viel, viel länger, als ich heute alt aussehe«, war die mysteriöse Antwort.

      »Stimmt das mit dieser Zeitmaschine wirklich?« Das Mädchen wollte jetzt doch ein bisschen mehr erfahren.

      »Auf diese Frage darf ich dir nicht antworten, Lilly.«

      »Warum nicht?«

      »Weil ich es verboten habe!«, flötete es durch den Raum.

      Nestor Nigglepot stand plötzlich mit großer Geste da.

      »Das gehört zu unserem Wettkampf, meine Liebe!« Er verschränkte die Arme vor der Brust und grinste von einem Ohr zum anderen. »Du glaubst mir nicht. Das ist dein gutes Recht. Und mein gutes Recht ist – zumindest