Stefan Högn

NESTOR


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Empfangshalle des Anwesens, das den Namen Seldom House trug, wie sie aus dem nicht enden wollenden Vortrag von Nestor Nigglepot erfuhr. Zu beiden Seiten gingen geschwungene Treppen hinauf in die erste Etage, eine prachtvolle Eingangstür mit vielen kleinen Scheiben eröffnete einen Blick auf einen geschmackvoll gestalteten Vorplatz, der in einen schier endlosen Garten überging.

      Auch hier in der Halle waren viele Türen und Gemälde. Aber der absolute Hingucker stand genau in der Mitte. Unter einer großen Gewölbekuppel prangte auf einem Sockel eine steinerne Statue. Ein stehender weiblicher Engel, dessen Arme und Kopf offensichtlich abgebrochen, aber dessen Flügel imposant ausgebreitet waren, füllte den Raum mit seiner Erscheinung.

      »Dein Engel ist kaputt, Nestor Nigglepot!«

      »Das ist die Siegesgöttin Nike. Ich sah sie während eines Griechenland-Urlaubs und habe mich sofort in sie verliebt. Wir passen gut zusammen, oder?« Nestor suchte nach Bestätigung in Lillys Augen, fand aber keine. »Im Louvre steht nur eine Kopie von ihr … braucht aber keiner zu wissen.«

      Sie erreichten den Weißen Salon. Ein erstaunlich sachlicher Raum, eher wie ein Büro, in dem tatsächlich fast alles weiß war. Ein verhältnismäßig großer Tisch stand in der Mitte, darum vier Stühle und schlichte Lampen – alles war auf das Nötigste reduziert. Auffallend war nur das riesige pechschwarze Bild gegenüber der Eingangstür. Die Türen zum Garten waren fast raumhoch, alle geöffnet und gaben den Blick und die Luft frei, in den herrlichen Garten. An zwei Plätzen waren Teetassen gedeckt, eine Teekanne, Zucker, Sahne, Zitronenscheiben, eine Schale mit Bradbury’s Honig-Nuss-Keksen und ein Teller mit Sandwiches standen bereit.

      »Nimm Platz, meine Liebe«, sagte Nestor Nigglepot überhöflich. »Du wirst sicher Hunger und Durst haben.«

      Lilly setzte sich vor eine der Teetassen und Nestor goss ihr dampfenden, rotgoldenen Tee ein.

      »Das ist hier ganz sicher nicht Hongkong, oder?«, wollte Lilly wissen.

      »Ganz sicher nicht«, war die amüsierte Antwort. »Zucker, Sahne oder Zitrone für den Tee?«

      »Weder noch. Nur Tee, bitte …«

      Nestor nahm sich gelassen einen seiner geliebten Kekse und beobachtete, wie viel Spannung sich in dem ratlosen chinesischen Mädchen aufgebaut hatte. Alle diese Fragen, in diesem kleinen Kopf, unter den pechschwarzen Haaren bettelten um Antworten. Und er könnte sie geben – jederzeit, aber noch genoss er diesen Augenblick. Was konnte es Schöneres geben, als einen weiteren Menschen davon zu überzeugen, dass er, Nestor Nigglepot, der erstaunlichste, einzigartigste und unbeschreiblichste Mensch aller Zeiten war.

      »Nun?« Er ließ Lilly ein wenig Zeit, um sich für die erste Frage an ihn zu sammeln.

      »Du bist bestimmt ein Verbrecher, Nestor Nigglepot!«

      Damit hatte er nun wirklich nicht gerechnet. »Wie darf ich, denn das bitte verstehen?«

      »Was ist daran schon groß zu verstehen? Du hast mir in deiner Maschine ganz sicher eins über den Kopf gebraten. Und jetzt träume ich bestimmt, ich würde mich bei einer Tasse Tee nett mit dir unterhalten. Ich möchte aber lieber wieder wach werden!«

      »Was … wie jetzt? Du bist wach. Ganz sicher!«

      So etwas hatte Nestor noch nicht erlebt. Viele Menschen bestaunten ihn ungläubig, aber keiner hatte bisher behauptet, er würde Nestor Nigglepots Gegenwart nur träumen. Was aber, je nach Art des Traums, durchaus angemessen wäre.

      »Fühl an dem Tee! Er ist heiß. Trink einen Schluck! Hast du schon mal etwas Heißes im Traum gefühlt oder getrunken?«

      Lilly nippte an ihrer Tasse und es stimmte, da war heißer Tee drin. So etwas hatte sie in der Tat noch nie geträumt. Sie überlegte, dann schaute sie sich um und ihr Blick blieb an dem Garten hängen. »Wir sind noch nicht mal mehr in China, oder?«

      »Nein. Wir befinden uns in England, genauer gesagt in Cornwall. Ich bevorzuge milderes Klima, als das in China.«

      »Das bedeutet, als wir in deine Maschine gestiegen sind, haben wir eine Reise um die halbe Welt gemacht … innerhalb von wenigen Sekunden?« Lilly konnte es nicht glauben. »Aber das ist doch völlig unmöglich. Nicht mal ein Zeppelin oder ein Flugzeug kann so schnell, geschweige denn, so weit reisen!«

      »Nun, genau genommen waren wir gar nicht so besonders schnell. Immerhin haben wir ungefähr hundert Jahre dafür gebraucht. Das hätten wir sogar zu Fuß geschafft.« Nestor triumphierte.

      Aber für Lilly klang diese Antwort nur noch unglaubwürdiger. »Ich weiß nicht, wie alt du bist, Nestor Nigglepot, aber ich war zehn Jahre alt, als ich in deine Maschine gestiegen bin, und wenn ich mich so ansehe, kommt es mir nicht vor, als wäre ich jetzt hundert Jahre älter. Du lügst!«

      »Mitnichten, Lilly Foo! Die Maschine, mit der wir gereist sind, ist eine Zeitmaschine.« Ein wohliger Schauer fuhr ihm über den Rücken. Wenn es etwas gab, mit dem man ultimativ angeben konnte, dann ganz sicher mit seiner Zeitmaschine. »Weißt du was eine Zeitmaschine ist, meine Liebe?«

      »Eine Uhr?«

      »Pah, eine Uhr! Ich glaub’s ja nicht!« Ein missachtender Blick traf die Chinesin. »Eine Uhr ist nur wie ein Kreuz auf einer Landkarte. Mit einer Zeitmaschine machst du die Landkarte selbst! Du kannst Wege, Straßen und Orte jetzt, hier und auf der Stelle aufsuchen, ohne erst zu dem Kreuz zu gehen. Das Kreuz kommt zu dir … eine Uhr zeigt dir nur, wieviel Zeit du bereits verloren hast. Verstehst du das?«

      »Schwierig.« Lilly grübelte nach. »Woher hast du denn diese Zeitmaschine? Gebaut haben, wirst du sie ja nicht.«

      »Also bitte! Zweifelst du etwa an meiner Intelligenz?«

      »Natürlich!« Lilly grinste Nestor breit an. »Wer, außer mir, hat denn hier noch keine Ahnung von theoretischer Physik und Astronomie?«

      »Altkluge Trulla!«, sagte Nestor, wollte es aber eigentlich denken.

      »Eingebildeter Fatzke!«, dachte Lilly, wollte es aber eigentlich sagen.

      »Also gut …«, druckste Nestor rum. »Die Zeitmaschine stammt aus meiner Heimat.«

      »In Cornwall kann man Zeitmaschinen kaufen?« Lilly war ganz sicher, dass er schon wieder log.

      »Ich komme nicht aus Cornwall, ich lebe nur hier.« Nestor setzte sich gerade hin, verschränkte seine Unterarme auf dem Tisch und sah Lilly scharf an. »Kannst du schweigen, Lilly?«

      »Wenn du die Wahrheit sagen kannst, kann ich schweigen, Nestor Nigglepot!«

      »Auch wenn du mir nicht glaubst, aber ich habe dich bisher nicht ein einziges Mal belogen.« Zum ersten Mal klang Nestor wie ein normaler Mensch, beinahe ein bisschen unsicher.

      »Wünschen die Herrschaften noch etwas?« Der Butler hatte den Raum mit ausgesprochener Zurückhaltung betreten.

      »Danke, Rául, alles bestens.« Nigglepot zwinkerte dem älteren Herrn zu.

      »Mister Rául! Dieser Mann hier«, sie zeigte auf Nestor und fuhr fort, »hat mich aus Hongkong mitgebracht und erzählt mir nicht die Wahrheit! Sie tauchen hier plötzlich aus dem Nichts auf und er zwinkert ihnen zu … hier stimmt etwas ganz und gar nicht! Um ganz ehrlich zu sein: ich habe Angst und will wieder zurück.«

      Rául blickte zu Lilly, dann zu Nestor Nigglepot und wieder zurück zu Lilly. Als er antworten wollte, platze Nestor dazwischen.

      »Wohin willst du denn wieder zurück? Nach Hongkong? In dein Kinderheim?«

      Lilly Foo war richtig erschrocken, denn er hatte ihr tatsächlich zugehört.

      »Was erwartet dich in China im Jahre 1921? Glück, etwa? Frieden, Erfolg oder Gesundheit und ein langes Leben?«

      Das Mädchen wurde unsicher, sie dachte nach und sagte: »Woher soll ich das wissen? Ich habe ja keine Zeitmaschine.«

      »Aber ich und die Zukunft in deiner Heimat und deiner Lebensepoche könnte für Heimkinder kaum schlechter aussehen.«

      »Glauben