Stefan Högn

NESTOR


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sie mit einem anderen Mädchen teilen, die Straßen waren eng und überall waren Menschen, die danach hetzten entweder reich oder satt zu werden. In Hongkong war nirgendwo Freiraum gewesen. Sie hatte wenig Zeit und niemand, der sich um sie kümmerte.

      Bei Nestor Nigglepot war alles anders. Hier war Platz, hier war Zeit und Rául war immer für sie da – wenn sie wollte. Sie konnte Kung-Fu in der Sporthalle üben, sie konnte lesen, was und wann sie wollte. Wie hätte sie darauf kommen sollen, dass es um sie herum noch eine Welt gab?

      Sie verließen das Grundstück und Lilly schaute während der ganzen Fahrt aus dem Fenster, ohne etwas zu sagen. Sie kannte Engländer aus Hongkong und sie kannte Autos. Das, in dem sie selber saß, wäre in Hongkong wohl als teurer Schlitten aufgefallen, mehr aber auch nicht. Aber dieses Fahrzeug wurde von den Menschen angestarrt. Und Lilly starrte die Menschen an, die das Auto anglotzten.

      Das war nicht die Sorte Engländer, die sie kannte. Die Kleidung war fremd und ihr Verhalten war fremd. Als sie auf die Autobahn kamen, stellte Lilly zuerst mit Entsetzen, später mit kribbelnder Freude fest, mit welch einer Höllengeschwindigkeit sie selber und die anderen Autos daher rasten. Die Häuser waren anders, am Himmel flogen riesige Flugzeuge, die nur zwei Tragflächen hatten, überall säumten bunte und blinkende Werbebotschaften die Straße: für Essen, für Autos, für Computer, für Versicherungen (wofür auch immer die gut sein sollten) und sogar für Unterwäsche.

      Als sie London erreichten, wusste Lilly genau, dass sie tatsächlich mit Nestor Nigglepot in die Zukunft gereist war. Auf dem Anwesen allein hätte alles Sonderbare Zauberei oder sonst was sein können und vielleicht war es das ja auch, aber hier in dieser Stadt, mit Millionen Menschen, die entweder durch die Gegend hetzten oder fotografierten, war völlig klar, dass sie in einer anderen Zeit gelandet war. Aber glücklicher, als die Menschen in ihrem Hongkong, sahen diese hier nicht aus.

      Vielleicht waren sie gesünder und reicher, aber sie hatten ganz eindeutig weniger Zeit als früher. Sie dankte Rául in Gedanken, dass er es bisher komplett vermieden hatte, sie auf die Welt außerhalb von Seldom House aufmerksam zu machen. Lilly Foo war geschockt.

      Rául steuerte die lange Limousine gekonnt durch die engen Straßen von London und fuhr dann in eine noch schmaler gebaute Tiefgarage. Beide stiegen aus und gingen zum Aufzug, der sie wieder nach oben brachte.

      Als sie die Straße betraten, sagte Rául zu Lilly: »Ich mag diese große, volle und hektische Stadt auch nicht besonders.«

      Er hatte im Rückspiegel gesehen, dass das Mädchen mit dem Gesehenen erst einmal fertig werden musste. Jetzt nahm er ihre Hand und führte sie durch das Gewühl einer Metropole, mit vielen Autos, Bussen und Lastwagen, Menschen die nach hier und nach dort gingen und Straßen, die scheinbar überall hinführten. Rául führte Lilly in die Oxford Street, denn dort hatte der Modestar Debile sein Atelier, das aus Kostengründen nur wirklich gut betuchte Menschen besuchten. Nestor Nigglepot war einer von Debiles besten Kunden.

      Es war bemerkenswert, wieviele Menschen einem auf dem Weg begegneten, ohne, dass sie Lilly oder Rául sahen. Die Chinesin hatte schon lange nicht mehr, wenn überhaupt jemals, so viele Menschen gesehen. Alles war überfüllt, deswegen stieß sie auch plötzlich mit einem Mann zusammen, obwohl Rául sie genauso umsichtig durch das Gewühl steuerte wie den Bugatti durch die Straßen.

      »Oh, Verzeihung bitte!«, sagte Lilly zu dem Mann.

      »Schon gut, Mädchen« Die Antwort klang kalt und der Mann sah sie nur kurz an und ging dann weiter.

      Lilly kam der Mann bekannt vor – aus Hongkong.

      »Das war der blasse Mann, der plötzlich in der Lagerhalle aufgetaucht war«, dachte sie.

      Schnell drehte sie sich um und plötzlich führte sie Rául durch die Menschenmassen, weg von der gruseligen Gestalt.

      Auch der blasse Mann erinnerte sich, war aber auch schon einige Schritte weitergegangen und als er sich wieder nach ihr umdrehte, war sie zwischen all den Leuten einfach nicht mehr zu sehen.

      »Die Komplizin!«, fiel es Grafula ein.

      VI

      Grafula

      Debile hatte Rául die versprochenen Entwürfe gezeigt und bei Lilly Maß genommen. Schon in vier Tagen würde eine Sendung mit den fertigen Kleidern für sie und Nestor am Anwesen eintreffen. So war es vereinbart worden und Nigglepot musste für diesen Express-Service tief in die Tasche greifen.

      Auf der Rückfahrt schlief Lilly Foo ein. Die vielen neuen Eindrücke hatten sie überwältigt. Als es schon lange dunkel war, erreichten Rául und Lilly Cornwall. Nestor Nigglepot saß im Bunten Salon und trank Tee.

      »Wie geht es dem großartigen Debile?«, wollte der Hausherr wissen.

      »Er war beleidigt, dass du nicht mitgekommen bist, Nestor Nigglepot«, antwortete Lilly. »Ihr seid bestimmt gute Freunde, was?«

      »Er hat Stil, ich habe Stil ... so gesehen ja. Aber eigentlich ist Debile doch nur ein blasierter, eingebildeter und in sich selbst verliebter Snob, der glaubt er wäre einzigartig!«

      »Ich habe noch einen Freund von dir getroffen«, sagte Lilly.

      »In London?«, Nestor war überrascht.

      »Ja, diesen blassen Mann aus der Lagerhalle in Hongkong.«

      »Grafula?«, entfuhr Nestor das laut gedachte Entsetzen, dann sagte er: »Rául, wie konnte das geschehen?«

      »Sir, ich habe nichts davon bemerkt!«, auch der Butler war unangenehm überrascht, und wandte sich an Lilly: »Wann? Wo? Erzähl!«

      »In diesem Menschengewühl, kurz bevor wir bei diesem Klamottenheini waren«, sagte Lilly. »Ich hab’ ihn zuerst gar nicht gesehen, dann habe ich ihn aus Versehen angerempelt, mich entschuldigt und bin weitergegangen. Dann ist mir wieder eingefallen, wer das war. Ich dachte es wäre gut, wenn er uns nicht folgt, darum habe ich Rául schnell gezogen und wir sind zwischen all den Menschen verschwunden. Er ist auch nicht hinter uns hergekommen.«

      »Du musst Sofia unterrichten, Rául!«, sagte Nestor.

      »Ja, Sir!«, antwortete der Butler schon im Gehen.

      »Hab’ ich was falsch gemacht?«, wollte Lilly wissen.

      »Nein. Aber, dieser Kerl taucht immer dann auf, wenn es gerade überhaupt nicht passt.«

      »Wer ist das denn überhaupt?«

      »Ich glaube nicht, dass ich dir diese Frage beantworten will«, entgegnete der Zeitreisende.

      »Es geht aber nicht um Zeitmaschinen oder deine Herkunft, Nestor Nigglepot!«

      Er stöhnte leise und seine Augen schlossen sich halb, dann sagte er: »Dann wäre die Frage wohl den Regeln entsprechend, oder?«

      »Meiner Meinung nach schon!«, beharrte Lilly.

      »Gut ...«, sagte er, machte eine Pause und fuhr dann erstaunlich leise fort: »Es mag vielleicht dämlich klingen, aber dieser Grafula ist mein Erzfeind.«

      »So was kenne ich. Im Kinderheim hatte ich immer Streit mit dem Mädchen, das mit mir das Bett teilen musste.«

      »Ich fürchte die Sache ist ein bisschen anders, Lilly. Dieser Grafula ist ein Halbvampir«

      »Ach?«, war Lillys wenig erstaunte Antwort. Denn Dämonen gehörten zum Alltag eines chinesischen Mädchens aus dem Jahr 1921. Hingegen war für Spülmaschinen weniger Platz in ihrem bisherigen Weltbild gewesen.

      »Aber deshalb muss er doch nicht gleich dein Feind sein oder bist du Vampirjäger?«

      »Quatsch! Aber er ist außer Rául, das einzige Lebewesen, das eine ungefähre Ahnung von dem hat, was ich mache.«

      »Mir willst du es ja nicht erzählen!«, sagte das Mädchen vorwurfsvoll.

      »Das ist nicht wahr! Du wolltest mir nicht glauben, Fräulein Ich-weiß-immer-alles-besser-als-Nestor-Nigglepot!«

      »Doch