Stefan Högn

NESTOR


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Reise ins antike Griechenland jetzt erledigt?«

      »Wo denkst du hin? Dafür ist es jetzt zu spät! Wir können die Reise nicht mehr absagen.«

      Es war schwer zu erkennen, ob Nestors Art besserwisserisch oder mitfühlend war.

      »Warum?«

      »Weil wir vielleicht bereits dort waren.«

      »Du spinnst, Nestor Nigglepot!«

      »Nein, aber du verstehst noch ein bisschen weniger von theoretischer Physik und Astronomie als ich, meine Liebe!«

      Jetzt war seine Art ganz eindeutig besserwisserisch.

      »Und wie soll ich das alles verstehen, wenn du mir noch nicht alles erklärt hast, Herr Ich-erzähl-doch-nicht-jedem-alles-was ich-weiß?«

      »Eben noch ganz klein mit Hut und jetzt schon wieder rumzicken?«, sagte er trotzig. »Na, super!«

      »Also?«

      »Mhmm ... versuch dir vorzustellen, dass wir genau jetzt in die Vergangenheit reisen. Und zwar in eine Vergangenheit, die knapp vor deiner Geburt war.«

      »O.K.!«

      »Du schleichst dich in dein Kinderheim, von dem wir jetzt mal annehmen, dass es das schon gab und alle Betten schon da standen, wo sie zu deiner Zeit im Kinderheim gestanden haben.«

      »Verstanden.«

      »Du gehst zu dem Bett, in dem du immer geschlafen hast, nimmst einen Pinsel mit roter Farbe und malst einen dicken roten Punkt auf einen der Bettpfosten.«

      »Mach ich!«

      »Jetzt reist du sofort wieder zurück, an diesen Tisch und in diese Zeit.«

      »Alles klar, ich bin wieder hier.«

      »Gut. Du weißt, dass du gerade eben in der Vergangenheit vor deiner Geburt, einen roten Punkt auf einen Bettpfosten gemalt hast. Gerade eben ... und du bist zehn Jahre alt.«

      »Ich bin zehn und habe eben einen roten Punkt gemalt.«

      »Aber in all der Zeit, als du noch jünger und im Kinderheim warst, hast du dich immer gefragt: Woher kommt bloß der rote Punkt auf meinen Bettpfosten?«

      »Das ist aber schon ein bisschen kompliziert, oder?«

      »Man gewöhnt sich daran«, sagte Nestor gewohnt lässig.

      »Aber, warum waren wir schon da?«

      »Sofia hat schon alle Zeitvektoren gesichert. Jetzt müssen wir da hin, ob wir wollen oder nicht.«

      »Und was war jetzt mit deinem blassen Halbvampir?«

      »Ach so, ja ...« Nestor hatte Grafula schon fast wieder vergessen. »Der ist leider unsterblich.«

      »Wieso leider?«, wollte Lilly wissen.

      »Er kennt mich seit Tausenden von Jahren. Ich reise oft in Zeiten, wo etwas Aufregendes oder Einzigartiges passiert. Und früher gab es nicht so viele große Städte wie jetzt. Da läuft man sich natürlich über den Weg, denn Grafula ist auch gerne an solchen Orten.«

      »Aber wieso ist er dein Feind!«

      »Weil leider nicht immer alles so klappt, wie ich das geplant habe ...«

      »So wie ich dich kenne, glaube ich das wirklich gerne, Nestor Nigglepot!«

      »Besten Dank! Aber im Ernst, es kommt vor, dass durch mein Eingreifen in den Zeitablauf Teile der Menschheitsgeschichte umgewandelt werden könnten.«

      »Könnten oder wurden?«, hakte das Mädchen nach.

      »Wurden.«

      »Selten oder mehrfach?«

      »Mehrfach.«

      »Mit geringen oder schlimmen Folgen?«

      »Schlimme.«

      »Aber, wo ist das Problem? Es erinnert sich doch keiner daran. Für die Menschen ist die Geschichte doch eh vorbei. Und wenn sie von dir verändert wurde, weißt du das, aber für alle anderen ist sie doch einfach nur Vergangenheit«, stellte Lilly fest.

      »Außer für Grafula!«

      »Das verstehe ich nicht«, sagte Lilly.

      »Er ist unsterblich – absolut unsterblich. Wenn ihm eine Dampfwalze auf den Kopf fällt, dann hat er vielleicht Kopfschmerzen, mehr aber nicht. Er stirbt nicht! Aber er erinnert sich an alles.«

      »Ja, Dämonen sind lästig. In China gibt es Tausende davon. Dagegen hilft Feuerwerk!«

      »Gegen diesen Dämon hilft nicht mal eine Kanone. Hab’ ich versucht. Er hatte nicht mal einen Kratzer, frag mich nicht wieso, aber gegen den ist kein Kraut gewachsen.«

      »Trotzdem müsste sich doch auch für ihn die Vergangenheit ändern, wenn du in sie eingegriffen hast.«

      »Das tut sie, aber er spürt die Unterschiede. Er ahnt was sich verändert hat, wie die Entwicklung der Geschichte hätte sein sollen, und das stört ihn kolossal. Vampire sind extrem pedantische Wesen, die gerne alles so haben, wie es sich gehört. Darum versucht er mich überall zu finden und diesem Treiben ein Ende zu machen.«

      »Und jetzt ist er in England«, sagte das Mädchen.

      »Halb so wild, er war schon näher an mir dran, zum Beispiel in Hongkong.« Nestor zwinkerte und fuhr fort: »Mein Desorientator hat mir schon oft geholfen.«

      »Will er dich töten?«

      »Vielleicht ja, vielleicht aber auch nicht. Wie gesagt, er möchte das alles so ist, wie es sich gehört. Wenn du zu ihm sagen würdest, auf einem Schachspiel sind immer 63 Felder, würde er vermutlich alle Schachbretter der Welt durchzählen. Nein, er will mich der Polizei ausliefern und die Justiz davon überzeugen, dass ich ein Verbrecher bin. Ein schräger Vogel dieser Grafula!«

      »Dann müsstet ihr beiden euch ja eigentlich gut verstehen«, grinste Lilly Nigglepot an.

      »Moment mal ... weil ich auch ein schräger Vogel bin oder, weil du mich auch für einen Verbrecher hältst?«

      »Such dir was aus, Nestor Nigglepot. Warum veränderst du denn die Zeit überhaupt? Warum lebst du nicht einfach in deine Zukunft hinein, wie alle anderen auch?«

      »Ich bin ein Opfer meiner eigenen Vergangenheit ...«, sagte er, dann drehte er sich um und wollte gehen.

      »Das sind wir doch alle!«, stellte Lilly trocken fest.

      »Das werden wir heute Abend ganz sicher nicht mehr klären, meine Liebe.«

      Damit war das Gespräch beendet und, obwohl Lilly an diesem Tag mehr über Nestor Nigglepot, als in der gesamten Zeit davor erfahren hatte, verließ er sie mit mehr Fragen in ihrem Kopf als, er beantwortet hatte. Zum ersten Mal fühlte sie sich in diesem großen bisschen Haus allein.

      Eigentlich war Lilly von der Fahrt und dem Erlebten hundemüde, aber das Gespräch mit Nestor ließ sie viel zu wach zum Schlafen zurück, also beschloss sie Sofia aufzusuchen. Rául schien ihr diesmal nicht der richtige Ansprechpartner, denn sie wusste, dass er stets die Befehle von Nestor Nigglepot befolgte. Der Zentralcomputer schien anders getaktet zu sein.

      Der Weg durch den blau erleuchteten Gang im Keller machte sie noch wacher und als sie an der Tür zu Sofias Raum ankam, war sie überhaupt nicht mehr müde.

      »Hallo Sofia! Machst du mir bitte auf?«

      »Gerne, Lilly! Komm rein!«, antwortete der Zentralcomputer und die Tür verschwand. »So spät noch wach?«

      Das Mädchen trat ein und setzte sich wie selbstverständlich in einen der drei Sessel. Sie kannte Sofia noch nicht lange, aber fühlte sich in der Gesellschaft der blauen Lichtgestalt ausgesprochen wohl.

      »Ich kann einfach nicht schlafen«, sagte Lilly. »Schläfst du manchmal?«

      »Nicht so wie du. Wenn ich meine Daten aktualisiere