Stefan Högn

NESTOR


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lachte hämisch Lilly an. »Nach dem Frühstück solltest du gleich mit Rául zum Fremdsprachenunterricht gehen. Ich bin bei Sofia, wenn ihr mich suchen solltet.«

      Lilly guckte Nestor giftig an, freute sich aber im Stillen, dass er tatsächlich zum Scherzen aufgelegt war, also konnte seine Laune in der Tat nicht so schlimm sein, wie sie befürchtet hatte. Außerdem war es ungewöhnlich, dass der Hausherr sich in die Karten blicken ließ. Zum ersten Mal hatte er etwas über seinen Verbleib geäußert.

      Wie üblich kümmerten sich der Butler und das Mädchen darum, den Bunten Salon aufzuräumen und Rául begann zu erklären.

      »Griechisch und Phönizisch sind zwei Sprachen, die damals mehr oder weniger gleichwertig auf Sizilien gesprochen wurden.«

      »Warum reisen wir denn eigentlich nicht nach Griechenland, sondern nach Sizilien?« Lilly wusste, dass die Insel Sizilien zu Italien gehörte.

      »Weil es Griechenland damals noch nicht gab. Vor 2.500 Jahren waren Staaten in ihrer heutigen Form ausgesprochen selten. Es gab immer wieder Ausnahmen, die aber meist nach einer kurzen Blüte wieder in Klein- oder Stadtstaaten zerfielen. Große Länder, die es heute noch gibt, wie Persien, Ägypten und China gehören zu den wenigen Ausnahmen.«

      »China! Ich sag es ja immer wieder« entgegnete Lilly stolz und Rául sah sie bestätigend an.

      »Griechenland zum Beispiel, war nicht viel mehr als eine lockere Gruppierung von Städten, die eine gemeinsame Kultur, Religion und Sprache miteinander verband«, fuhr Rául fort.

      »Und warum haben diese Städte Kriege gegeneinander geführt?« Lilly hatte sich in den letzten Tagen natürlich auch über die Geschichte der antiken Griechen schlau gemacht.

      »Versuch gar nicht erst zu verstehen, warum«, sagte der Butler. »Wie auch immer, Griechische Siedlungen gab es fast überall am Mittelmeer, und eine der größten und wichtigsten war Syrakus auf Sizilien. Zur Zeit von Platon gab es dort auch viele karthagische Ortschaften, in denen eine Form der Phönizischen Sprache gesprochen wurde. Griechisch und Phönizisch waren damals so etwas wie Englisch und Spanisch heute.«

      »Und Chinesisch!«, fuhr Lilly dazwischen.

      »Ja, und Chinesisch ... Weltsprachen eben. Griechisch ist eine indoeuropäische Sprache, zu denen auch Englisch gehört. Phönizisch gehört zu den Semitischen Sprachen, aus denen sich ,zum Beispiel das heutige Arabisch und Hebräisch, entwickelt haben. Wir haben es also mit zwei völlig unterschiedlichen Sprachen zu tun und eine gute Sklavin aus damaliger Zeit, die einem Herrn von hohem Rang gehörte, beherrschte eben Griechisch und Phönizisch.«

      »Und ich soll innerhalb von drei Tagen beide Sprachen lernen? Ich traue mir ja viel zu ... aber Rául, das können sie nicht von mir erwarten.«

      »Mach dir keine Sorgen. Mit dem Didaktafon geht das viel schneller, als du glaubst«, erklärte er und schaltete die Spülmaschine ein. Er blickte sich um und als er sah, dass alles erledigt war, sagte der Butler: »Dann wollen wir mal!«, und machte sich auf Richtung Empfangshalle.

      »Warum musste ich denn Lesen so mühselig lernen, wenn das mit dem Didaktadings so schnell geht?«

      »Weil das mit einem Didaktafon erlernte Wissen innerhalb von ungefähr vier Wochen wieder verpufft.«

      »Es verpufft?«

      »Ja, denn es fehlt die Verknüpfung. Nur Wissen, dass sich durch echte Erfahrung bildet und entsprechend verknüpft, bleibt auch dauerhaft erhalten.«

      »Wie lange dauert unsere Reise denn?«, fragte Lilly.

      »Das kommt ganz darauf an. Wir wissen ja nur ungefähr, wo Platon wann war. Ihr könnt da mal eben hinhopsen und direkt wieder zurück kommen oder es dauert einige Zeit, bis ihr das erreicht habt, was ihr euch wirklich vorgenommen habt«, antwortete Rául.

      »Na ja ... jetzt will ich Platon aber auch treffen.«

      »Dann werdet ihr sicherlich ein paar Tage dort bleiben müssen. Ihr kennt ja niemand dort, der euch helfen könnte! Als Erstes müssen bei solchen Missionen immer Verbindungen zu anderen Menschen aufgebaut werden, die vertrauenswürdig sind. Das kann schon mal ein bisschen dauern.«

      »Und wenn die Reise länger, als vier Wochen dauert?«

      »Dann hast du hoffentlich genug eigene Spracherfahrung gesammelt, dass sich dein gelerntes Wissen nicht komplett verflüchtigt. Du wirst durch das Didaktafon die Sprachen komplett fließend beherrschen. Wenn du innerhalb der vier Wochen kein einziges Mal die Sprachen nutzt, ist alles wieder weg und du verstehst nur noch Bahnhof, wenn dich jemand anspricht.«

      Lilly starrte den Butler an.

      »Aber wenn du regen Gebrauch von Deinem Wissen machst, werden Verknüpfungen in Deinem Gehirn aufgebaut, die nicht vergänglich sind.«

      »Vier Wochen ...« Lilly kratzte sich am Kopf.

      »Mach dich nicht verrückt. So lange seid ihr ganz bestimmt nicht weg.« Sie erreichten die Geheimtür und gingen die Treppe hinunter. Rául steuerte die zweite Tür auf der linken Seite des Gangs an.

      Er berührte das blau leuchtende Symbol, das aus vier Dreiecken bestand, die so angeordnet waren, dass sie ein weiteres großes Dreieck formten. Das Symbol leuchtete noch heller auf und kurz darauf verschwand die Tür, genauso wie die Tür zu Sofias Raum.

      Auch hier befanden sich die metallischen Halbkugeln überall an der Wand, aber es gab nur einen schwarzen Sessel in der Mitte des Raums. Direkt daneben stand eine tischförmige Apparatur mit einem Bildschirm, der nur aus einer durchsichtigen Glasscheibe bestand. Vom Tisch stieg ein biegsamer Schlauch auf, der dorthin zielte, wo der Kopf des auf dem Sessel sitzenden Menschen wäre. Der Raum selber war erheblich kleiner als der des Zentralcomputers, ansonsten glichen sich die Räume durch und durch. Der Butler ging auf den Bildschirm zu.

      »Setz dich schon mal hin und versuch’ nicht nervös zu sein. Es wird nicht wehtun. Ein Didaktafon ist völlig harmlos.«

      Lilly dachte unweigerlich an einen Zahnarzt, und weil sie nur Zahnärzte aus dem Jahr 1921 kannte, war sie in der Tat nervös, denn die taten ausgesprochen weh. In ihrer Zeit gab es selten Betäubungsmittel, sondern meist gute Worte – so wie jetzt. Sie nahm widerwillig Platz und wartete auf Schmerzen, zumindest aber auf irgendetwas sehr Unangenehmes.

      Rául richtete den Schlauch so aus, dass er genau zwischen ihre Augenbrauen zielte, sie aber nicht berührte. Dann tippte er auf dem durchsichtigen Bildschirm herum, der verschiedene Symbole in der unbekannten Schrift darstellte.

      »Am besten du machst die Augen zu, sonst wird es zu hell«, sagte der Butler und berührte ein letztes Mal den Bildschirm.

      Was dann geschah, war für Lilly eine ganz und gar unbekannte und unvergleichliche Erfahrung. Es war, als würde sich alles um sie herum in selbstleuchtende Substanzen verwandeln, ähnlich der Erscheinung von Sofia, und das, obwohl sie die Augen geschlossen hatte. Geräusche nahm sie überhaupt nicht mehr wahr und ihr Gefühl für oben und unten ging verloren. Das blaue Licht wirbelte im Uhrzeigersinn um ihren Kopf, wurde stetig langsamer und suchte dann den Weg in sie hinein, wie Wasser aus einem Sieb läuft, nur umgekehrt. Und jeder Lichttropfen schien ein Wort zu sein, je mehr Licht sich in ihr sammelte, desto mehr Sätze formten sich in ihrem Kopf, zuerst ganz einfache wie: Ich bin Lilly – auf altgriechisch.

      Die Kombinationen wurden komplizierter und nach einer Weile, die Lilly unmöglich in Minuten oder Stunden benennen konnte, schien es ihr, als wäre Griechisch ihre Muttersprache. Sie öffnete wie vom Blitz gerührt die Augen.

      »Und jetzt?«

      »Das war alles«, antwortete Rául.

      »Wie, das war alles? Wie lang hat das denn gedauert?«

      »Vier, vielleicht fünf Sekunden. Können wir dann jetzt mit Phönizisch weiter machen?«

      »Na klar!«

      Rául tippte wieder und eine Sekunde, zwei Sekunden, drei Sekunden, vier Sekunden, fünf Sekunden später war Phönizisch für Lilly die normalste Sprache der Welt.