Stefan Högn

NESTOR


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in London klar, dass ich wirklich mit Nestor Nigglepot in die Zukunft gereist bin, was ich vorher nicht geglaubt habe, dann ist mir dieser Grafula über den Weg gelaufen, was scheinbar alle in Aufregung versetzt und Zuguterletzt habe ich mich auch gerade noch mit Nestor Nigglepot angelegt ... ja, ich habe Kummer.«

      »Tja, so etwas nennt man einen schlechten Tag.«

      »Was soll ich denn jetzt machen?«, fragte Lilly.

      »Wegen Nestor würde ich mir keine Sorgen machen. Er ist nicht nachtragend. Morgen früh hat er das schon wieder vergessen. Er ist viel feinfühliger, als er es zeigen möchte. Manchmal nervt er, weil er so eingebildet ist, aber er ist ein guter Mensch.«

      »Und dieser Grafula?«, wollte die Chinesin wissen.

      »Wegen dem würde ich mir schon mehr Sorgen machen, zumindest an Nestors Stelle. Aber du brauchst dir da überhaupt keine Vorwürfe zu machen. Du bist nur mit ihm zusammengestoßen. Das war nicht dein Fehler und es war gut, dass du es erzählt hast, damit hast du mir sehr geholfen.«

      »Wieso?«

      »Eine meiner Aufgaben ist es, die Zeitreisen so sicher wie möglich zu planen. Das bedeutet zum einen das Zeitziel, aber auch den Ursprungsort der Reise zu beschützen«, sagte Sofia und ergänzte: »Stell dir vor, eine Zeitreise ist wie ein Blick durch einen biegsamen Gartenschlauch. Du guckst in die eine Öffnung rein und durch die andere heraus, egal wie das Ding gebogen ist. Du könntest dir damit theoretisch auf den eigenen Hinterkopf schauen.«

      »Hübsche Idee«, schmunzelte Lilly.

      »Ich muss dafür sorgen, dass niemand vorzeitig einen Stopfen auf eines der Schlauchenden macht, bevor die Zeitreise zu Ende ist. Aber genau das hat Grafula immer wieder vor.«

      »Und, kannst du das verhindern?«

      »Dieser Halbvampir ist schwierig zu finden. Ich vermute, er ist mittlerweile fast genauso gut im Nicht-gefunden-werden wie wir hier.«

      »Aber, wenn jemand wie Nestor Nigglepot in so einem Anwesen wie Seldom House lebt, schreit das doch danach gefunden zu werden«, sagte Lilly.

      »Der Lebensstil von Nestor macht die Sache in der Tat nicht immer einfach. Letztenendes wachsen Rául und ich an unseren Herausforderungen«, lachte Sofia.

      »Aber Grafula müsste doch nur alle Telefonbücher der Welt lesen und käme dann irgendwann auf die richtige Adresse und wäre hier ...«

      »... oder er würde das Internet durchforsten. Er könnte auch Informanten ausschicken ... aber so einfach machen wir es ihm natürlich nicht. Wir befinden uns hier auf einem Anwesen, das rein rechtlich gesehen der Britischen Krone gehört. Nestor Nigglepot ist der Verwalter, der sich regelmäßig gegen sich selbst austauscht. Wir haben vor ein paar Jahrhunderten Verträge gemacht, die dafür sorgen, dass Seldom House ausschließlich von den Personen besucht und betreten werden darf, die nur der aktuell bestellte Verwalter auswählt, der natürlich auch seinen Nachfolger bestimmt.«

      »Und das prüfen die nie nach?«

      »Wir sind in Großbritannien, Lilly!« Der Zentralcomputer lachte wieder. »Die Queen darf nicht mal die City of London betreten, ohne vorher den Bürgermeister zu informieren. Die Engländer sind an so etwas gewöhnt und uralte Privilegien werden in diesem Land selten gebrochen, das ist unser Vorteil.«

      »Grafula kann uns also nicht finden«, sagte Lilly, »Und umgekehrt?«

      »Alles was ich an Informationen habe, werte ich natürlich aus, vergleiche es mit allen Treffen zwischen Nestor und ihm ... ich weiß nicht immer, wann er wo ist, aber mit der Zeit kennt man seine Pappenheimer. Ich hab’ da inzwischen einen guten Riecher entwickelt und ziemlich gute Bewegungsprofile erstellt, die mit hoher Wahrscheinlichkeit mit der Realität übereinstimmen.«

      »Und was macht er als Nächstes?«

      »Er wird sich auf alle Museen von London konzentrieren und rechnet dort mit Nestors Auftreten in der nächsten Zukunft. Oder er misst eurem Treffen keine Bedeutung bei und hat auf der Durchreise einen Zwischenstopp gemacht. Er mag große Städte und ihre Anonymität. Früher war er gerne als Fürst oder Graf irgendwo als Adeliger tätig, aber seit es einigermaßen gut funktionierende Demokratien gibt, arbeitet er lieber als Detektiv.«

      »Wieso ist dieser Grafula, denn so schwierig zu finden?«

      »Er hinterlässt kaum Spuren. Ich habe so ziemlich alle Akten, die es seit einigen tausend Jahren gibt, gespeichert. Und obwohl in den letzten hundert Jahren die Informationen, die über die einzelnen Menschen irgendwo niedergeschrieben oder heutzutage digital erfasst sind, immer umfassender geworden sind, gelang es diesem Halbvampir bisher immer erstaunlich gut unerkannt zu bleiben.«

      »Und wie kommt es, das Grafula unsterblich ist?«, wollte die Chinesin wissen.

      »Vermutlich, weil sein Vater ein Vampir und seine Mutter kein Vampir war. Eine ungewöhnliche Mischung. Normale Vampire werden irgendwann von Vampirjägern erledigt oder machen den Fehler ins Sonnenlicht zu geraten. Aber bei ihm ist das anders. Grafula ist absolut unsterblich. Meines Wissens ist er tatsächlich der einzige seiner Art. Ein trauriges Leben!«

      »Ist ewiges Leben denn nicht gut?«

      »Irgendwann stirbt jeder Freund, und irgendwann hat man auch alles schon einmal erlebt. Alle Informationen, die ich über ewiges Leben habe, laufen irgendwann auf ewige Langeweile hinaus.«

      Lilly betrachtete Sofia und staunte darüber, wie verblüffend sichtbar sie war, obwohl sie doch nur aus Licht bestand, das harmonisch in sich waberte.

      »Aber Nestor Nigglepot ist doch auch unsterblich, oder?«

      »Oh nein, er schickt sich nur immer wieder selber in die Zukunft, wenn er noch jung genug ist. Aber das zu erklären, würde heute Abend wirklich zu lange dauern. Du solltest schlafen gehen, denn morgen musst du zwei komplette und noch dazu tote Sprachen lernen, das ist ganz schön anstrengend.« Sofia sah das Mädchen freundlich an.

      »Du hast recht ...«, sagte Lilly, stand auf, und mit einem »Träum was Schönes!«, und verabschiedete sie sich von der blau leuchtenden Frau.

      »Du auch, Lilly!«

      VII

      Mifun

      Seit Lilly bei Rául und Nestor Nigglepot lebte, hatten sich die Frühstücksgewohnheiten in Seldom House geändert. Jeder hatte eine andere Vorstellung davon, wie ein vernünftiges Frühstück auszusehen hatte. Aber Rául machte keinerlei Anzeichen, dass ihn die zweifellos umfangreichen Vorbereitungen irgendwie störten. Klaglos bereitete er dem Hausherrn jeden Morgen ein typisches Englisches Frühstück, bestehend aus Toast, Orangenmarmelade, Spiegelei mit Speck, gebratenen Würstchen, gebackenen Bohnen und gegrillten Bücklingen. Gelegentlich reichte er auch noch Haferschleim dazu. Der Anblick dieser merkwürdigen Zusammenstellung von Frühstücksbestandteilen ließ Lilly jeden Morgen zusammenzucken.

      Rául bevorzugte die klassische französische Version des Frühstücks: einen Kaffee mit viel Milch und ein Croissant.

      »Also ehrlich, Lilly, wie kannst du das nur essen?«, schüttelte es Nestor Nigglepot. »Nudelsuppe zum Frühstück?« Er freute sich darüber, dass Lilly sich damit jeden Morgen ärgern ließ.

      »Mifun ist ein traditionelles Chinesisches Frühstück, Nestor Nigglepot und wird von über einer Milliarde Menschen jeden Morgen gegessen. Und überhaupt, wenn hier etwas fies ist, dann deine miefigen Bücklinge!«

      Ein kurzes Lächeln huschte über Ráuls Gesicht, bevor er sagte: »Ab morgen werde ich übrigens nur noch altgriechische Gerichte servieren, damit den Herrschaften die Umstellung erleichtert wird.«

      »Du wirst es lieben, Lilly!« Nestor verdrehte die Augen. Scheinbar hatte er dem gestrigen Gespräch tatsächlich nicht allzu viel Bedeutung beigemessen.

      »Was gibt es denn morgen Gutes?«, fragte Lilly.

      »Erbsenbrei, Bohnenbrei, trocken gebratenen Hammel, Ziegenfleisch, Fladenbrot, Eierspeisen, Oliven, Zwiebeln, rohes Gemüse, Obst