Rainer Homburger

Der Nagel


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Mutter hieß doch Wilhelmine Bernhard?«

      Sie nickte.

      »Bis zu ihrem Tod wohnhaft in der Nürnberger Str. 17?«

      Sie nickte erneut.

      »Gestorben am 14. Januar 1938 in Dresden?« Er sah zu ihr auf, aber sie antwortete nicht.

      »Worauf wollen Sie hinaus?«, fragte sie im Gegensatz, doch auch er ignorierte ihre Frage. »Was ist ...«, sie verbesserte sich, »... war mit meiner Mutter?«

      »Wie ich vorhin schon sagte, gibt es Menschen, die sich durch Falschaussagen und mit falschen Dokumenten einen arischen Nachweis besorgen, um sich so unserem Zugriff zu entziehen. Und um es kurz zu machen. Bei den Untersuchungen zu ihrer Mutter haben wir festgestellt, dass sie jüdische Vorfahren hatte. Was wiederum bedeutet, dass auch Sie jüdisches Blut in sich tragen.«

      Elisabeth sah ihn fassungslos an. Mit weit geöffnetem Mund saß sie auf ihrem Stuhl. Beide Hände umklammerten die Tasche und die Finger bohrten sich in das braune Leder. Sie brachte keinen Ton heraus und starrte den Mann einfach nur an. Es dauerte eine ganze Weile, dann stammelte sie: »Das ist nicht möglich!« Ihr Hals war trocken und die Worte kamen nur undeutlich über ihre Lippen. Sie schluckte schwer. »Das kann nicht sein. Wir haben umfangreiche Untersuchungen über uns ergehen lassen müssen, als es darum ging, ob mein Mann nach Peenemünde kann. Und damals war alles in Ordnung. Wo soll jetzt plötzlich das Dokument herkommen?«

      »Die genauen Details werden gerade noch geklärt, die Untersuchung ist noch nicht abgeschlossen.«

      »Das kann nicht sein«, wiederholte sie. »Ich glaube das nicht.« Elisabeth zögerte. Unerwartet spürte sie eine innere Energie aufkommen. Dann warf sie ihrem Gegenüber vor: »Sie lügen mich an, es kann gar nicht anders sein.«

      Hoffmann hatte während des bisherigen Gesprächs eine überhebliche Lässigkeit an den Tag gelegt. Besonders in der Art, wie er auf seinem Stuhl hinter dem Schreibtisch saß und der speziellen Tonlage, die er in seine Sätze legte. Dagegen veränderte sich nun sein Ton schlagartig. Erbost richtete er seinen Oberkörper auf und mit kräftiger Stimme erwiderte er: »Ich verbitte mir solche Anschuldigungen. Wir haben hier ein offizielles Dokument zur Abstammung ihrer Mutter und die Quelle ist absolut zuverlässig. Sie haben versucht, uns ihre wirkliche Herkunft zu verheimlichen. Darum geht es hier. Und wir sind Ihnen auf die Schliche gekommen.«

      »Dann wissen Sie also doch schon mehr über die Details, als Sie vorhin zugegeben haben«, fiel ihm Elisabeth nun fast ebenso deutlich ins Wort. »Ich will sofort wissen, woher Sie dieses Dokument haben und wer so etwas behauptet?«

      Ganz überraschend hatte sich Elisabeth gefangen und trat nun mit einem vor wenigen Sekunden noch völlig unvorstellbarem Selbstbewusstsein auf.

      Hoffmann war von ihrem plötzlichen Wandel sichtlich überrascht.

      »Frau Friedel«, begann er beschwichtigend und versuchte zu seiner ursprünglichen Lässigkeit zurückzukehren, was ihm aber nicht ganz gelang. »Beruhigen Sie sich wieder. Schauen Sie. Es ist nun mal unsere Aufgabe, die Abstammung der deutschen Volksgenossen zu prüfen. Und wenn wir auf so ein Dokument stoßen«, und dabei wies er auf das Papier, das er noch immer in Händen hielt, »dann müssen wir der Sache nachgehen.«

      Seine Stimme wurde ruhiger und verfehlte ihre Wirkung auf Elisabeth nicht. Ihre Erregung ließ nach und die Spannung wich aus ihrem Körper. Langsam sanken ihre Schultern nach unten.

      »Wir müssen einfach der Sache nachgehen«, fuhr er in einer, gegenüber vorhin, jetzt schon fast extrem leisen Tonlage fort. »Von so einem Dokument ist ja nicht nur die Person betroffen, die darauf aufgeführt ist. Im Endeffekt geht es dabei auch um die Nachkommen. Wenn ihre Mutter Jüdin war, dann sind Sie es und ihre Kinder auch.«

      Der Hinweis auf ihre Kinder löste erneut eine unerwartete Reaktion in Elisabeth aus. Wie ein Muttertier, das sich vor ihre Jungen stellt, um diese vor einer Hyäne zu schützen, spürte sie plötzlich in ihrem ganzen Körper eine Mischung aus Angst, Verzweiflung und Entschlossenheit. Sie wusste nicht, was in ihr vorging, aber diese Gefühle setzten in ihr einen unabdingbaren Überlebenswillen frei.

      »Ich möchte wissen, woher Sie dieses Dokument haben«, wiederholte sie langsam und deutlich ihre Forderung. Dann erhob sie sich, lehnte sich über den Tisch und entriss ihm das Papier. Sie setzte sich wieder auf den Stuhl und begann, das Dokument zu studieren. Hoffmann ließ sie gewähren.

      Sie las die einzelnen Zeilen immer und immer wieder und hoffte, etwas zu finden, was ihr die Hoffnung gab, dem Schicksal, das den Juden widerfuhr, zu entgehen.

      Mutter: Wilhelmine Bernhard.

      Wohnhaft: Nürnberger Str. 17 in Dresden.

      Verstorben: 14. Januar 1938.

      Mehrfach las sie die Einträge. Irgendetwas stimmte nicht, das spürte sie im Unterbewusstsein. Ein Gefühl sagte ihr, dass auf dem Papier etwas nicht passte. Aber was war es? Das Adrenalin, das es ihr in die Adern getrieben hatte, ließ langsam nach und sie spürte, wie die Angst zurückkehrte. Immer hastiger überflog sie das Dokument. Wieder und wieder und suchte nach der Stelle, nach dem Strohhalm, der ihr und ihren Kindern ein grausames Schicksal ersparen würde. Panik stieg in ihr auf.

      Da. Da war er. Da war der Strohhalm.

      Mutter: Wilhelmine Bernhard.

      Bernhard war ohne t geschrieben. Ihre Mutter hieß Bernhardt. Das t am Ende war der Strohhalm, den sie suchte und den sie nun mit beiden Händen ergriff. Sie spürte die Energie zurückkommen, von der sie zuvor gepackt worden war. Nicht so stark, aber sie war wieder da. Sie stand auf und warf Hoffmann das Blatt auf den Schreibtisch.

      »Was wollen Sie überhaupt von mir. Es geht hier nicht um meine Mutter. Sie legen mir ein Dokument vor von einer Frau Bernhard und behaupten, sie wäre meine Mutter. Meine Eltern schrieben sich mit dt am Ende und beide waren arischen Blutes. Und zwar mindestens bis in das 17. Jahrhundert zurück. Bevor Sie anfangen, deutschen Frauen und Familien, die sich für das Vaterland aufopfern als Juden zu bezichtigen und Ihnen das gleiche Schicksal androhen, sollten Sie erst einmal Ihre Arbeit sauber erledigen. Ich werde mir überlegen, ob ich nicht Beschwerde gegen Sie einreiche. Und jetzt lassen Sie mich und meine Familie in Ruhe.«

      Damit stand sie auf und verließ eiligen Schrittes das Büro. Die Tür schloss sie mit einem lauten Knall, der durch den ganzen Gang hallte, dann stolzierte sie aufrecht zurück in Richtung der großen Eingangshalle.

      Hoffmann hatte Elisabeth nachgesehen. Er war von ihrer Reaktion völlig überrascht worden und reagierte überhaupt nicht, bis der laute Knall der Tür ihn aus der Fassungslosigkeit riss. Sein Blick fiel auf das Papier. Er nahm es in die Hand und schaute auf den Namen Bernhard, dessen fehlendes t ihn bloßgestellt hatte.

      »Verdammte Scheiße«, stieß er hervor, dann warf er das Blatt auf den Schreibtisch. Er nahm den Hörer vom Telefon und drückte den rechten, weißen Knopf.

      London, Freitag, 28. Juli 1944, 15:15 Uhr

      Das Telefon klingelte zweimal, dann nahm David ab.

      »Ja?« Es vergingen zwei Sekunden, dann beendete er das Gespräch mit einem: »Er kann reinkommen.«

      Unmittelbar, nachdem er den Hörer aufgelegt hatte, wurde die schwere Bürotür geöffnet, und ein schlanker Mann betrat den Raum. Er schloss die Tür hinter sich und ging zielstrebig auf David zu.

      »Mr Petrie«, sagte der dunkelblonde Besucher zur Begrüßung und gab David die Hand. David nickte ihm zu und deutete mit einer Kopfbewegung nach rechts.

      »Das ist mein Assistent Frank.«

      Der große Mann, der einen hellbraunen Anzug mit einer dunklen Fliege trug, schüttelte auch Frank die Hand.

      »Nehmen Sie Platz, Mr Chapman«, sagte David und wies auf den freien Stuhl, der vor seinem Schreibtisch stand. »Was können wir für Sie tun?«

      »Mr Petrie. Zuerst möchte ich mich bei Ihnen bedanken, dass