Rainer Homburger

Der Nagel


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      »Das ist richtig, Sir. Das können die auch nicht. Wie schon angesprochen, starten die Flugbomben nach unseren Erkenntnissen von den Startrampen in Frankreich und Holland. Sie sind also eher als unbemannte Flugzeuge zu betrachten, auch wenn sie eine Art Raketenmotor besitzen. Die Raketen, von denen ich Ende Mai gesprochen habe, starten senkrecht nach oben, haben eine andere Form und sind mit den Flugbomben überhaupt nicht zu vergleichen.«

      David stockte kurz und überlegte, wie er es anstellen sollte, Churchill über die vergangenen Vorfälle zu berichten, ohne dabei zu viel preiszugeben. Er wusste, welche Auswirkungen es nach sich ziehen könnte, wenn herauskäme, dass er wichtige Informationen vorenthalte und auf eigene Faust handelte. Trotzdem hielt er sich zurück. Er sah Churchill an, der beide Unterarme auf dem Tisch liegen hatte, den Oberkörper nach vorne gebeugt und fordernd auf Informationen wartete.

      »Vor einigen Wochen wurde uns vom schwedischen Außenministerium mitgeteilt, dass ihrem Gesandten in Deutschland detaillierte Informationen über das deutsche Raketenprogramm zugespielt wurden. Carl, der Sohn des schwedischen Gesandten in Berlin, Mr Richert, hatte sich bereit erklärt, die Informationen bei seinem nächsten Flug mitzunehmen. Das war vor zwei Wochen gewesen. Carl ist es gelungen, die Unterlagen unentdeckt nach Stockholm zu bringen. Auf dem Weg vom Flughafen in die Stadt hatte er einen schweren Autounfall, bei dem ein Teil der Papiere leider verbrannte. Es spricht vieles dafür, dass der Unfall absichtlich von jemandem verursacht worden war, der damit verhindern wollte, dass die Unterlagen in unsere Hände gelangen. Die genaue Ursache konnte bis heute nicht geklärt werden. Tatsache ist, dass ein wichtiger Teil der Dokumente bei dem Feuer verloren gegangen und die Auswertung der verbliebenen Papiere noch nicht abgeschlossen ist. Daher kann ich Ihnen noch nicht im Detail sagen, was darinsteht und ob uns diese weiterbringen. Die Analysen laufen, und sobald ich genauere Ergebnisse habe, erhalten Sie von mir umgehend einen ausführlichen Bericht darüber.«

      David musste aufpassen. Er durfte nicht zu viele Informationen zurückhalten. Auch wenn sich die feindlichen Truppen an den meisten Fronten im Rückzug befanden, so war noch lange nicht sicher, dass der Krieg für sie verloren war. Wenn es den Deutschen gelang, die alliierten Truppen in Frankreich zurück ins Meer zu werfen, würde es Jahre dauern, bis diese noch einmal eine so gewaltige Armada an Schiffen und Soldaten aufbringen konnten für einen zweiten Versuch. Die Deutschen könnten dann einen großen Teil ihrer in Frankreich stationierten Truppen an die Ostfront werfen, um diese zu stabilisieren. Wie es dann weitergehen würde, war völlig offen. Denn die massiven Luftangriffe auf die deutschen Städte und Rüstungsbetriebe bewirkten scheinbar keinerlei Rückgang der Produktion und auch die Moral der Bevölkerung litt nicht spürbar darunter. Im Gegenteil.

      Es war ein gefährliches Spiel. David riskierte mit seinen Alleingängen, dass mögliche Gegenmaßnahmen zu spät ergriffen wurden und die daraus resultierenden Auswirkungen waren nicht abschätzbar. Aber er war besessen davon, den Deutschen persönlich einen großen Schaden zuzufügen, aus Rache für den Tod seiner geliebten Frau.

      In seinen Gedanken sah er Kate erneut vor dem brennenden Haus liegen, ihr Körper halb bedeckt von der Plane und die blauen Augen in ihrem rußverschmutzten Gesicht, die kalt und leer in den Himmel starrten. Er streckte den Rücken in ein leichtes Hohlkreuz. Mit der Hand fuhr er sich über das rechte Auge und spürte die Feuchtigkeit. Ein kurzes Räuspern, dann war er gedanklich wieder in der Besprechung zurück. Churchill interessierte sich glücklicherweise nicht dafür, wie die Unterlagen nach London gelangt waren.

      General Spaatz schaltete sich nun in das Gespräch ein und verhinderte so, dass in diese Richtung überhaupt Fragen gestellt wurden. »Ich glaube, nach momentanem Stand sind wir uns einig, dass die neuen Fluggeräte der Deutschen nicht diejenigen sind, die es bis nach Amerika schaffen könnten. Das bedeutet entweder erstens, dass keinerlei Bedrohung in dieser Hinsicht für unser Land besteht und die bisherigen Informationen falsch waren. Oder zweitens, dass die Deutschen verschiedene neue Waffen entwickelt haben, von denen die Erste seit heute Nacht eingesetzt wird und wir nach wie vor einem möglichen Angriff auf die Vereinigten Staaten ausgesetzt sind. Konnten Sie denn in den Unterlagen aus Schweden schon erkennen, was uns möglicherweise noch erwartet?« Die Frage war wieder an David gerichtet.

      »General Spaatz. Bei unserem letzten Treffen haben wir bereits über eine neue Rakete, das Aggregat 4, gesprochen und ich bin nach wie vor überzeugt, dass eine solche Rakete existiert. Diese Rakete hat, unseren bisherigen Informationen nach, zwar nur eine Reichweite von unter 200 Meilen und stellt somit nur eine Bedrohung für England dar. Was wir bisher den Unterlagen entnehmen konnten, ist eine Bestätigung dessen, worüber wir bereits gesprochen haben.« David machte eine absichtliche Pause, dann fuhr er fort. »Wir haben auf einem Papier ganz eindeutig einen Hinweis erhalten über ein Aggregat 10. Das Dokument, von dem ich hier spreche, habe ich selbst in Händen gehalten. Es war der Teil einer Skizze einer großen Rakete mit der Überschrift«, er wartete ganz bewusst noch einen kleinen Moment, bevor er mit betonender Stimme fortfuhr, »A10 Amerika.«

      David sah das Erstaunen im Gesicht von General Spaatz. Für Washington war dies ein heikler Punkt und Präsident Theodor Roosevelt glaubte diesen Informationen mehr als es Churchill tat. Daher war General Spaatz von höchster amerikanischer Ebene damit vertraut worden, hierzu einen genauen Bericht zu erstellen, der die Möglichkeiten der Existenz einer solchen Waffe klar aufzeigen sollte und ebenso die Gefahr und Auswirkungen, die eine solche Rakete für Amerika und den weiteren Kriegsverlauf haben könnte, zu analysieren. Roosevelt hatte bereits einer Kommission den Auftrag gegeben, die politischen Auswirkungen zu erarbeiten, die bestehen, wenn eine solche Waffe tatsächlich eingesetzt werden würde.

      »Mr Petrie«, warf nun Churchill in einem deutlichen Ton ein. »Wenn ich es richtig verstehe, fehlen noch einige der Informationen, die Sie uns zugesagt hatten. Gut. Dafür können Sie nichts. Ich wünsche aber, dass Sie mit allen Mitteln herausfinden, was an den Langstreckenraketen dran ist. Ich will nicht noch einmal eine Überraschung erleben, wie es heute Nacht der Fall war.«

      »Jawohl, Sir«, antwortete David. Ein angenehmes Gefühl durchfuhr ihn. Die Aussage des Premierministers erfüllte ihn mit Genugtuung, da er dies als Freibrief auslegen konnte und so seine Schritte legitimiert sah. Natürlich wusste er auch, dass er ihm die vorliegenden Informationen und die in die Wege geleiteten Maßnahmen nicht dauerhaft vorenthalten durfte. Er musste die Aktivitäten mit Churchill absprechen. Er durfte nicht zu viel auf eigene Faust handeln. Das Risiko war zu groß. Es stand so viel auf dem Spiel. Doch noch musste er warten, sonst würde der ihm womöglich sein Vorhaben durchkreuzen. Es war sein Plan und er setzte sich dafür ein, dass die Alliierten diesen Krieg gewinnen werden. Er allein wollte dazu entscheidend beitragen.

      London, Mittwoch, 14. Juni 1944, 11:30 Uhr

      David saß an seinem Schreibtisch und hielt das Fernschreiben in der Hand. Er hatte den kurzen, knappen Text sicher schon fünf Mal gelesen und sein Blick war jetzt auf die Bürotür gerichtet, die seine Sekretärin nicht richtig geschlossen hatte. Er war gedanklich weit weg in Schweden und so nahm er auch die Schritte nicht wahr, deren Laute sich langsam aus dem Wirrwarr der Arbeitsgeräusche auf dem Gang herausschälten und immer deutlicher ihren zielstrebigen Weg zu erkennen gaben. Einen Moment später trat Frank ein. Er schloss die Tür und mit einem Schlag kehrte Ruhe ein. Die Änderung des Geräuschpegels holte David aus Schweden zurück. Er nickte Frank zu, der sich auf einen der beiden Stühle vor dem Schreibtisch setzte. Das Holz der Sitzfläche knarrte unter seinem Gewicht. Frank lehnte sich zurück, was der Stuhl mit einem weiteren Ächzen quittierte. David streckte ihm das Fernschreiben entgegen. Frank überflog die wenigen Zeilen zweimal, dann sah er zu ihm auf.

      David sah ihn an, ließ aber noch einige Sekunden verstreichen. »Was meinst du, könnte das unsere Rakete sein?«

      Frank sah erneut auf das Papier und las die Zeilen ein drittes Mal.

      »Ein Einschlag in Südschweden, eine starke Explosion«, sagte Frank. »Weit verstreute Trümmerteile, aber kein Hinweis auf den Einflug eines Flugzeugs«, wiederholte er den Inhalt des Fernschreibens mit eigenen Worten. Und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Schwer zu sagen.«

      »Wenn das wirklich unsere Rakete ist, dann könnten wir jetzt vielleicht ihre