Rainer Homburger

Der Nagel


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weil du in einem solchen Loch gesteckt hast, muss ich dir doch was Vernünftiges bieten. Damit du wieder zu Kräften kommst. Und jetzt lass es dir erst einmal schmecken.«

      Sie löffelten beide ihre Suppe.

      »Willst du mir nicht erzählen, wie es dir ergangen ist?«

      Hans legte einen Moment seine Hand auf die ihre, dann erzählte er die gleiche Geschichte, die er tags zuvor bereits Dornberger wiedergegeben hatte. Dabei vermied er es aber, auf die französische Familie einzugehen. Er wollte nicht auf die beiden Kinder zu sprechen kommen, die neben einer ungewissen Zukunft auch keinen Vater mehr hatten. Er wollte Ilse damit nicht belasten.

      »Deine Suppe war einfach Weltklasse«, lobte er, als sie aufstand, um die leeren Teller abzuräumen.

      »Danke«, erwiderte sie mit einem Aufschlag in der Stimme und verschwand für einige Minuten in der Küche. Das Klappern von Töpfen und Geschirr war zu hören, bevor sie mit zwei dekorativ angerichteten Tellern zurückkehrte. Der Braten mit der Soße duftete verführerisch und in kürzester Zeit war der Raum erfüllt von einem unwiderstehlichen Geruch. Hans schluckte erwartungsvoll.

      »Sieht besser aus als das, was wir in Frankreich bekommen haben«, sagte er mit einem verschmitzten Lächeln im Gesicht, »und riecht auch besser.«

      »Das will ich doch hoffen«. Ilse forderte ihn mit einer Handbewegung auf anzufangen und nahm ihr Besteck in die Hand. Der Hauptgang wurde begleitet von einem französischen Rotwein und einem kurzen Gespräch über den aktuellen Stand der Entwicklung und anstehende Aufgaben. Hans vermied es, zu tief in Details abzutauchen. Er wollte nicht wirklich über die Arbeit sprechen. Es gab so viel anderes, was ihm jetzt wichtiger war. Er wollte die schrecklichen Erlebnisse hinter sich lassen und den Abend einfach nur genießen.

      Als er den letzten Bissen geschluckt hatte, lehnte er sich zurück und strich sich zufrieden über den Bauch. »Es war wirklich exzellent.«

      »Gern geschehen. Noch eine kleine Tasse Kaffee?«

      »Nein, danke. Ich will heute wieder einmal richtig gut schlafen.«

      »Das glaube ich dir. Ich bin gleich zurück«, sagte Ilse, stapelte die leeren Teller übereinander und ging damit in die Küche. »Du kannst Dich ja schon mal aufs Sofa setzen«, hörte er sie rufen, dann klapperte wieder Geschirr.

      Hans stand auf und ging auf das Regal zu. Er nahm einen Bilderrahmen in die Hand und betrachtete das Foto schweigend.

      »Ich vermisse ihn nach wie vor sehr und ich habe immer wieder Nächte, in denen ich Tränen vergieße, wenn ich an ihn denke«, sagte plötzlich Ilse neben ihm.

      Hans zuckte zusammen. Er hatte nicht gehört, wie sie aus der Küche zurückgekommen war.

      Sie nahm ihm den Rahmen aus der Hand und hielt ihn mit beiden Händen fest. »Es ist jetzt schon bald ein Jahr her seit dem großen Luftangriff. Hätte er nicht helfen wollen und wäre hiergeblieben, wäre er heute noch am Leben. Dieser verdammte Krieg.« Ihre Stimme wurde zittriger.

      Er konnte ihren Schmerz nachvollziehen. Er hatte viele Jahre mit Werner zusammengearbeitet und zwischen den Männern hatte sich eine starke Freundschaft entwickelt. Es hatte auch ihn schwer getroffen, als er am Tag nach dem ersten großen Angriff auf Peenemünde im August 1943 vom Tod seines Freundes erfahren hatte. Zu Ilse hatte schon immer eine freundschaftliche Beziehung bestanden und nach Werners Tod war er ein starker und wichtiger Rückhalt für sie gewesen. Er hatte sie überredet, schon bald wieder die Arbeit aufzunehmen. Das würde sie ablenken und ihr besser über die schwere Zeit hinweghelfen, hatte er ihr geraten. Sie war an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt, doch war sie seitdem einigen Dingen gegenüber kritischer eingestellt. Bisher hatte man darüber hinweggesehen, da man dies auf den schlimmen Verlust zurückführte, den sie erlitten hatte.

      Hans nahm ihr das Bild ab und stellte es in das Regal zurück. Damit holte er sie aus ihrer Gedankenwelt zurück, in die sie kurzzeitig versunken war.

      Sie fing sich überraschend schnell wieder. »Möchtest du noch ein Glas Wein?« Sie drehte sich um und ging an den Tisch, um die halb volle Flasche zu holen.

      Hans Blick fiel auf eine freie Fläche im Regal, auf der sich bereits eine feine Staubschicht gebildet hatte. »Was hat hier eigentlich gestanden?«

      »Ach, da stand doch immer das Funkgerät von Werner.« Und nach einer kurzen Pause ergänzte sie in Gedanken versunken. »Das war seine große Leidenschaft vor dem Krieg, als er noch ein bisschen Zeit dafür hatte.«

      »Und wo ist das Gerät jetzt?«

      »Das habe ich Dieter geliehen.«

      »Was will denn Dieter damit?« Hans sah sie erstaunt an.

      »Das musst du ihn schon selbst fragen. Hier ist dein Wein.« Ilse saß bereits auf dem Sofa und sah Hans auffordernd an. »Kommst du noch ein bisschen zu mir? Lass uns noch einmal anstoßen auf deine gesunde Rückkehr aus Frankreich.« Ilse trank einen Schluck, dann lehnte sie ihren Kopf an Hans Schulter. »Wie geht es Elisabeth und den Kindern?«

      Hans erzählte von daheim und wie es Elisabeth ergangen war, während er in Frankreich eingesperrt war. Dann wurde auch er müde. Das viele gute Essen und der schwere Wein taten ihre Wirkung.

      London, Dienstag, 13. Juni 1944, 09:50 Uhr

      Kaum hatten sie das Haus verlassen, explodierte in unmittelbarer Nähe ein gewaltiger Sprengsatz. Trümmer flogen umher und die Druckwelle fegte ihnen durchs Gesicht.

      Frank hielt mit der einen Hand seinen Hut fest und zeigte mit der anderen zur Straße. »Da vorne steht der Wagen.«

      Draußen war die Hölle los. Voller Panik rannten Menschen über die Straßen. Feuerwehrfahrzeuge rasten mit Getöse durch die Stadt. Dazwischen gewaltige Explosionen.

      David lief in geduckter Haltung los, Frank folgte ihm. Soldaten kreuzten ihren Weg, dichter beißender Rauch nahm ihnen die Sicht und brannte in Augen und Lunge.

      Baker ließ den Motor an, als er die beiden kommen sah. Einen Moment später saßen sie auf dem Rücksitz und Baker gab Gas, um dem Durcheinander zu entkommen.

      »Verdammt nochmal, was ist das?« Frank sah David an, der durch das Fenster nach oben starrte.

      »Irgendwelche Fluggeräte, kleiner als ein Jäger. Den Geräuschen nach kein Propellerantrieb.« David sprach, während er sein Gesicht an die Scheibe presste und nach oben sah.

      Baker dirigierte den Wagen durch die Straßen der britischen Hauptstadt. Er musste höllisch aufpassen auf die Menschen, die panisch umherliefen und ohne jede Rücksicht auf den Verkehr den nächsten bombensicheren Platz ansteuerten. Mütter schleiften ihre Kinder mit. In einem riesigen Feuerball flog plötzlich ein Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite in die Luft. Steine und Glassplitter prasselten auf den Wagen und eine gewaltige Druckwelle drückte das Fahrzeug fast auf den Gehweg. Baker kämpfte wild mit dem Steuer, um die Spur zu halten. Dann trat er voll in die Eisen. David und Frank wurden auf die Lehnen der Vordersitze geschleudert. Mit quietschenden Reifen kam der Wagen unmittelbar vor einer Bushaltestelle zum Stehen.

      »Verdammte Scheiße«, entfuhr es David, und als er auf seinen Platz zurückgerutscht war, entdeckte er das Loch in der Scheibe, genau an der Stelle, an die er kurz zuvor noch sein Gesicht gedrückt hatte. Er sah zu Frank, der das Loch anstarrte, dann ihn. David zog für einen Moment die Augenbrauen hoch und atmete tief ein und aus. Noch mal Glück gehabt, signalisiert er seinem Assistenten.

      »Alles in Ordnung?« Auch Baker saß jetzt wieder aufrecht im Sitz. Mit der rechten Hand fuhr er über die schmerzende Stelle der Brust, wo es ihn auf das Lenkrad gedrückt hatte.

      »Fahren wir weiter!«, versuchte David, keine Zeit zu verlieren.

      Baker setzte den Wagen ein paar Meter zurück. Dann umfuhr er das Metallgerippe der zerstörten Bushaltestelle und bog an der nächsten Kreuzung links ab.

      Der Wagen gab einige ungewohnte Geräusche von