Rainer Homburger

Der Nagel


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die ihn aber nicht vollends aus dem Rhythmus brachte. Nach einem kurzen Zögern fuhr er fort, ohne wirklich registriert zu haben, was sie gesagt hatte.

      »Die SS hat meinen Mann ermordet«, gab die Frau erneut von sich. Diesmal aber so laut und deutlich, dass Hans abrupt innehielt und aufhorchte.

      »Ihr habt meinen Kindern den Vater genommen«, wiederholte sie mit zittriger Stimme. Ihre Augen wurden feucht, ihr war die Verzweiflung anzusehen. »Mich interessiert überhaupt nicht, was ihre Kinder für Vorlieben haben. Meine Kinder werden ohne einen Vater aufwachsen müssen.« Sie fing an zu schluchzen. Tränen liefen ihr über das Gesicht, das sie nun in ihren Händen vergrub. Ihr Körper vibrierte sichtbar.

      Hans saß nur da und starrte sie an. Jäh aus seinen Gedanken gerissen und mit der grausamen Realität konfrontiert, wusste er nicht, was er sagen sollte. Das Mädchen im Schoß der Frau bewegte sich, streckte die Beine und drehte sich auf die andere Seite. Offenbar war sie nicht aufgewacht. Der Junge schlief weiterhin unter seiner Decke. Die Bewegungen des Kindes führten dazu, dass ihre Mutter etwas ruhiger wurde. Sie rutschte in eine sichtbar bequemere Position und legte die Hand auf die Schulter ihrer Tochter.

      Hans wurde unruhig. Trotz der vorherrschenden Kälte wurde ihm plötzlich warm und er spürte, wie er sogar anfing zu schwitzen.

      Schlagartig sah er sich wieder als Jugendlicher auf dem Friedhof stehen. Eine Situation, die ihm immer widerfuhr, wenn es um den Verlust eines ihm nahestehenden Menschen ging. Auch wenn er die Familie nie zuvor gesehen hatte, alleine die Tatsache, dass diese beiden Kinder ihren Vater verloren hatten, stellte eine Verbundenheit zu ihnen her und eine ihm bekannte Trauer überfiel ihn.

      Es passierte am 16. Mai 1930. Für Hans war es Zeit gewesen, zur Schule aufzubrechen. Seine Mutter hatte ihm das Pausenbrot gerichtet und in die Schultasche getan. Er hatte die Schuhe geschnürt und die Schultasche über die Schulter geworfen. Dann hatte er sich von seiner Mutter verabschiedet und zu seinem Vater gerufen: »Bis heute Abend.« Wie jeden Morgen hatte sein Vater am Frühstückstisch gesessen und Zeitung gelesen. Er ließ das Blatt sinken und sah mit einem Lächeln zu ihm rüber: »Mach‘s gut, mein Junge!« Hans hob zum Abschied noch einmal kurz die Hand, dann verschwand er durch die Tür. Das Lächeln seines Vaters und die Worte »Mach‘s gut, mein Junge!« sollten Hans für immer im Gedächtnis bleiben.

      Es war gegen halb zwölf Uhr, als der Direktor der Schule in das Klassenzimmer kam und Hans herausholte. Er nahm ihn mit in sein Büro und eröffnete ihm, dass sein Vater an diesem Morgen bei einem Unfall ums Leben gekommen war. Dass es durch die Explosion bei einem Raketentest passierte, erfuhr er erst später, da dies nicht offiziell bekannt gegeben wurde. Sein Vater hatte an geheimen Raketentests für das Militär gearbeitet.

      Hans fühlte sich an den Tag zurückversetzt, an dem er im Büro des Schuldirektors saß und die schreckliche Nachricht erhalten hatte. Der Vater war tot. Sein Vater, der ihm immer ein großes Vorbild gewesen war und in dessen Fußstapfen er einmal treten wollte. Hans hatte auf dem einfachen Holzstuhl gegenüber dem Direktor gesessen und versucht, die Tränen zurückzuhalten. Er wusste nicht mehr, wie er nach Hause gekommen war. Seine Mutter hatte ihn mit tränenunterlaufenen Augen in den Arm genommen und Hans spürte die Leere, die damals plötzlich in der Wohnung herrschte, genauso wie die Leere in seinem Körper. Der Tod seines Vaters hatte ihn völlig aus der Bahn geworfen. Er wurde schweigsam, sprach fast nichts mehr und zog sich von seinem Freundeskreis zurück. Seine schulischen Leistungen ließen spürbar nach und er konnte froh sein, dass zu diesem Zeitpunkt die wichtigsten Klassenarbeiten schon geschrieben waren. Dadurch war seine Versetzung in die nächste Klasse nicht gefährdet.

      Dieter war der große Rückhalt für Hans gewesen. Obwohl Dieter in Dresden wohnte, besuchte er Hans regelmäßig in Berlin und blieb die gesamten Sommerferien bei ihm. Es war nicht leicht für Dieter, ihn zu Veranstaltungen und Ausflügen mitzuschleifen, mit denen er versuchte, Hans wieder in das Leben zurückzuführen. Anfänglich widersetzte sich Hans vehement, doch ließ sein Widerstand gegen Ende der Ferien endlich etwas nach. Er ging jetzt zwar bereitwilliger mit Dieter aus, blieb dabei aber weiterhin ziemlich teilnahmslos.

      Das folgende Schuljahr war schwer. Dieter reiste nach den Ferien wieder zurück nach Dresden, hielt aber, so oft es ging, Kontakt zu ihm. Er versuchte Hans Interesse an der Raketentechnik, das ebenfalls völlig versiegt war, wieder zu wecken. Dieters unermüdlichem Einsatz war es zu verdanken, dass Hans den Abschluss der Schule schaffte. Dieter gelang es, mithilfe der Beziehungen seines Vaters, einen Studienplatz für sie beide an der Technischen Hochschule in Dresden zu bekommen. Im Herbst 1932 begannen sie ihr Studium der Luftfahrttechnik. Der Wechsel zurück nach Dresden hatte spürbare Auswirkungen auf Hans. Die Vertrautheit mit der Stadt, in der er aufgewachsen war, die vielen Bekannten aus seiner Jugendzeit sowie der Umgang mit den Kommilitonen, die es verstanden, ausgiebig zu feiern, ließen ihn den schrecklichen Tod seines Vaters mehr und mehr verdrängen. Schon bald war Hans einer von vielen Studenten an der Hochschule, dessen wiedergewonnene Begeisterung an der Luft- und Raumfahrttechnik ihn die einzelnen Semester mit Bestnoten abschließen ließ. Er hatte sich vorgenommen, die Arbeit seines Vaters fortzusetzen und so bereitete er sich gewissenhaft auf die Prüfungen vor. Schlagartig trat seine Begeisterung für die Luftfahrttechnik 1937 in den Hintergrund, als er Elisabeth kennenlernte. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen und brachte Hans mehrfach Ärger mit Julius ein. Julius Brenner war ein ehrgeiziger SS-Mann und zu diesem Zeitpunkt der Freund von Elisabeth gewesen. Hans traf sich ein paar Mal heimlich mit ihr, bis sie zwei Wochen später die Beziehung zu Julius offiziell beendete, was Hans neben einem Schwur auf ewige Rache auch zwei blaue Augen einbrachte.

      Ihre Beziehung festigte sich und so fiel ihnen die Trennung im Herbst 1937, als Hans und Dieter als Jahrgangsbesten ein Angebot der Wehrmacht für die Forschung und Entwicklung neuer Waffensysteme in Peenemünde annahmen, extrem schwer. Doch das war die Chance für Hans, die Arbeit seines Vaters fortzusetzen. Die wenigen Möglichkeiten, sich im Urlaub oder den seltenen, verlängerten Wochenenden zu treffen, verliefen entsprechend heftig und so war es Ende 1938 gewesen, als Elisabeth ihm mitteilte, dass sie schwanger war. Bevor ihr Sohn auf die Welt kam, heiraten sie im Frühjahr 1939 und im gleichen Sommer zog Elisabeth mit ihrem Sohn in das Haus von Hans Mutter in Berlin. Dies hatte den Vorteil, dass sie sich jetzt häufiger sehen konnten, da Hans beruflich regelmäßig in die deutsche Hauptstadt fliegen musste. Er genoss die wenige Zeit mit seiner Familie und auch seine Mutter freute sich über neues Leben in ihrem Heim. Zwei Jahre später bekamen sie eine Tochter, die sie Franziska tauften. Abgesehen von den kriegsbedingten Beeinträchtigungen gingen die folgenden Jahre ihren gewohnten Lauf. Nach dem schweren Luftangriff auf Berlin im November 1943 entschieden sie, dass Elisabeth mit den Kindern zurück nach Dresden ziehen solle, da dort die Gefährdung durch die Bomber deutlich geringer war. Hans Mutter weigerte sich mitzugehen, sie wollte ihr Haus in Berlin nicht aufgeben.

      Der Umzug nach Dresden erfolgte im Dezember 1943, da Hans Eltern noch ihre frühere Wohnung besaßen. Nachdem sie eine Zeit lang vermietet war, stand sie jetzt leer, sodass sie nach einer ausgiebigen Reinigung kurzfristig umziehen konnten.

      Allerlei Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf und er wusste nicht, was mit ihm geschah. Wie es jetzt weitergehen sollte. Er saß als Gefangener in dieser Zelle. Zusammen mit einer Mutter und ihren beiden Kindern, deren Mann von der SS ermordet wurde. Er sah die Frau an, dann die beiden Kinder und ein starkes Gefühl der Verbundenheit und der Mitverantwortung für ihre Situation kam in ihm auf. Sein persönliches Schuldgefühl wuchs, und als die Frau ihn plötzlich mit tränennassen Augen ansah, hörte er sich sagen: »Ich werde Ihnen helfen. Das verspreche ich Ihnen!«

      Im Atlantik, vor Lorient, Freitag, 2. Juni 1944, 23:00 Uhr

      U-2500 war befehlsgemäß um 22:00 Uhr aus dem Bunker ausgelaufen. Der schlanke Bootskörper wurde an der Hafenmauer festgemacht, die Mannschaft befand sich in erhöhter Alarmbereitschaft. Neben dem Kapitän, dem leitenden Ingenieur (LI) und den Wachen im Turm waren nur noch die Männer draußen, die den Hänger am Boot festmachten. Mit geübten Handgriffen hatten sie ihn in kürzester Zeit befestigt und dem Kapitän Vollzug gemeldet. Am Kai standen nur einige Marineoffiziere, als das Boot die Leinen einholte und die starken Elektromotoren das Gespann langsam auf Fahrt brachten. Das Hafengebiet war