Rainer Homburger

Der Nagel


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Fuß und setzte ihn langsam in die Zelle. Sein linker folgte, dann blieb er stehen und drehte sich um. Mit einem lauten Knacken wurde das Eisentor abgeschlossen. Dann fummelte der Mann den Schlüssel aus dem Schloss, steckte ihn wieder in seine Hosentasche und ohne noch einmal aufzublicken, ging er den Gang entlang, den Hans vorhin vor Panik zurücklaufen wollte. Seine Schritte hallten in unterschiedlichen Tonlagen von den gewölbten Wänden wieder, bis der Mann die Treppe erreicht hatte und verschwunden war.

      Die totale Stille verunsicherte Hans. Langsam drehte er sich um. Er nahm gerade noch wahr, dass in dieser Zelle zwei Betten standen, dann blieb sein Herz für einen Augenblick vor Schreck stehen. Auf dem rechten Bett saß eine Frau. Ihr Oberkörper lehnte an der Wand und in ihrem Schoß lag ein blondes Mädchen, das von dem neuen Zellengenossen noch nichts bemerkt hatte, denn es schien fest zu schlafen. Die Frau fuhr dem Kind in langsamen, gleichmäßigen Bewegungen über den Kopf. Misstrauisch musterte sie ihn mit ihren dunklen Augen. Offenbar versuchte sie, ihn einzuschätzen, dann drehte sie ihren Kopf und rief in einem leisen aber doch bestimmten Ton: »Daniel!« Es dauerte etwa zwei Sekunden, dann wiederholte sie den Namen noch einmal: »Daniel!« Diesmal hob sie ihre Stimme etwas an. Obwohl sie für normale Umstände nicht laut gesprochen hatte, kam es Hans in der Stille wie ein Schrei vor. Er verstand nicht, was sie meinte. Dachte sie etwa, er wäre Daniel?

      Sie wollte gerade erneut ansetzen, als Hans in den Augenwinkeln eine Bewegung vernahm. Er drehte den Kopf und spürte schlagartig die Anspannung in seinem Körper. Auf dem zweiten Bett bewegte sich der Haufen grauer Decken und ein Kopf schob sich unter ihm hervor. Die Augen blinzelten noch, als sie Hans anstarrten, dann wurde die Decke mit einer einzigen Bewegung auf die andere Seite des Betts geschleudert. Ein Junge sprang blitzartig heraus und war mit zwei schnellen Schritten bei der Frau, die ihren rechten Arm um ihn legte.

      Hans stand wie angewurzelt in der Zelle. Mit einem kurzen, schnellen Blick überflog er den Raum. Er entdeckte niemand mehr. Es blieb bei der Frau und den beiden Kindern. Der erste Schreck ließ nach und er blies hörbar aus. Sein Herz klopfte wild und schien sich nicht wirklich beruhigen zu wollen. Er versuchte ruhig und gleichmäßig zu atmen und nach kurzer Zeit spürte er, wie auch sein Puls nach unten ging.

      »Der Junge kann gerne in dem Bett liegen bleiben«, sagte er dann mit einer Stimme, der die Anspannung noch anzumerken war. Er deutete mit einer Handbewegung erst auf den Jungen, dann auf das freie Bett. Die beiden starrten Hans ununterbrochen an. Er machte einen Schritt nach vorne und sofort zog die Frau den Jungen näher zu sich heran. Hans blieb stehen.

      »Er kann sich wirklich wieder hinlegen.« Noch einmal deutete er auf das Bett, dann fügte er hinzu: »Ich tue ihnen nichts.«

      Die Frau reagierte nicht auf seine Worte, trotzdem hatte er den Eindruck, dass ihre Augen mittlerweile etwas entspannter wirkten.

      Vielleicht versteht sie mich ja überhaupt nicht. Er ging zu dem freien Bett und setzte sich an das Fußende. Sein Blick wanderte erneut durch die Zelle. Die Einrichtung war karg und entgegen den anderen Zellen besaß diese noch nicht einmal einen Stuhl. In einer Ecke stand ein Nachttopf, wie er ihn aus seiner Kindheit kannte. Nur war dieser in einem Zustand, dass man sich nicht freiwillig auf ihn setzen wollte. Die dicken braunen Ränder schienen nur auf einige Fliegen eine Anziehungskraft auszuüben, die den Topf umkreisten. An der Decke hing eine einfache Glühbirne, die über eine provisorisch angebrachte Leitung mit Strom versorgt wurde. Die Wände waren unverputzt und gaben die Handwerkerkunst vergangener Jahrhunderte wieder. Die Luft war kühl und feucht. Sein Blick ging zurück zu seinen Zellengenossen. Der Junge hatte sich auf die untere Hälfte des Betts gelegt und versucht, sich ebenfalls mit der Decke zuzudecken, die das Mädchen hatte. Doch die war für beide zu kurz und so konnte er nur ein Ende über seine Beine legen.

      Es wurde wieder totenstill. Von den Stockwerken über ihnen drang kein Laut herunter. Dafür waren die Mauern und Decken zu dick. Die Stille wirkte beunruhigend. Hans ging den Weg durch das Untergeschoss noch einmal in Gedanken durch. Soweit er feststellen konnte, war nur noch eine Zelle belegt. Die mit dem Offizier. Die übrigen Zellen waren leer gewesen. Ein deutscher Offizier und eine Mutter mit ihren Kindern dachte er. Wäre es nicht viel effektiver, alliierte Soldaten gefangen zu nehmen, anstatt der eigenen und ungefährlichen Zivilisten? So konnte man doch keinen Krieg gewinnen.

      Er sah auf die Kinder und musste unweigerlich an seine beiden denken. Wie es ihnen jetzt wohl gehen mag? Ob Elisabeth schon weiß, dass er hier in Frankreich in einem Gefängnis saß? Auf einmal verspürte er ein starkes Bedürfnis, nach Hause zu gehen, seine Liebsten in den Arm zu nehmen und den Rest seines Lebens nur noch mit ihnen zu verbringen. Wie lange war es her, seit er nach Frankreich geflogen war? Drei, vier oder schon fünf Tage? Heute war Freitag, fiel ihm nach einiger Überlegung wieder ein, abgeflogen war er am Mittwoch. Das waren gerade mal drei Tage. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor.

      Er verschloss die Arme vor der Brust. Es ist kalt. Ich muss mich zudecken. Er stützte sich mit einer Hand auf dem Bett ab, hob seinen Körper an und zog die Decke hervor. Dann schlang er sie um seinen Oberkörper und zog die Füße zu sich heran, sodass auch sie unter dem kratzenden Grau verschwanden. Die Decke stank modrig. Aber eine Alternative gab es nicht.

      Auf dem Bett gegenüber saß die Frau noch immer an die Wand gelehnt und hatte den Kopf des Mädchens auf dem Schoß liegen. Der Junge lag auf der Seite, hatte beide Beine angezogen und die Arme zwischen die Oberschenkel geschoben. Seiner Haltung nach fror er. Hans drehte seinen Kopf zum Kopfende des Betts. Dort lag noch eine weitere Decke. Genauso grau und vermutlich auch genauso muffig und kratzig. Er stand auf und nahm sie in die Hände. Es kitzelte ihm in der Nase, als er die Arme streckte, damit der Stoff auseinanderfallen konnte. Die Decke an den ausgestreckten Armen vor sich hängend, ging er langsam auf das andere Bett zu. Die Frau beobachtete nach wie vor jede seiner Bewegungen, reagierte aber diesmal nicht auf sein Näherkommen. Behutsam legte er die Decke über den Jungen. Der rührte sich nicht, wahrscheinlich war er schon eingeschlafen. Dann ging er an seinen Platz zurück. Er lehnte den Kopf an die Wand. Sie war eiskalt, aber er ignorierte es. Er schaute eine Weile ausdruckslos durch die Zelle, dann wurden seine Augenlider immer schwerer, die Müdigkeit überkam ihn. Er schloss die Augen und vor ihm lief ein Film ab. Der Film seines Lebens.

      Er sah sich als kleiner Junge über eine Wiese rennen, in die ausgestreckten Arme seiner Mutter, dahinter stand sein Vater, der ihn anlachte. Dann als Jugendlicher in einem schwarzen Anzug, mit Tränen in den Augen, auf einem Friedhof stehen. Vor dem Grab des Vaters. Dieter stand auf einmal neben ihm, als sie an der Technischen Hochschule in Dresden ihr Abschlusszeugnis entgegennahmen, dann küsste er Elisabeth in einem Brautkleid in der Kirche. Als stolzer Vater hielt er seinen Sohn Klaus und seine Tochter Franziska in den Armen und unter lautem Getöse startete unmittelbar danach eine A4-Rakete vom Prüfstand VII in Peenemünde. Dann sackte ein dunkel gekleideter Mann unter einer Straßenlaterne zusammen und der Schuss hallte Hans noch in den Ohren, als er langsam die Augen öffnete.

      Hatte er geschlafen? Er blinzelte in die Helligkeit, die zugenommen zu haben schien und sah die Frau, halb zusammengesunken, an der Wand. Er rutschte auf dem Bett umher. Seine Gelenke fühlten sich an wie ein Getriebe, das seit Jahren kein Öl mehr gesehen hatte. Jede Bewegung schmerzte und er fror am ganzen Körper. Langsam versuchte er, alle seine Glieder zu bewegen und ihnen so ein bisschen Leben einzuhauchen. Von den Geräuschen wurde die Frau wach und brachte sich mühsam in eine aufrechte Position. Hans sah sie eine Weile an, dann fragte er unvermittelt und ohne darüber nachgedacht zu haben: »Warum sind Sie hier?«

      Die Frau reagierte nicht. Hans schaute ihr in die Augen, doch sie antwortete nicht.

      »Ich habe auch zwei Kinder«, fuhr er fort. »Einen Jungen und ein Mädchen. Der Junge wird schon bald fünf Jahre alt, er hat im Sommer Geburtstag, meine Kleine ist zweieinhalb.« Hans Blick verlor sich in seinen Gedanken, die zurück nach Deutschland wanderten. Unbewusst fuhr er fort: »Meine Kleine liebt es, mit Puppen zu spielen. Sie kann sich stundenlang mit ihnen beschäftigen, und sprüht nur so vor Ideen, wenn es um ihre Puppen geht.« Hans sprach einfach weiter. Er fragte sich nicht, ob die Frau ihn überhaupt verstehen konnte oder wollte. Er war ganz in sein Privatleben eingetaucht, erzählte von seiner Familie und davon, wie sehr er sie doch vermisse. Er sprach wie in Trance, ohne sich bewusst zu sein worüber.

      »Ihr habt meinen Mann erschossen«,