Rainer Homburger

Der Nagel


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verzog das Gesicht, als erneut ein stechender Schmerz durch seine Leiste fuhr.

      »Wir haben unsere Informationen.«

      Sein Gegenüber ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er zog eine weitere Zigarette aus der offenen Packung und zündete sie in aller Seelenruhe an. Der Qualm wirbelte um die Lampe auf dem Tisch. Hans drehte den Kopf. Er konnte den Gestank nicht ausstehen. Auch deshalb waren die letzten Stunden für ihn so schlimm gewesen. Die Luft wurde immer schlechter. Der Aschenbecher auf dem Tisch war fast voll. Der Rauch zum Schneiden dicht.

      Er hustete, dann griff er zu seinem Glas Wasser. Ich darf nicht so viel trinken, ermahnte er sich. Wer weiß, wie lange ich noch hier sitzen muss. Das Sprechen fiel ihm immer schwerer, aber der Druck seiner Blase bereitete ihm inzwischen wesentlich mehr Probleme. Bloß nicht in die Hose machen, solange es geht. Er rutschte auf dem Stuhl umher, doch die Schmerzen wurden nicht weniger.

      Die Tür öffnete sich. Ein SS-Mann kam herein und flüsterte Hans Gegenüber ins Ohr. Der erhob sich und verließ den Raum. Hans schaute ihm nach und spürte für einen Moment einen Hauch Frischluft in der Nase. Er sog diesen gierig ein, doch es reichte nicht einmal für einen tiefen Atemzug.

      Nun saß er alleine am Tisch und sah ausdruckslos in das milchige Licht, das den Qualm kaum durchdringen konnte. Seine Augen brannten, der Hals war trocken. Er hatte mittlerweile jedes Zeitgefühl verloren.

      Als sich die Tür endlich wieder öffnete, schien eine Ewigkeit vergangen zu sein. Eine Ewigkeit, in der der Druck und die Schmerzen in seiner Blase schier unerträglich geworden waren. Mit aufeinander gepressten Zähnen und schmerzverzehrten Augen sah er den Mann an.

      »Kommen Sie mit!«, sagte die Silhouette in der Tür in einem Ton, der nicht erkennen ließ, was ihm bevorstand. Er konnte ebenso entlassen, wie vor das nächste Erschießungskommando geführt werden.

      Für einen kurzen Moment erschienen ihm Bilder von Elisabeth und seinen Kindern vor Augen. Dann stand er auf und wollte sich strecken. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihn und mit einem halb unterdrückten Stöhnen nahm er sofort eine nach vorne gebückte Haltung ein, um sich Erleichterung zu verschaffen. Langsam schleppte er sich zur Tür. Der Mann trat zur Seite und ließ ihn nach draußen. Er hob den rechten Arm und zeigte den Gang hinunter.

      »Da entlang«, ergänzte er in der gleichen ausdruckslosen Stimmlage von vorhin und ging voraus. Er beachtete Hans nicht weiter.

      Er weiß, dass ich in meinem Zustand sowieso nicht fliehen kann, dachte Hans und ohne auf seine Umgebung zu achten, setzte er schlurfend und mit schmerzverzerrtem Gesicht einen Fuß vor den anderen. Als er endlich die nächste Ecke erreicht hatte, vernahm er nur noch die Worte des Mannes. »Die erste Tür rechts. Ich warte hier.«

      »Danke.«

      Hans verschwand in der Toilette und wollte die Tür hinter sich abschließen. Der Schlüssel fehlte. Er dachte nicht weiter darüber nach, ließ hastig seine Hose herunter und setzte sich. Wogen der Erleichterung durchfuhren ihn.

      Als seine Blase leer war, blieb er sitzen und überlegte. Wo war er? Er hatte nicht die leiseste Ahnung. Warum hatte man ihn verhaftet? Was wollten diese Männer von ihm? Sie sprachen von Spionage, Kontakten ins Ausland und Informationen, die er angeblich weitergegeben haben soll. Wie kamen sie nur auf so etwas? Er stellte beide Ellenbogen auf die Oberschenkel und legte den Kopf in die Hände. Wenn ich hier sitzen bleibe, erfahre ich nicht, was man von mir will, sagte er sich schließlich. Mit einem Seufzer stand er auf und zog die Hose hoch.

      Draußen wurde er bereits erwartet, und ehe Hans etwas sagen konnte, ging der Mann zielstrebig auf ihn zu.

      »Kommen Sie mit!«

      Wieder ließ der Ton des Mannes keine Rückschlüsse zu. Jetzt ging er neben Hans. Er überragte ihn um eine Kopflänge und zog bei den Türen instinktiv den Kopf ein. Diesmal achtete Hans auf die verschiedenen Räume und Gänge. Das Gebäude musste älter sein. Auf den Böden lagen lange Holzdielen, von denen manche kräftig knarrten. Die Zimmer waren höher als gewöhnlich und an der Decke mit Stuck versehen. Viele waren mit Tapeten ausgestattet, die überhaupt nicht zu der von den Deutschen neu eingebrachten Einrichtung passten. In den Räumen standen jeweils mehrere Schreibtische und auf jedem mindestens ein Telefon. Überall liefen Drähte und Kabel am Boden entlang und steuerten auf einen Schacht am Ende des Flurs zu, in dem sie nach unten verschwanden. Fast alle Arbeitsplätze waren besetzt und es wurde eifrig telefoniert.

      Sie gingen einen Gang entlang, an dessen Ende sich eine große, doppelflügelige Holztür befand, vor der zwei Soldaten Aufstellung bezogen hatten. Einer der Flügel stand offen und ließ einen Blick nach draußen zu. Er sah den vorderen Teil eines Wagens. Weiter hinten eine Hecke, die das Areal umgrenzte. Sie gingen noch ein Stück, dann hob der Mann den linken Arm und wies Hans an, einer Treppe, die sich hinter einem im Bogen gemauerten Durchgang befand, zu folgen. Hans zögerte kurz, doch der Blick seines Begleiters war eindeutig.

      Die Stufen führten nach unten und die Temperatur nahm spürbar ab. Sie kamen in einen langen unterirdischen Raum, dessen Decke sich in leichten Bogenformen, auf mehreren Stützpfeilern stehend, durch den Raum zog. Ein Weinkeller, dachte Hans im ersten Moment. Doch je weiter sie durch den Mittelgang gingen, desto mehr offenbarte sich ihm die tatsächliche Verwendung dieses Untergeschosses. Alle Durchgänge zu beiden Seiten waren mit Eisengittern versperrt. Hans warf einen Blick in den Raum zu seiner Rechten. Eine einfache Schlafmöglichkeit auf der einen Seite, auf der anderen befand sich ein Stuhl, das war alles. Der Keller wird als Gefängnis genutzt, ging es ihm entsetzt auf und ein ungutes Gefühl beschlich ihn.

      Fast unmerklich wurde er langsamer. Sein Begleiter behielt seinen Schritt bei und bekam dadurch einen kleinen Vorsprung. Nach ein paar Metern drehte er den Kopf, und ohne dass er ihn direkt ansah, wusste Hans sofort, was er ihm sagen wollte. Er beeilte sich und war einen Moment später wieder mit dem Mann gleichauf, der zielstrebig die nächste Zelle auf der linken Seite ansteuerte. Er blieb davor stehen und schien zu überlegen. Hans warf einen Blick durch die teilweise schon verrosteten Eisenstäbe. Auch sie enthielt ein Bett, auf dem eine zusammengeknüllte, graue Decke lag. Am Kopfende des eisernen Bettgestells stand ein einfacher Holzstuhl. Wie in der anderen auch. Seine Augen wanderten über den Boden und entdeckten rotbraune Flecken auf den Steinen. An der Wand waren ebenfalls welche, aus denen eine rötliche Flüssigkeit in langen, nach unten verjüngenden Bahnen der Schwerkraft nachgegeben hatte. Blut, dachte Hans und Unwohlsein ergriff ihn. Für einen Moment sah er seinen Begleiter an, dann drehte er sich um und der Blick fiel in die gegenüberliegende Zelle. Der Raum war belegt und zu seiner Überraschung mit einem Offizier der deutschen Wehrmacht. Der Mann saß auf dem Bett, die Mütze lag auf dem Stuhl daneben. Die Jacke war halb aufgeknöpft, der obere Hemdkragen geöffnet, die Krawatte hing über der Lehne. Hans hatte bei seiner Arbeit in Peenemünde fast täglich mit Offizieren zu tun, sodass er die Uniformen und Rangabzeichen gut kannte. Den Rang, den dieser Gefangene hatte, konnte er allerdings nicht genau erkennen. Er hätte auf einen Major getippt. Hans schnürte es die Kehle zu. Jetzt sperren sie schon die eigenen Offiziere ein. Panik breitete sich aus und er verspürte das Verlangen, loszurennen. Sein Blick fixierte den Offizier, der ihn ausdruckslos anstarrte, dann wanderten seine Augen den langen Gang zurück, durch den sie gekommen waren. Der Drang abzuhauen, wuchs. Sein Herzschlag wurde schneller und er spürte jeden Pulsschlag im Kopf. Seine Hände fingen an zu schwitzen und die ersten Schweißperlen rannen seine Stirn hinunter. Er musste etwas unternehmen.

      Plötzlich packte ihn eine starke Hand am Oberarm und zog ihn mit. Sein Begleiter hatte es sich wohl anders überlegt und eine andere Zelle für ihn ausgewählt. Hans stolperte über seine eigenen Füße. Doch der eiserne Griff hielt ihn mühelos fest, sodass er nach dem Ordnen seiner Beine das Gleichgewicht wiederfand. Der Mann zog ihn eine Zelle weiter, blieb dort vor einer verrosteten Eisentür stehen und zog einen Schlüsselbund hervor. Das Geräusch der aneinanderstoßenden Schlüssel hallte eigenartig von den Wänden wieder. Die Hand an Hans Oberarm lockerte ihren Griff, dann gab sie ihn komplett frei. Hans rieb sich die schmerzende Stelle. Er vernahm das Drehen des Schlüssels und das Öffnen des Schlosses. Mit einem verwirrenden Knarren ging die Tür auf und ein fast schon freundlich klingendes »Bitte schön« forderte ihn zum Eintreten auf.

      Hans betrachtete