Rainer Homburger

Der Nagel


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können?«

      Lorient, Freitag, 2. Juni 1944, 17:25 Uhr

      Der Raum war erfüllt von den Gesprächen der Mannschaft und der Wissenschaftler. Die Männer waren frisch geduscht und eingekleidet, der Dreck der harten Arbeit der letzten Tage war weggewischt. Nun wuchs die Spannung. Bis auf den Kapitän wusste niemand, in welche Richtung sie dieser Sondereinsatz bringen würde. Das endgültige Ziel der A4-Rakete kannte aber selbst der Kommandant noch nicht. Die Zielkoordinaten und der geheime Einsatzbefehl lagen in einem verschlossenen Umschlag, der erst auf See und nach einem vereinbarten Funkspruch aus dem Führerhauptquartier geöffnet werden durfte.

      Für Hans hatte dieses Projekt im Dezember 1943 begonnen. Es war genau eine Woche vor Weihnachten gewesen, als Dieter und er zu Wernher von Braun gerufen wurden. Von Braun eröffnete ihnen, dass sie für den nächsten Tag zusammen mit Walter Dornberger nach Berlin beordert waren. Für dreizehn Uhr war eine Besprechung bei Heinrich Himmler angesetzt und die klaren Anweisungen aus der Reichshauptstadt ließen keinen Zweifel an der Brisanz des Termins aufkommen.

      Was mochte jetzt wohl auf sie zukommen? In einer Woche war Weihnachten, bereits das Fünfte in diesem Krieg. Hans dachte an seine Kinder und Elisabeth und freute sich auf ein paar Tage mit ihnen. Er hatte viele Fragen beantworten müssen, um die Woche nach den Feiertagen freizubekommen. Es wurde immer schwieriger, Urlaub zu machen. Der Krieg forderte mehr und mehr von jedem Einzelnen und die eng gesetzten Termine waren, wenn überhaupt, nur unter maximalem Einsatz aller zu halten.

      In Berlin wartete bereits ein Wagen auf sie, der sie in die Prinz-Albrecht-Straße brachte.

      Der Eindruck, den die Hauptstadt machte, hatte nicht mehr das Geringste mit dem zu tun, was sie einmal gewesen war. Eine blühende Stadt, in der das Leben pulsierte. In der sich eine Vielzahl Straßencafés durch die belebten Straßen zogen und Anziehungspunkt der Berliner und ihrer ausländischen Gäste waren. Abends versuchten viele Leuchtreklamen, die Menschen in ihren Bann zu ziehen und zum Besuch eines der angesehenen Theater oder in ein Varieté zu locken. Die Stadt war überzogen gewesen von Hakenkreuzfahnen, die an allen wichtigen Gebäuden und Einrichtungen hingen und rein farblich gesehen, in Kombination mit Bäumen und Grünbereichen deutliche Akzente setzten.

      Hans Blick fiel auf eine lange Reihe zerstörter Wohngebäude. Der Luftangriff im vergangenen November war einer der schwersten bisher und Hans war erst beruhigt gewesen, als er mit seiner Mutter telefoniert und erfahren hatte, dass sie unversehrt davongekommen war.

      In der Prinz-Albrecht-Straße angekommen, zwängten sie sich aus dem Wagen. Eine Ordonnanz von Himmler wartete am Eingang, führte sie in einen kleinen Raum und bat sie zu warten. In einer Ecke stand eine Kaffeekanne mit frisch gebrühtem Kaffee, mehreren Tassen und einem Kännchen Milch. Der Kaffeeduft erfüllte den gesamten Raum. Hans hatte bereits seine zweite Tasse zu sich genommen, als sich auf der gegenüberliegenden Seite eine Tür öffnete.

      »Der Reichsführer lässt bitten«, forderte sie ein Mitarbeiter Himmlers auf. Dem verantwortlichen Leiter Walter Dornberger und dem Technischen Direktor Wernher von Braun folgend, betrat Hans vor Dieter das Zimmer. Himmler saß an seinem Schreibtisch und kam nach einer kurzen Begrüßung auch schnell auf den eigentlichen Grund ihres Treffens.

      Er berichtete von der großen Enttäuschung des Führers, der bereits im Sommer den Bau der A10-Rakete befohlen hatte und feststellen musste, dass die Entwicklung weit hinter den geforderten Terminen herhinkte. Natürlich wich Hitler keinen Zentimeter von seiner Forderung ab und der Befehl galt weiterhin, trotzdem musste eine Alternative ins Auge gefasst werden, derer er sich nun annahm. Dann hatte er ihnen eröffnet, durch einen massiven Einsatz der A4-Raketen im kommenden Jahr dem Krieg die entscheidende Wende geben zu wollen. Aus diesem Grund hatte er mit höchster Dringlichkeit die zusätzliche Realisierung der Abschussmöglichkeit auch von See her gefordert und Hans und Dieter dafür die Verantwortung übertragen. Gerade der Verschuss von See her würde ihnen die Option geben, mit einem Täuschungsmanöver die Amerikaner glauben zu lassen, dass die neuen Interkontinentalraketen doch fertig geworden waren. Unabhängig davon sollte die bereits laufende Entwicklung an der A10-Rakete intensiviert werden. Dabei verwies er erneut darauf, dass sie im vergangenen Sommer in der Wolfsschanze für das Projekt die höchste Dringlichkeit erhalten hatten und der Führer bald Resultate sehen wolle. Trotz der vielen Rückschläge befahl er den ersten Testflug der Interkontinentalrakete noch für das Jahr 1944. Auch dafür waren Hans und Dieter verantwortlich. Wie sollen wir denn das alles schaffen? ging es Hans durch den Kopf.

      Die Wissenschaftler protestierten energisch, doch Himmler ließ keinen Widerspruch zu. Er wischte die Argumente beiseite und verwies wiederholt auf den Führer. Sie wüssten bereits seit Sommer Bescheid und arbeiteten somit seit einem halben Jahr an der Umsetzung und er sähe keinen Grund, warum dann ein Termin in 1944 nicht realisierbar sein sollte. Er versprach die kurzfristige Bereitstellung weiterer Arbeitskräfte und seinen gesamten Machtapparat einzusetzen, damit sie die maximale Unterstützung bekommen würden.

      Obwohl Hans und Dieter mit ihrer Gruppe seit dem erfolgreichen Erstflug eines A4 im Oktober 1942 an der Entwicklung einer zweistufigen Interkontinentalrakete arbeiteten, stellte dieses Projekt doch alles bisher da gewesene bei Weitem in den Schatten. Eine Rakete zu starten, die sich bis zu fünfundachtzig Kilometer in die Atmosphäre schraubte, und eine Reichweite von annähernd dreihundert Kilometern aufwies, war schon eine ungeheure Leistung. Die Forderung, in einer so kurzen Zeit eine interkontinentale Rakete zu entwickeln, die bis nach Amerika fliegen konnte, also eine Entfernung von über 7000 Kilometer überbrücken musste, war der absolute Wahnsinn. Dagegen stellte sich die Anweisung, den Verschuss einer A4-Rakete von See her zu ermöglichen, fast schon als Kleinigkeit dar.

      Himmler hielt Wort.

      Bereits Mitte Januar 1944 trafen weitere Ingenieure in Peenemünde ein die, so gut es ging, auf die vorhandenen Gebäude verteilt wurden. Dies erschwerte die bisherigen Entwicklungen, denn ihre Einarbeitung und Integration in die laufenden Projekte erforderte einen ungeheuren zusätzlichen Aufwand. In mehreren Sonderzügen kamen unzählige Kriegsgefangene, die sofort zum Bau von Wohn- und Arbeitsgebäuden herangezogen wurden. Gleichzeitig erhöhte die SS ihre Präsenz und mischte sich verstärkt in das Leben und die Arbeit in Peenemünde ein.

      Das Ergebnis der Entwicklung eines Schwimmkörpers für den Transport und den Verschuss von See aus schwamm nun im Bunker KEROMAN III neben U-2500 und würde heute Nacht zu seinem Einsatz aufbrechen. Daneben lag eine weitere geheime Neuentwicklung. Das erste der neuen, großen Elektro-U-Boote, das den Schwimmkörper zu dem noch unbekannten Einsatzort bringen sollte. War dies nun der Auftakt zu dem schon lange propagierten und bevorstehenden Endsieg?

      Die Mannschaft von U-2500 setzte sich aus Elitesoldaten der deutschen U-Boot-Waffe zusammen. Sie waren nach genau vorgegebenen, strengen Regeln ausgesucht und in den letzten Monaten intensiv ausgebildet worden. Eine Ausbildung, die neben dem alten U-Boot-Typ VIIC auch eine umfangreiche Vorbereitung auf dem neuen Typ XXI beinhaltet hatte.

      Endlich war es so weit. Der Einsatz stand unmittelbar bevor und nun konnten auch sie ihren Beitrag zum deutschen Sieg leisten.

      Der Saal lag im Erdgeschoss des Kasernengebäudes. Auf langen, dunklen Holzdielen waren einfache Stühle aneinandergereiht worden. Vorne hatte man ein Rednerpult aufgestellt und an die Wand eine riesige Hakenkreuzfahne gehängt. Rechts daneben hing ein gemaltes Porträt von Hitler. Die Fenster waren durch schwere Vorhänge verdeckt, der Raum selbst wurde von den Lampen an der Decke nur unzureichend beleuchtet. Im vorderen Bereich hingen drei provisorisch angebrachte Strahler, die auf die Fahne, das Bild des Führers und das Rednerpult ausgerichtet waren.

      Hans hatte gegen vierzehn Uhr die Einsatzbereitschaft des Boots und des Hängers gemeldet. Sie hatten es geschafft, noch in der Nacht alle Umbaumaßnahmen abzuschließen. Am Vormittag war dann eine letzte Gesamtprüfung der technischen Anlage erfolgreich absolviert worden. Obwohl die neuen Stecker noch geliefert wurden, hatten sie sich nicht einmal die Mühe gemacht, sie auszupacken und zu prüfen. Sie wollten kein Risiko mehr eingehen. Das System funktionierte und das Boot war einsatzbereit. Nur das zählte jetzt.

      Hans saß neben seinem Freund. Nervosität und eine innere Spannung