Rainer Homburger

Der Nagel


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in dem Augenblick vor Anspannung und Angst fast zu zerspringen. Er wollte fliehen, hatte die Häuserfront abgesucht nach einem Durchgang, durch den er hätte verschwinden können. Da war etwas gewesen. Fünfzig Meter hatte er geschätzt. Er hatte gezögert. Gott sei Dank! Noch nie hatte er solche Angst um sein Leben gehabt und er war sich sicher, dass man ohne Zögern geschossen hätte. Niemand hätte es interessiert, dass er einen diplomatischen Pass besaß. Doch sein Zögern hatte ihn gerettet. Plötzlich war ein SS-Offizier erschienen. Die Soldaten hatten Haltung angenommen und der Vorgesetzte gab ein paar kurze Anweisungen, die sie mit »Jawohl« bestätigten. Der Soldat mit den beiden Koffern in den Händen beeilte sich, sie wieder in den Wagen zu legen. Dann murmelte er etwas von »Entschuldigung« und hatte Carl angedeutet, wieder einzusteigen. Er gab ihm seinen Ausweis und trat dann ein paar Schritte zurück. Carl war eingestiegen und musste seine rechte Hand über die linke legen, so stark zitterte die. Schweißperlen rannen ihm unablässig über die Stirn. Er atmete langsam ein und aus und versuchte sich zu beruhigen. Auf der anderen Seite des Fahrzeugs hatte auch sein Fahrer den Ausweis zurückbekommen. Er startete den Motor und sie fuhren in Richtung Tempelhof, wo bereits die schwedische Maschine wartete. Er wusste, dass dies sein letzter Flug von Berlin nach Stockholm war und dass er nicht zurückkommen würde. Er fuhr sich mit einem Taschentuch über die Stirn, als sie den Flughafen erreichten. Die fünfzig Meter hätte er nie geschafft.

      Erst als sie den deutschen Luftraum hinter sich gelassen hatten, ließ die Anspannung etwas nach. Jetzt freute er sich auf Zuhause. Auf das Haus seiner Eltern, eine warme Badewanne und das Gefühl, völlig frei und unbeschwert tun zu können, was man mochte. Ohne irgendwelche Einschränkungen, ohne der ständigen Bedrohung durch Luftangriffe, ohne kaputte Straßen und zerstörte Häuser, ohne Menschen, die nicht mehr lachen konnten. Er freute sich darauf, endlich wieder bei seinen Freunden und seiner Mutter zu sein.

      Der Flughafen Bromma war vor acht Jahren gebaut worden, lag außerhalb der Stadt und wurde für alle inländischen und internationalen Flüge eingesetzt.

      Die Maschine näherte sich dem Boden, und als Carl die gleichmäßige Beleuchtung zu beiden Seiten der Betonstrecke sah, hatte er das Gefühl, endlich wieder in ein Leben in geordneten Bahnen zurückzukehren. Nur ein leichtes Rütteln verriet, dass der Pilot eine Bilderbuchlandung hingelegt hatte. Dann drückte ein starkes Bremsen seinen Körper in den Gurt.

      Carl schaute aus dem Fenster und sah die Flughafengebäude auf sich zukommen. Kurze Zeit später rollten sie an einigen abgestellten Flugzeugen vorbei und langsam drehte sich die Spitze der Maschine auf das Gebäude am Ende des Rollfelds zu. Am liebsten würde er sofort nach Hause fahren, doch er musste noch mit dem Koffer zum Außenministerium. Er hatte bereits einen Wagen bestellt, der ihn zu den Regierungsgebäuden bringen sollte. Vielleicht holte ihn ja Björn ab. Zu ihm hatte er in den letzten Jahren ein freundschaftliches Verhältnis aufgebaut und er würde sich freuen, ihn zu sehen. Trotzdem nahm er sich vor, wirklich nur den Koffer abzugeben. Dann wollte er so schnell wie möglich nach Hause, wo ihn seine Mutter bereits erwartete. Die Maschine rollte auf das Terminal zu und kam einige Meter davor zum Stehen. Der Pilot schaltete die Motoren ab.

      Carl schloss die Augen und genoss für einen kurzen Moment die Ruhe. Dann atmete er tief ein und erhob sich. Er zog sein Jackett an, griff nach den beiden Koffern und ging mit eingezogenem Kopf den Gang des Flugzeugs nach vorne. Ein Flugbegleiter hatte bereits die Tür geöffnet, eine Treppe wurde herangeschoben. Carl trat an den Ausgang und ließ seinen Blick über das Flughafengelände streifen. An den Gebäuden hatte sich seit dem letzten Mal nichts verändert. Er ging ein Stück hinaus auf die Plattform und vernahm jetzt im Hintergrund die Geräusche der Bauarbeiten an der neuen Start- und Landebahn. Er setzte den rechten Fuß behutsam auf die erste Stufe, dann ging er langsam Schritt für Schritt nach unten. »Hej då«, hörte er den Flugbegleiter noch sagen, dann setzte er bereits einen Fuß auf die Erde und eine unheimliche Erleichterung durchfuhr seinen Körper.

      Er steuerte auf den Eingang der großen Halle zu. Ein Mitarbeiter des Flughafens sah ihn mit den Koffern, trat an die Tür und hielt sie ihm auf.

      »Tack«, bedankte sich Carl und ging in die Halle. Er begab sich sofort zur Einreisekontrolle, setzte die Koffer ab und zeigte seinen Diplomatenausweis. Der Beamte erkannte ihn, nickte und Carl beeilte sich beim Durchqueren der Halle. Er verließ das Gebäude auf der anderen Seite und sah den schwarzen Volvo mit dem Fahnenständer auf dem Kotflügel zwischen den wartenden Fahrzeugen. Der Mann, der an der Fahrertür lehnte, sah herüber, winkte und umrundete dann den Wagen, um ihm die Tür zu öffnen.

      »Hej Björn«, strahlte Carl, der sich sichtlich freute und dessen Stimmung sich weiter hob. Er warf die beiden Koffer auf den Rücksitz, dann wandte er sich seinem Freund zu und umarmte ihn.

      »Välkomen«, begrüßte ihn Björn. Auch er war heilfroh, ihn gesund wiederzusehen. »Und, alles in Ordnung?«

      Carl nickte. Er war überglücklich, wieder in Stockholm zu sein. Auch wenn er sich nach der Landung schon befreit gefühlt hatte, die Umarmung seines Freundes ließ noch einmal eine Woge der Erleichterung durch seinen Körper fahren. Die restliche Anspannung fiel von ihm. Er fühlte seine Beine schwach werden und bekam feuchte Augen.

      Björn legte ihm die Hand auf den Arm.

      »Komm, lass uns von hier verschwinden.«

      Carl sah, dass Björn auf dem Beifahrersitz einen großen Karton stehen hatte.

      »Lass ihn stehen«, entschied er kurzerhand, stieg hinten ein und rutschte in die Mitte des Rücksitzes. Björn schloss hinter ihm die Tür, ging um das Auto herum und nahm auf dem Fahrersitz Platz. Er drehte sich in seinem Sitz nach hinten und grinste Carl fragend an.

      »Na, wohin darf‘s denn gehen?«

      »Ich muss noch zum UD, einen Koffer abgeben, dann nach Hause.«

      Das UD war die schwedische Abkürzung für das Außenministerium in Stockholm.

      »Dann wollen wir mal keine Zeit verlieren.« Björn startete den Motor, fuhr aus dem Parkplatz heraus und beschleunigte.

      »Du kannst dir nicht vorstellen, wie froh ich bin, wieder hier zu sein«, sagte Carl und schaute aus dem Fenster, um die Umgebung in sich aufzunehmen. Björn sah in den Rückspiegel und nickte. Dadurch fiel ihm nicht auf, dass ein großer, dunkler Mercedes vier Plätze hinter ihnen ebenfalls den Parkbereich verließ.

      Nachdem der Wagen die Flughafengebäude hinter sich gelassen hatte, machte die Straße eine Linkskurve, um nach einigen Hundert Metern nach rechts Richtung Stockholm abzubiegen. Es war wenig los und Björn beschleunigte den PV 51 über die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf dieser Strecke hinaus. Mit gleicher Geschwindigkeit folgte ihnen der dunkle Mercedes.

      »Na, wie geht es dir, wie sieht es denn aus in Deutschland?« Björn interessierte sich sehr dafür, was sich alles durch den Krieg veränderte.

      »Es wird immer schlimmer. Die Luftangriffe zerstören immer größere Bereiche, es gibt kaum noch Möglichkeiten, ein halbwegs normales Leben zu führen, soweit man das in einem Krieg dieser Dimension überhaupt kann. In der Stadt kann man sich nur noch schwer bewegen, zumal die öffentlichen Verkehrsmittel nur eingeschränkt fahren und die Straßen durch die Luftangriffe einfach nicht mehr nutzbar sind. Für unsere Fahrzeuge bekommen wir nur noch selten Benzin, sodass wir oft laufen oder uns auch mal aufs Fahrrad schwingen müssen.«

      »Na, ein bisschen Bewegung hat dir doch noch nie geschadet.« Björn lachte. »Deinen Bauchansatz bist du aber trotzdem noch nicht losgeworden, wie ich sehe.« Björn streckte seinen Kopf und schaute im Rückspiegel an Carl herunter.

      Die beiden verband ein herzliches Verhältnis. Sie verstanden sich gut und verbrachten auch außerhalb der Arbeit einen Teil ihrer Freizeit miteinander. Zumindest dann, wenn Carl es bei seinen Besuchen in Stockholm irgendwie einrichten konnte.

      »Und die Arbeit wird immer aufreibender«, fuhr Carl fort, »besonders seit dem großen Luftangriff vom 22. November letzten Jahres. Du weißt ja, dass wir ein anderes Gebäude unweit der Rauchstraße mieten konnten, nachdem unser Haus bei diesem Angriff komplett ausgebrannt ist. Aber auch hier wird es immer schwieriger, die Aufgaben vernünftig durchzuführen. Das größte Problem ist, irgendetwas