Rainer Homburger

Der Nagel


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Wagen langsam vorwärts rollte. Die Häuser entlang der Straße wiesen unterschiedlich starke Schäden durch Luftangriffe auf. Manche hatten nur zersprungene Fensterscheiben, die provisorisch mit Karton abgedeckt waren. Andere teilweise massive Beschädigungen an den Dachböden oder an mehreren der oberen Stockwerke. Dazwischen riesige Haufen aus Steinen und verkohlten Brettern. Von Häusern, die völlig dem Erdboden gleichgemacht waren. Carl dachte an die Menschen, die einmal darin gewohnt hatten. Familien, deren Existenz zerstört war, von denen viele wahrscheinlich nicht mehr am Leben waren. Er dachte an die Kinder, die ihre Eltern oder Geschwister verloren hatten, an die Frauen und Mütter, die sehnsüchtig auf eine Nachricht ihrer Männer und Söhne von der Front warteten. Und an die Großeltern, die jetzt zum zweiten Mal in diesem Jahrhundert einen Weltkrieg miterleben mussten. Er dachte an das Leid, das dieser Konflikt über alle Menschen gebracht hatte, unabhängig davon, auf welcher Seite sie lebten und kämpften. Er hatte sich vorgenommen, seinen Beitrag zu leisten, damit der Krieg so schnell wie möglich beendet wurde und diejenigen, die für all das verantwortlich waren, zur Rechenschaft gezogen werden konnten.

      Sein Blick fiel auf die SS-Soldaten, die die Fahrzeuge durchsuchten und die Papiere der Insassen kontrollierten. Er wurde langsam unruhig. Auf seiner Haut bildeten sich Schweißperlen. Er dachte an den Inhalt eines der Koffer. Wenn sie dies entdecken, würde man ihn sofort verhaften und als Spion erschießen. Schweiß lief ihm über die Stirn direkt ins Auge. Er kniff es zusammen. Es brannte höllisch.

      Vor ihrem Fahrzeug befanden sich nur noch ein halbes Dutzend Fahrradfahrer, ein ziviler Wagen und der alte Mann mit seinem Pferdegespann. Die Soldaten sprachen mit jeder einzelnen Person, die sie kontrollierten. Sie verglichen deren Papiere mit einer Liste. Doch bisher hatten sie noch jeden durchfahren lassen.

      Was passiert, wenn ich die Koffer öffnen muss? dachte Carl und fuhr sich mit einem Taschentuch über die Augen. Sie hatten keine Berechtigung, ihn zu kontrollieren. Sein Ausweis wies ihn als Mitarbeiter der schwedischen Gesandtschaft aus und auf dem Fahrzeug waren die entsprechenden Zeichen angebracht. Er stand unter diplomatischer Immunität. Laut internationalem Recht durften sie ihn nicht anhalten oder durchsuchen. Doch interessierten sie sich überhaupt für irgendwelche Vereinbarungen? Deutschland hatte schon viele Verträge abgeschlossen und wieder gebrochen. Unzählige Menschen wurden verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt. Neutrale Staaten waren angegriffen und Menschenrechte missachtet worden. Warum sollten sie gerade jetzt die internationalen Übereinkommen beachten und ihn durchwinken?

      Er spürte das Hemd an seiner Haut kleben.

      Sie mussten ihn einfach durchlassen. Der Inhalt des einen Koffers musste unbedingt nach Stockholm. Die Informationen waren von weitreichender Bedeutung und konnten sich so massiv auf den weiteren Kriegsverlauf auswirken, dass er sie auf jeden Fall außer Landes bringen musste. Die Alliierten mussten davon erfahren, damit sie entsprechende Gegenmaßnahmen ergreifen konnten. Deutschland durfte diesen Krieg nicht gewinnen.

      Der letzte der Radfahrer stieg in die Pedale und radelte davon. Der zivile Wagen dahinter fuhr an und hielt direkt neben einem der Soldaten, der das Fahrzeug kontrollierte. Der alte Mann vor ihnen zog am Zügel und langsam setzte sich das Pferd mit dem Karren in Bewegung.

      Was würde er tun, wenn sie ihn verhaften wollten? Würde er versuchen zu fliehen? Vielleicht schaffte er es ja, in einem der beschädigten Häuser zu verschwinden und irgendwo hinten wieder rauszukommen. Er drehte sich um und blickte die Häuserfront entlang. Auf den nächsten fünfzig Metern waren zumindest im Erdgeschoss alle in Ordnung und die Türen geschlossen. Erst danach gab es Lücken. Fünfzig Meter waren zu weit, er würde es nicht schaffen. Sie würden ihn erschießen.

      Vor ihnen setzte sich der Pferdekarren in Bewegung. Die Soldaten hatten das zivile Fahrzeug fahren lassen. Nach einem Meter blieb das Pferd plötzlich stehen. Der alte Mann zog ruckartig am Zügel. Das Pferd verweigerte noch einen Moment den Dienst, trottete dann aber doch weiter.

      Mit einem Ruck fuhr ihr Wagen an und jetzt direkt bis zur Straßensperre. Der Fahrer öffnete das Fenster und gab dem Soldaten ihre Ausweise. Der betrachtete sie ausgiebig, dann ging er zu seinem Vorgesetzten, der an der Absperrung lehnte. Sie unterhielten sich kurz, dann kamen beide auf sie zu. Carl verschränkte die Hände. Seine Finger waren feucht, er schwitzte stark.

      Der ranghöhere Soldat beugte sich zum Fahrer herunter.

      »Steigen Sie bitte aus!«

      Carl spürte, wie es ihm erneut den Schweiß aus den Poren trieb. Sein Hemd klebte mittlerweile komplett am Rücken. Der andere Soldat ging um den Wagen herum, öffnete die Tür und forderte auch ihn auf, auszusteigen. Langsam hob Carl sein rechtes Bein und setzte es auf die Straße. Er rutschte auf dem Sitz noch ein Stück an die offene Tür heran und stieg aus.

      Der Soldat betrachtete den Ausweis und musterte ihn eingehend. Offenbar verglich er das Foto mit seinem Gesicht. Zum Glück ist das Bild recht neu, ging es Carl durch den Kopf. Plötzlich bückte sich der Uniformierte und schaute auf den Rücksitz.

      »Was ist in den Koffern?«, fragte er, drückte Carl auf die Seite und zog die beiden Koffer aus dem Wagen.

      London, Mittwoch, 31. Mai 1944, 08:50 Uhr

      Die kleinen Scheibenwischer tanzten auf der Scheibe hin und her und führten einen fast aussichtslosen Kampf gegen den starken Regen. Obwohl schon kurz vor neun Uhr, war es an diesem Morgen noch ungewöhnlich dunkel. Lieutenant Baker saß hinter dem Steuer und wartete. Er stand bereits zwanzig Minuten vor dem Haus und beobachtete die Wassertropfen, die in breiten Strömen über die Frontscheibe liefen und am unteren Ende ohne erkennbare Logik nach rechts oder links abbogen. Es schüttete zeitweise so stark, dass man durch die Scheibe nichts mehr sehen konnte. Er schaltete wiederholt die Scheibenwischer ein, die sich mit unübersehbarer Mühe gegen den Regenschwall nach oben kämpften. Baker schaute auf seine Armbanduhr. Gleich neun Uhr. Lange durfte es nicht mehr dauern, sonst würden sie es nicht rechtzeitig zur Besprechung schaffen. Viele Straßen waren nur provisorisch geflickt. Es gab also keine Möglichkeit, Zeit gutzumachen. Und bei dem Sauwetter konnte er sowieso nicht schnell fahren. Das Prasseln auf das Autodach ließ etwas nach und Baker schaute durch die Frontscheibe in den Himmel. Soweit das Auge reichte, hingen graue Wolken über den Häusern und auch die Vorhersage machte keine Hoffnung auf eine baldige Änderung der Wetterlage.

      Er zuckte zusammen, als die Tür hinter ihm aufgerissen wurde und mit einem »Shit« setzte sich ein Mann in einem dunklen Mantel auf den Rücksitz. Fast zeitgleich wurde die gegenüberliegende Tür geöffnet und ein zweiter sprang in den Wagen.

      »Verdammtes Sauwetter.«

      Lieutenant Baker startete den Motor und stellte das Gebläse an, damit die beschlagenen Scheiben wieder frei wurden. Ein kurzer Blick nach hinten, dann fuhr er los.

      »Für wann ist der Termin bei Churchill angesetzt?«

      »Die Besprechung beginnt um halb zehn, Mr Petrie. Wir werden rechtzeitig da sein«, sagte Baker in einem beruhigenden Ton, war sich aber nicht sicher, ob sie das schaffen würden.

      Lieutenant Baker kannte Mr Petrie seit drei Jahren. Er war als persönlicher Fahrer für den Chef des MI5 abkommandiert und hatte mittlerweile viele weitere Aufgaben übernommen. Mr Petrie schätzte es nicht, ständig neue Mitarbeiter zu bekommen und so arbeitete er mit den meisten schon seit seiner Amtsübernahme 1941 zusammen. Er wusste, dass er sich auf Baker verlassen konnte. Und Baker kannte die Ansichten, die Marotten, wie auch die Vorlieben seines Chefs genau, sodass sich in diesen drei Jahren ein Vertrauensverhältnis aufgebaut hatte und sie mittlerweile perfekt aufeinander abgestimmt waren.

      »Wir brauchen unbedingt die Informationen aus Stockholm«, hörte Baker Petrie zu seinem Assistenten sagen. »Ich will Churchill nicht über unsere Aktivitäten unterrichten, ohne ihm gleichzeitig die ersten Erfolge aufzeigen zu können. Wenn das klappt, werden wir einen Triumph gegen die Deutschen feiern, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat. Dann werden wir ihre letzte Trumpfkarte vernichten und endgültig den Krieg gewinnen.« Er zögerte kurz, dann ergänzte er: »Und wenn nicht, haben wir ein riesiges Problem. Wann soll das Flugzeug in Stockholm landen?«

      »So gegen halb elf.«