Rainer Homburger

Der Nagel


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und brachten einen kleinen Kasten mit einer langen Antenne und verschiedenen Kabeln mit. Bertrand erkannte sofort, dass sie sein Funkgerät aus dem verschlossenen Raum entdeckt hatten. Sie legten das Gerät auf den Tisch.

      Der Major sah Bertrand an.

      »Cela vous appartient-Il?« Der Offizier sprach ein hervorragendes Französisch.

      Bertrand wusste, dass es keinen Zweck hatte, zu lügen. Man würde ihm sowieso nicht glauben. Er nickte.

      »Wo sind die dazugehörenden Codebücher?«

      Bertrand zögerte. Die Bücher waren unter den Holzdielen im Raum versteckt. Auf die präparierten Dielen hatte er einen alten Schrank gestellt, der sich aber gut verschieben ließ.

      »Wo sind die Codebücher?«, fragte der Major erneut. Seine Stimme war jetzt etwas lauter, aber noch nicht unfreundlich.

      Bertrand zögerte. Er dachte an Monique, seinen Sohn Daniel und die kleine Marie. Was würde man wohl mit ihnen machen, wenn er nicht verriet, wo die Bücher waren?

      Von draußen drangen Geräusche eines ankommenden Fahrzeugs herein.

      Bertrand wurde aus seinen Gedanken gerissen.

      Vor der Eingangstür wurden Hacken zusammengeschlagen. Ein SS-Offizier betrat das Haus. Auf seiner Uniformmütze war unter dem Reichsadler mit dem Hakenkreuz der Totenkopf zu erkennen, darunter zierten zwei silberne Kordeln die Mütze. Auf dem dunklen Stoff blitzten verschiedene Abzeichen und Orden. In dem Gesicht des Mannes zeigte sich keine Regung, die Lippen waren zusammengepresst. Mit stahlblauen Augen nahm er die Situation auf und ging dann langsam weiter in den Wohnraum. Die Soldaten nahmen Haltung an.

      »Was geht hier vor?« Die befehlsgewohnte und kalte Stimme des SS-Offiziers ließ keinen Zweifel daran, dass er eine harte Linie bevorzugte und erwartete, dass seine Entscheidungen sofort umgesetzt wurden.

      »Wir haben bei der Durchsuchung des Hauses ein Funkgerät gefunden«, fasste der Major die aktuelle Situation zusammen. »Die Codebücher suchen wir noch. Unser Peilwagen hat festgestellt, dass von hier Funksprüche abgesetzt wurden. Es ist uns jedoch gelungen, den Funkverkehr zu stören, sodass bei den Empfängern nichts Brauchbares angekommen sein dürfte.«

      Bertrand schluckte.

      »Mitglieder der Résistance sind augenblicklich zu erschießen«, sagte der SS-Mann. Er griff an sein Pistolenhalfter, zog die Waffe und richtete sie auf Bertrand und seine Familie.

      Monique starrte den SS-Offizier entsetzt an und schob Marie zitternd hinter sich. Bertrand stellte sich schützend vor seinen Sohn.

      »Einen Moment«, versuchte der Major den SS-Mann zu stoppen. »Ich bin mit den Gefangenen noch nicht fertig.«

      »Das sind Feinde unseres Vaterlands, die mit den Engländern kollaborieren. Darauf steht die Todesstrafe und die wird umgehend vollstreckt.« Der SS-Offizier entsicherte seine Pistole.

      »Das sind meine Gefangenen und ich werde sie erst verhören. Vielleicht gelingt es uns, noch wertvolle Hinweise zu bekommen, Herr Sturmbannführer.« Der Major stellte sich vor den SS-Offizier, zwischen ihn und die Familie. »Wir brauchen jede Information über die Invasion, die wir kriegen können. Und wir müssen jede Gelegenheit nutzen, an weitere Details zu kommen.«

      »Was fällt Ihnen ein, Herr Major. Gehen Sie sofort zur Seite oder soll ich Sie wegen Zusammenarbeit mit dem Feind erschießen?«

      »Sie haben mir keine Befehle zu erteilen«, erwiderte der Major in einem festen Ton.

      »Auch wenn Sie mir vom Rang her gleichgestellt sind, Herr Major«, sagte der SS-Offizier mit drohender Stimme, »das Kommando dieses Sonderauftrags führe ich. Daher haben Sie meinen Anweisungen Folge zu leisten und ich befehle Ihnen ein letztes Mal. Gehen Sie zur Seite.«

      Der Major rührte sich nicht von der Stelle.

      Die Sonne erhob sich weiter über die umliegenden Berge der Bretagne und ein gelber Streifen lag bereits auf dem Dach des Bauernhauses. Der Himmel hatte ein kräftiges Blau angenommen und konkurrierte mit dem saftigen Grün der Pflanzen. Auf der Stromleitung neben dem Schornstein ließen sich zwei Vögel nieder und zwitscherten ihre Melodie.

      Plötzlich peitschte ein Schuss durch das Haus.

      Dresden, Mittwoch, 31. Mai 1944, 04:55 Uhr

      Hans Friedel wirkte mit seinen fast dreißig Jahren noch sehr jugendlich, hatte einen neugierigen Blick und meistens ein freches Lächeln um den Mund, das in einem kleinen Grübchen auf der rechten Seite endete. Er hatte für sein Alter bereits viel erreicht und war durch seine erfolgreiche Arbeit zu einem der verantwortlichen Leiter der Entwicklung eines neuen Waffensystems aufgestiegen. Zusammen mit seinem besten Freund Dieter Kuhn hatte er das Ingenieurstudium an der Technischen Hochschule in Dresden 1937 unter den Jahrgangsbesten beendet und war anschließend einem Aufruf der Partei gefolgt, als Wissenschaftler für die Raketenentwicklung in einem Forschungszentrum in Peenemünde zu arbeiten. Die Aufgabe war lukrativ und für beide gleichermaßen interessant.

      Hans konnte die Entwicklung der Raketentechnologie bereits von Kind an verfolgen. Sein Vater hatte nach dem verlorenen Weltkrieg weiter im Geheimen für das Militär gearbeitet. Als ab Mitte der zwanziger Jahre die ersten Tests mit Raketen durchgeführt wurden, war dieser von Anfang an dabei und einer der führenden Köpfe der damaligen Ingenieurgruppe. Die Familie war bald darauf von Dresden nach Berlin gezogen, da die Hauptstadt als Wohnort für die Arbeit des Vaters besser geeignet war. Der Kontakt zu seinem Freund Dieter aber war nie abgerissen. Regelmäßig besuchten sie sich in den Schulferien und verbrachten viel Zeit mit Studien und Überlegungen, die im Zusammenhang mit den Forschungsaufgaben von Hans Vater standen. Beide tüftelten für ihr Leben gern und die Raketentechnologie hatte sie, wie viele andere Deutsche zu diesem Zeitpunkt auch, in den Bann gezogen. Sie diskutierten mit Hans Vater und strebten danach, ihn mit einer eigenen, gewonnenen Erkenntnis in seiner Arbeit ein Stück voranzubringen. Doch ihre weitreichenden Gedanken und Ideen konnten damals noch nicht umgesetzt werden. Anders sah es dagegen nach dem Studium aus. Natürlich gab es nach wie vor eine riesige Anzahl ungelöster Fragen. Mit Übernahme der Forschungen durch das Militär standen jetzt fast unbegrenzte, finanzielle Mittel zur Verfügung und dem immer stärker wachsenden Heer an Ingenieuren und Wissenschaftlern war es im Laufe der vergangenen Jahre gelungen, für viele der Probleme eine Lösung zu erarbeiten. Einige der Grundideen, die Hans und Dieter bereits in ihrer Jugend angestellt hatten, konnten mittlerweile angewandt und umgesetzt werden. Aufgrund ihres Wissens stiegen beide innerhalb kürzester Zeit zu den führenden Köpfen in der Gruppe um Wernher von Braun und Walter Dornberger auf. Ihrer Arbeit war es wesentlich mit zu verdanken, dass am 3. Oktober 1942 der erste erfolgreiche Start einer A4-Rakete gelang.

      Hans legte beide Arme um seine Frau und drückte sie fest an sich. Schon seit dem Aufstehen spürte er ein flaues Gefühl im Magen und gleich nach dem ersten Bissen des Frühstücks kam es ihm vor, sein Magen drehe und wende sich und versuche, die Aufnahme von Nahrung zu verweigern. So begnügte er sich mit einer Tasse dünnen Kaffees. Er war nervös und das war bei ihm selten. Unruhig lief er in der Küche umher.

      »Ich kann einfach nicht ruhig bleiben und warten.« Er sah seine Frau an. Auch für sie war die Situation neu und eine Mischung aus Ungewissheit und Angst stand ihr unübersehbar ins Gesicht geschrieben. Hans ging auf sie zu und nahm sie in den Arm. Er drückte sie an sich und konnte ihre Anspannung spüren. »Wann holst du die Kinder wieder?« Er wusste genau, dass er dies auch schon mehrfach gefragt hatte.

      »Am Nachmittag«, antwortete sie mit einem erzwungenen Lächeln. Sie fuhr ihm mit dem Zeigefinger über das Grübchen an der Wange, dann küsste sie ihn noch einmal.

      Von draußen war das Geräusch eines Motors zu hören. Elisabeth löste sich aus seinen Armen, ging zum Fenster und schob den schweren Vorhang zur Seite. »Der Wagen ist da!«

      Hans war erleichtert. Endlich konnte er etwas tun, auch wenn sie damit dem Abschied wieder ein Stück näher kamen. Er schloss den Koffer mit einem nicht vollends überzeugten Gefühl, alles dabei zu haben. Mit dem Koffer in der einen