Rainer Homburger

Der Nagel


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Luftraum verlassen haben. Wir probieren später noch einmal, ob wir zur britischen Gesandtschaft durchkommen. Bei diesem Sauwetter kriegt man einfach keine vernünftige Verbindung.«

      »Ich habe veranlasst, dass man uns auf jeden Fall informiert, sobald Informationen aus Schweden eintreffen. Auch wenn die Besprechung noch nicht fertig ist.«

      »Gut, Frank.«

      Petrie schaute aus dem Fenster. Die Straßen waren fast menschenleer. Einzelne Soldaten gingen mit eingezogenem Kopf durch den Regen, eine Frau kämpfte mit ihrem Regenschirm gegen den ständig wechselnden Wind.

      David Petrie war seit 1941 Chef des Security Service MI5, dem britischen Inlandsgeheimdienst. Er hatte damals den erfolglosen Mr Harker abgelöst und war von Churchill beauftragt worden, aus dem MI5 eine schlagkräftige Truppe aufzubauen. Dazu stellte dieser ihm die entsprechenden Mittel zur Verfügung. Als die direkte Bedrohung durch die Deutschen, nach deren Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941, nachließ erleichterte dies seine Arbeit und es gelangen ihm verschiedene Erfolge. Der Größte war das sogenannte double-cross-System. Dabei wurde den in Großbritannien enttarnten feindlichen Spionen nach ihrer Verhaftung die Möglichkeit gegeben, falsche Informationen an den deutschen Geheimdienst zu senden und somit den Feind in die Irre zu führen. Im Gegenzug konnten die Agenten dadurch einer sicheren Todesstrafe entgehen. Petrie schaffte es, ein besonders effektives Netzwerk aufzubauen und in vielen Fällen gelang es ihm, den Gegner erfolgreich zu täuschen und zu falschen Reaktionen zu veranlassen. Er verbrachte seine gesamte Zeit damit, das System zu verbessern und arbeitete seit Jahren fieberhaft daran, den Deutschen immer größeren Schaden zuzufügen.

      Ein unerwarteter Schlag erfasste plötzlich den Wagen. Das rechte Vorderrad sackte kurz ab, um sofort darauf mit Wucht wieder nach oben zu kommen. Lieutenant Baker riss das Steuer herum, damit nicht auch noch das Hinterrad in das Schlagloch fuhr.

      »Passen Sie doch besser auf, Baker.« Petrie sammelte verärgert die Unterlagen zusammen, die er auf seinen Oberschenkeln liegen hatte.

      »Entschuldigung«, erwiderte Baker.

      Er hatte keine Chance gehabt, das Loch zu erkennen. Die Straße war durch den Regen mit Pfützen übersät, in jeder konnte sich ein Loch verbergen. Baker verringerte die Geschwindigkeit etwas, nur um kurz danach aber wieder zu seinem ursprünglichen Tempo zurückzukehren. Die Zeit drängte, wenn sie pünktlich bei Churchill sein wollten.

      Lieutenant Baker lenkte den Wagen durch mehrere Nebenstraßen, um den Weg abzukürzen. Als sie wieder zu einer der großen Hauptverkehrsstraßen kamen, wurden Sie von einem Militärpolizisten angehalten, der mitten auf der Straße stand. Das Wasser lief ihm über den Stahlhelm und fiel von dort in einem breiten Vorhang auf seine Uniform. Er hatte die Arme ausgestreckt und versperrte ihnen die Durchfahrt. Hinter ihm passierte eine Militärkolonne die Kreuzung. Sie hatten Glück, denn nach fünf weiteren Lastwagen war die Kolonne durch und die Fahrbahn wurde wieder freigegeben.

      London war in den letzten Monaten überfüllt mit Soldaten der verschiedensten Nationen. Die Vorbereitungen für die Invasion in Frankreich waren in vollem Gange. In einer logistischen Meisterleistung wurden eine Unmenge von Schiffsraum, Waffen und Ausrüstungen und eine große Zahl Soldaten für den bevorstehenden Sturm auf die Festung Europa an der britischen Küste zusammengezogen.

      »Noch eine Minute, Sir.« Baker blickte in den Rückspiegel. Petrie hob seinen Kopf und die dunklen Augen sahen ihn kurz an.

      »Danke, Baker.«

      Der Regen hatte etwas nachgelassen, als Baker vor der Downing Street Nr. 10 in Whitehall hielt.

      David Petrie klappte den Kragen seines Mantels nach oben, stieg aus und lief mit dem Koffer in der Hand in das Gebäude. Frank folgte ihm. Die beiden Wachposten neben der Tür nahmen Haltung an.

      Ju 52, über der deutsch-französischen Grenze, Mittwoch, 31. Mai 1944, 09:10 Uhr

      Hans saß die erste Zeit des Fluges schweigsam auf seinem Platz und hatte mit ausdruckslosem Gesicht die Landschaft beobachtet. Die drei 600 PS starken Sternmotoren der Ju 52 taten zuverlässig und unüberhörbar ihren Dienst und begleiteten sie von Anfang an mit gleichmäßigem Dröhnen. Kurz nach dem Start hatten sich zwei Messerschmitt BF 109 Jagdflugzeuge als Begleitschutz zu ihnen gesellt. Eine der Maschinen flog links neben der Junkers, sodass Hans die Möglichkeit hatte, den Piloten in seinem Cockpit zu beobachten. Auch wenn sie erst etwas über drei Stunden in der Luft waren, kam ihm der junge Mann in der Kanzel fast schon vertraut vor.

      Die Ju hatte eine Reisegeschwindigkeit von 180 km/h, war also nicht besonders schnell. Der Flug ging über 1.200 km Luftlinie und man hatte geplant, gegen Abend die französische Küste zu erreichen.

      Was würde sie in Frankreich erwarten? Wie war die Situation in dem seit vier Jahren besetzten Land? Wie würde sich die Bevölkerung verhalten? Die verschiedensten Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf und erneut nistete sich ein flaues Gefühl in seinem Magen ein.

      Sie hatten einen wichtigen Auftrag zu erledigen. Der Führer persönlich hatte das Dieter und ihm noch einmal eindringlich nahegelegt. Auf ihren Schultern lag nun die Hoffnung der deutschen Führung. Was würde geschehen, wenn sie scheiterten? Er wollte den Gedanken nicht weiterspinnen. Gott sei Dank hatten sie eine gute Mannschaft, von denen viele schon seit Tagen vor Ort waren, um die letzten Vorbereitungen zu treffen und zu überwachen. Allen voran Oberingenieur Fritz. Ein Mann, auf den man sich einhundertprozentig verlassen konnte. Egal, worum es ging.

      Hans drehte den Kopf und sah Dieter am rechten Fenster sitzen, den Kopf auf der Brust. Der schläft schon, seit wir losgeflogen sind, dachte er. Dann fiel ihm wieder ein, dass Dieter die letzte Nacht wenig geschlafen hatte.

      Er blickte nach draußen und heftete seinen Blick auf die Messerschmitt, die weiterhin vor der Ju flog. Monoton und unermüdlich drehten sich die Propeller der Junkers 52 und Hans spürte, wie auch ihn die Müdigkeit übermannte. Er lehnte sich zurück und ließ die Augen über die Decke der Kabine gleiten. Verschiedene Kabel waren dort befestigt und zogen sich die Decke entlang, bis sie vor der Trennwand zur Pilotenkanzel nach links abbogen und in einem Kabelkanal verschwanden. Er schloss die Augenlider und die regelmäßigen Vibrationen des Flugzeugs schaukelten ihn in einen leichten Schlaf.

       Von einem lauten Geräusch wachte Hans auf. Er hörte Schritte auf dem Kopfsteinpflaster. Rufe hallten die Straße entlang und zwischendurch war ein Schuss zu hören gewesen. Er stand auf und ging ans Fenster, um nachzusehen. Draußen war es dunkel. Er streckte den Kopf aus dem Fenster und vernahm Laute von der rechten Seite. Er spähte in die Dunkelheit, konnte aber nichts erkennen. Nur vereinzelt leuchtete eine Straßenlaterne und gab durch die angebrachte Verdunkelungsvorrichtung ein schwaches Licht nach außen ab.

       Das Geräusch, ein wirres Gemisch aus Stiefelschritten und Stimmen, schwoll an. Im Augenwinkel nahm er eine schnelle Bewegung wahr. Eine dunkel gekleidete Gestalt kam angerannt und blieb vor dem Haus stehen. Hans konnte erkennen, wie sich der Unbekannte mit einer Hand an der Laterne festhielt und hastig in alle Richtungen sah. Der Flüchtende schien unschlüssig zu sein, wohin er sollte. Schwer atmend stand er neben dem schwarz schimmernden Metallmast. Er verharrte noch einen Augenblick, dann trat er einen Schritt vor, um die Straße zu überqueren. In dem Moment fiel ein Schuss und er sackte nach vorne zusammen. Ein paar Sekunden später tauchten Soldaten aus dem Dunkeln auf und reihten sich um den Verletzten, der sich am Straßenrand liegend vor Schmerzen krümmte. Einer der Uniformierten zog die Pistole und schoss ihm in den Kopf. Der Mann am Boden zuckte noch einmal, dann rührte er sich nicht mehr.

       Hans war vor Schock wie gelähmt. Er traute seinen Augen nicht. Im schwachen Licht der Straßenlaterne konnte er die Uniformen der SS-Soldaten erkennen. Ihre Gesichter blieben im Schatten der Stahlhelme verborgen. Zwischen dem Schützen und seinem Nebenmann entbrannte eine kurze Diskussion. Offenbar ging es um den letzten Schuss. Hans konnte nur die Antwort verstehen. »Das war nur ein Jude. Die werden doch sowieso alle umgebracht.«

      »Hey Hans, träumst du?«, vernahm er eine Stimme zwischen dem Dröhnen der Motoren. Er spürte eine Hand auf seiner rechten Schulter und ein leichtes