Rainer Homburger

Der Nagel


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nickte, der Mann ging zu David und übergab ihm das Blatt. Im Raum war es absolut ruhig, während dieser die Nachricht las.

      David sah auf. In seinem Gesicht lag ein Lächeln. »Meine Herren«, sagte er. »In ein paar Tagen kann ich ihnen alles über die neue Rakete der Deutschen erzählen. Alles, was sie wissen wollen.«

      Stockholm, Mittwoch, 31. Mai 1944, 09:42 Uhr

      Magnus war einer der Jüngeren. Er hatte seine Ausbildung mit Bravour abgeschlossen und sich danach beim schwedischen Geheimdienst beworben. Getrieben von der Hoffnung, dass dieser mit den neuesten technischen Gerätschaften ausgestattet war und sich ihm dadurch die Möglichkeit bot, sein Wissen auf dem aktuellen Stand der Technik halten zu können. Und mit etwas Glück anderen immer ein wenig voraus zu sein, da er damit rechnete, dass viele neue Entwicklungen zuerst bei den Geheimdiensten zum Einsatz kamen, bevor sie im zivilen Leben Gebrauch fanden. Gepaart mit - wie er immer erzählte - spannenden Detektivgeschichten versprach er sich so für seine Zukunft eine interessante und abwechslungsreiche Tätigkeit.

      Auch wenn sich dies anfänglich nicht bestätigte, so änderte sich das schlagartig mit Ausbruch des europäischen Krieges und erreichte einen ersten Höhepunkt mit der Besetzung von Dänemark und Norwegen durch die deutschen Truppen im Frühjahr 1940. Trotz oder gerade wegen der schwedischen Neutralität, versuchten die Kriegsgegner England und Deutschland ihrerseits einen gewaltigen Druck auszuüben, damit Schweden die jeweilige Gegenseite nicht mit kriegswichtigen Rohstoffen versorgte oder anderweitig unterstützte. Nach der Niederlage Frankreichs war das Deutsche Reich auf dem Kontinent die herrschende Macht. Das Land konnte nun seinen Einfluss massiv verstärken, drohte doch dahinter immer die Gefahr einer Invasion Schwedens, da deutsche Truppen von Norwegen aus direkt und mit Dänemark im Süden unmittelbar an den schwedischen Landesgrenzen standen. Daher waren für die Regierung in Stockholm Informationen aus diesen beiden Ländern für geschicktes politisches Taktieren unerlässlich. Schließlich wollte man sich keiner unnötigen Gefahr aussetzen. So hatte der Geheimdienst an verschiedenen Stellen der Stadt Position bezogen, um die Gespräche der Krieg führenden Staaten abzuhören und auszuwerten.

      Auf jeden Fall gab es reichlich zu tun und Magnus empfand seitdem seine Tätigkeit nie als langweilig. Die Mischung machte es und es wechselten sich das Abhören von Telefonaten und die Beschattung verdächtiger Personen in der Stadt ab. Beides hatte seinen Reiz, wenngleich gerade im Sommer die Außeneinsätze den positiven Nebeneffekt mit sich brachten, die eine oder andere hübsche Frau ebenfalls im Auge behalten zu können.

      Zurzeit aber wurde er im Haus gebraucht, da der aktuelle Funk- und Telefonverkehr in den letzten Wochen stark angestiegen war. Alle erwarteten für dieses Frühjahr die Invasion der Alliierten in Frankreich und ein solcher Einsatz brachte entsprechend viel Arbeit für jede Seite mit sich.

      Mit einem frisch gebrühten Kaffee in der Hand betrat er sein Büro. Neben dem neidischen Blick der Kollegen folgte ihm der aromatische Duft gemahlener Kaffeebohnen bis an seinen Platz. Er setzte den Kopfhörer auf und nahm genussvoll den ersten Schluck des heißen Getränks. Ein wohliges Gefühl durchzog seinen Körper und er dachte für einen Moment an das frühlingshafte Wetter draußen, an die jungen Frauen, denen er bei seiner letzten Beschattung zugelächelt hatte und an die anstehenden Vorstellungsgespräche am Nachmittag, die sein Vorgesetzter Sven noch mit mehreren Damen haben würde.

      Sven war nur ein paar Jahre älter, hatte die Leitung dieser Nebenstelle des Geheimdienstes inne und war damit auch für das Personal verantwortlich. Das Verhältnis untereinander war sehr locker, solange alle ihre Aufgaben pflichtbewusst erledigten. Sven war sehr umgänglich und ließ seinen Leuten gewissen Freiheiten genauso, wie er ihnen eigenverantwortliche Aufgaben übertrug.

      Er schätzte Magnus für seine Vielseitigkeit. Da sie hier nur eine kleine Nebenstelle waren, war ein Mitarbeiter wie er, der technisch sehr versiert war, deutsch und englisch fließend sprach und auch in Außeneinsätzen eingesetzt werden konnte, Gold wert. So konnten sie viele Dinge in Eigenregie lösen, ohne dafür auf weitere Spezialisten aus der Zentrale zurückgreifen zu müssen. Technische Probleme oder anstehende Reparaturen löste Magnus mit großer Begeisterung selbst. Nur beim Steno tat er sich schwer. Alles in allem ein Mitarbeiter, den man uneingeschränkt einsetzen konnte. Dafür war er hochgeschätzt.

      Ein weiterer Schluck folgte dem ersten, als Magnus im Kopfhörer das bekannte Klingelgeräusch hörte. Ein Anruf in der deutschen Gesandtschaft in der Hovslagargatan 2, deren Leitung er gerade abhörte. Er stellte umgehend die Tasse auf die Seite, zog seinen Block heran und nahm den Stift in die rechte Hand. Mit der linken drehte er am Lautstärkeregler, um diese den aktuellen Gegebenheiten anzupassen. Der Anruf wurde bereits nach dem dritten Klingeln angenommen. Kein Name, kein sonstiger Hinweis auf denjenigen, der das Gespräch entgegennahm. Lediglich ein »Hej« war zu hören. Im Gegensatz zu der männlichen Stimme des Angerufenen begann daraufhin eine weibliche, ohne Begrüßung zu sprechen. Magnus notierte die wenigen Sätze auf seinem Block. Es war klar, dass auf der einen Seite ein Deutscher saß, was alleine schon durch den Anruf in der deutschen Gesandtschaft zu erwarten war. Auf der anderen Seite sprach die Frau schwedisch. Allerdings mit britischem Akzent, es sich also um eine Engländerin handeln musste. Allein das war schon mal interessant. Für gewöhnlich gab es in diesen Kriegszeiten wenig telefonischen Kontakt zwischen den beiden Gegnern, daher konzentrierte er sich darauf, alle Sätze sauber und fehlerfrei mitzuschreiben. Zum Glück dauerte das Gespräch nicht sonderlich lange. Steno war einfach nicht sein Ding. Da schraubte er doch viel lieber an den Anlagen herum. Einige Sekunden später war der Anruf zu Ende. Es war ein einseitiges Telefonat gewesen. Der Angerufene hatte zwischen der Begrüßung »Hej« und seinem »Tack« am Ende nichts gesagt. Magnus Intuition sagte ihm, dass das Gespräch wichtig war, und gab es sofort zur Reinschrift weiter. Nur kurze Zeit später ging er mit einem fehlerfrei abgetippten Text in das Nachbarbüro zu Sven.

      Ohne Begrüßung, das hatten sie schon in der Küche beim Kaffeeholen getan, fasste Magnus das abgehörte Telefonat zusammen. »Anruf einer Engländerin in der deutschen Gesandtschaft. Das könnte interessant werden.«

      Sven sah von seinem Schreibtisch auf und nahm Magnus das ihm entgegen gestreckte Papier ab. Er überflog die Zeilen und an seinen Augen konnte Magnus erkennen, dass er den Text zweimal durchging. Dann lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und bat Magnus um seine Einschätzung.

      «Wie würdest du den Inhalt interpretieren?« Er gab ihm den Zettel zurück.

      »Der Text ist kurzgehalten«, begann Magnus. »Sieht nach Klarschrift aus. Spricht nicht für einen Profi. Was aber am meisten überrascht, dass der Name Carl Richert auftaucht.«

      »Sehe ich auch so«, bestätigte Sven. »Das ist der Sohn des schwedischen Gesandten in Deutschland. Sieht ganz danach aus, als ob der heute aus Berlin zurückkommt.«

      »Was aber könnte die Deutschen daran interessieren? Wenn sie was von ihm wollten, hätten sie ihn viel leichter vor dem Abflug abfangen können. Hier geht das nicht so einfach.«

      »Ruf beim UD an. Sie sollen uns informieren, sobald Carl da ist. Dann will ich ihn umgehend sprechen.«

      »Mache ich«, antwortete Magnus und wandte sich zum Gehen.

      »Und bleib dran. Vielleicht kommen noch weitere Gespräche.«

      Stockholm, Mittwoch, 31. Mai 1944, 11:15 Uhr

      Der Flug XA355 bekam sofort Landeerlaubnis, als sich der Pilot am Tower meldete. Er drehte noch eine halbe Schleife über der Stadt, um die Landebahn von Norden anzufliegen. Carl saß am Fenster und schaute nach unten. Viele kleine Seen und Wasserstraßen spiegelten sich zwischen Häusern und Waldgebieten in der Sonne und ein warmes Gefühl durchfuhr seinen Bauch. Er war wieder daheim. Die letzte Anspannung fiel von ihm ab und er sackte weiter in seinen Stuhl hinein. Er hatte es geschafft. Er war mit hochbrisanten Unterlagen durch eine Straßensperre der SS gekommen, hatte die Kontrollen am Flughafen ohne Probleme passiert und war mit rasendem Herzen in die Maschine gestiegen, die ihn nach Stockholm bringen sollte.

      Unzählige Male waren ihm auf dem vergangenen Flug die