Rainer Homburger

Der Nagel


Скачать книгу

konnte ein deutliches Erstaunen in den Gesichtern der Männer, selbst bei Churchill, erkennen.

      »Und Sie glauben das wirklich?«

      Marshall Arthur Harris, der Verantwortliche für die britischen Bombenangriffe auf die deutschen Städte und Industrieanlagen, meldete sich erneut zu Wort.

      Die Anwesenden wandten sich ihm zu.

      »Glauben Sie allen Ernstes, dass die Deutschen heute in der Lage sind, eine Rakete zu bauen und abzuschießen, die bis nach Amerika fliegen kann? Und das, obwohl bisher noch nicht eine Rakete an irgendeinem Kriegsschauplatz dieser Welt eingesetzt wurde?«

      Er stand auf und ging zu der Weltkarte. Er legte einen Finger auf Deutschland und fuhr fort. »Von Berlin bis nach Washington sind es ...«, Harris stockte und überlegte kurz, dann fuhr er fort, »... annähernd 5500 Meilen.« Er ging an der Karte entlang und zeigte, wie Mr Petrie zuvor, auf die amerikanische Hauptstadt. Danach wandte er sich wieder den Anwesenden zu. »Wenn es solche Raketen wirklich gäbe, müssten die umfangreich getestet werden. Und dazu gehören auch Versuche über große Entfernungen. Dabei passieren Unfälle, die Geschosse steuern in falsche Richtungen, stürzen unerwartet ab und vieles mehr. So etwas lässt sich nicht komplett geheim halten.« Marshall Harris holte zweimal tief Luft, dann fuhr er fort: »Mich würde interessieren, wie weit unsere Entwicklungen auf diesem Gebiet sind. Könnten wir eine solche Waffe in Kürze zum Einsatz bringen? Wie realistisch sind solche Meldungen überhaupt?«

      Harris wandte sich an Duncan Sandys, einen der Herren in Zivil.

      Mr Sandys trug einen schwarzen Anzug mit einer dunklen Krawatte. Sein Haar wies auf der Stirn bereits Ansätze von Geheimratsecken auf, aber unabhängig davon war er mit seinen sechsunddreißig Jahren ein gut aussehender Mann und gleichzeitig Churchills Schwiegersohn. Als parlamentarischer Sekretär im Versorgungsministerium hatte er Zugriff auf eine große Zahl britischer Wissenschaftler und trug eine Mitverantwortung für die gesamte Forschung und Entwicklung der Waffensysteme. Als Kommandant eines Versuchsraketenregiments besaß er einerseits militärische Erfahrung und darüber hinaus das entsprechende Know-how in der Raketentechnik. Nach einer schweren Verwundung bei einem Autounfall vor drei Jahren kam er nach London und Churchill gab ihm einen Ministerposten in seiner Regierung. Seit dem letzten Jahr war er zudem Vorsitzender eines Ausschusses für die Verteidigung gegen Flieger und Raketen im Kriegskabinett. Sandys war auf Vorschlag der Stabschefs mit der Untersuchung der Raketengefahr beauftragt worden. Dass er seit Mitte der dreißiger Jahre Churchills Schwiegersohn war, hatte mit der Entscheidung nichts zu tun gehabt.

      Sandys, der auf eine Stellungnahme vorbereitet war, zog ein Foto aus seinen Unterlagen und hob es hoch.

      »Was sie hier sehen können, ist unsere am weitesten entwickelte Rakete. Sie hat bei weitem nicht die Ausmaße, wie wir sie bei der deutschen Rakete vermuten, ebenso nicht die Reichweite. Darüber hinaus haben wir nicht nur bei der Steuerung und dem Antrieb noch massive Probleme.« Er atmete tief aus. »Um es kurz zu machen. Es ist uns nach aktuellem Entwicklungsstand und den mir bekannten Schwierigkeiten in den nächsten Jahren nicht möglich, eine Rakete fertig zu stellen und zum Einsatz zu bringen, die den Atlantik überquert und dann noch das anvisierte Ziel treffen kann.«

      Ohne den Anwesenden Zeit zu geben, auf die Ausführungen von Mr Sandys zu reagieren, übernahm David wieder das Gespräch. »Auch wenn unsere Entwicklungen hier bei Weitem nicht so vorangeschritten sind, so bin ich der Überzeugung, dass die aus Deutschland vorliegenden Informationen der Wahrheit entsprechen.«

      Marshall Harris meldete sich erneut zu Wort. »Man kann also sagen, dass die Deutschen unserem Stand um ein Vielfaches voraus sind. Zumindest, wenn die Angaben stimmen.«

      Mr Mc Douglas, der Vertreter der amerikanischen Regierung, rückte seinen Stuhl zurecht und zog so die Aufmerksamkeit der anderen auf sich.

      »Premierminister, Marshall Harris, verehrte Herren«, begann er.

      Marshall Harris wollte gerade mit seinen Ausführungen fortfahren, hielt dann aber doch inne.

      »Als Vertreter der amerikanischen Regierung und im persönlichen Auftrag von Mr Roosevelt möchte ich hier noch einmal auf das Gefahrenpotenzial hinweisen, das von der Rakete der Deutschen ausgeht. Auch wenn Sie, Marshall Harris, an der möglichen Existenz einer solchen Waffe zweifeln, so ist meine Regierung sehr besorgt über diese Situation. Wir sind, nach eingehender Prüfung des uns vorliegenden Materials, wie Mr Petrie auch, zu der Überzeugung gekommen, dass hier eine neue, reale, absolut ernst zu nehmende Bedrohung vorliegt, die durchaus weitreichende Auswirkungen auf den zukünftigen Kriegsverlauf haben kann. Nach aktuellem Stand ist es wohl tatsächlich so, dass die Deutschen uns gegenüber auf diesem Gebiet einen großen Vorsprung haben. Einen Vorsprung, den wir auch bei größtem Einsatz in den nächsten Jahren nicht aufholen können.«

      Er machte eine kurze Pause, und sofort fiel ihm Harris ins Wort.

      »Mr Mc Douglas. Wie es aussieht, haben die Deutschen eine Rakete entwickelt, A4 heißt sie, wenn ich mich richtig entsinne, die in der Lage ist, London zu erreichen. Das scheint sicher zu sein, auch wenn sie bisher nicht eingesetzt wurde. Gut. Aber das würde eine Gefahr für unser Land darstellen. Jetzt wird von einer größeren Rakete gesprochen, die angeblich die Vereinigten Staaten bedroht. Wie kommen Sie an diese Informationen?«

      »Seit einiger Zeit«, mischte sich nun auch Edward Travis, der Verantwortliche aus dem Bletchley Park in die Diskussion mit ein, »fangen wir in unregelmäßigen Abständen Funksprüche aus Deutschland auf. Darin wird von neuen, großen Raketen gesprochen, deren Einsatz unmittelbar bevorstehen soll. Wir wissen aber nicht, von wem sie stammen. Sie tragen keinen offiziellen Charakter, sind sehr kurz gehalten und nicht mit dem Enigmacode verschlüsselt, den die Deutschen nach wie vor für sicher halten. Und nutzen eine Verschlüsselung, wie wir sie heute in jedem Buch nachlesen können. Mir scheint es, dass uns jemand aus Deutschland Informationen zukommen lassen will. Und da derjenige keine Chiffriermaschine zur Verfügung hat, verwendet er einen einfachen Code, den er irgendeinem Lehrbuch entnommen hat, um wenigstens nicht in absoluter Klarschrift zu senden.«

      »Wissen Sie denn, woher diese Funksprüche kommen?«, wollte General Spaatz, der Oberbefehlshaber der strategischen Luftstreitkräfte der Vereinigten Staaten in Europa, wissen.

      »In den Mitteilungen gab es dazu nie eine Andeutung. Eine genaue Lokalisierung war schwierig, wir konnten lediglich feststellen, dass sie teilweise aus dem Großraum Berlin beziehungsweise dem Umfeld mit einem Radius von bis zu sechzig Meilen kamen.«

      »Glauben Sie, dass es sich hierbei um einen Trick handeln könnte?«, fragte Churchill.

      »Ausschließen können wir das natürlich nicht. Trotzdem würde ich die Chance, dass es sich um jemanden handelt, der vielleicht aus einer Widerstandsgruppe kommt und uns mit Informationen versorgt mit fünfzig Prozent einstufen«, gab David zurück.

      »Gibt es denn schon irgendwelche brauchbaren Informationen, Fotos unserer Aufklärer oder etwas, was die Existenz solcher Raketen glaubhaft bestätigt?« Churchill richtete dabei seinen Blick auf General Francis, Chef der britischen Flugaufklärung.

      »Wir haben in den letzten Monaten intensive Aufklärung betrieben, zum einen, um festzustellen, ob es überhaupt neue Spuren im Zusammenhang mit der feindlichen Raketenentwicklung gibt, zum anderen natürlich für die bevorstehende Invasion in Frankreich. Aufgefallen ist uns dabei aber nur eins. Speziell an der französischen Küste und einer Küstenlinie in Holland und Belgien haben die Deutschen in den letzten Monaten lange Rampen erstellt. Die sind in ihrer Ausrichtung fast alle auf die britische Insel, in der Masse auf den Großraum London ausgerichtet. Wir wissen noch nicht genau, was sie vorhaben, doch kann es sich dabei nicht um Anlagen für die neuen Raketen handeln, da die Rampen nach England zeigen. Soweit wir wissen, werden die großen Raketen senkrecht gestartet. Alle anderen Auswertungen haben nichts Neues erbracht. Wir haben natürlich seit einiger Zeit umfangreiche Maßnahmen ergriffen, um gegen einen möglichen Angriff gerüstet zu sein. Im Einzelnen sind dies eine weitere Ballonsperre an der Peripherie Londons, davor haben wir den bestehenden Flakgürtel verstärkt und dann haben wir ja noch unsere Jäger.«

      Es klopfte an der Tür und Churchills Sekretär trat ein, in der Hand