Rainer Homburger

Der Nagel


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zum letzten Hochzeitstag geschenkt hatte. Aber warum trug der Mann das Armband von Kate? Seine Augen folgten den Arm, an dem es befestigt war. Doch der Arm entfernte sich von dem alten Mann und verschwand in dem Sack, der vor ihm lag. Eine düstere Ahnung erschlich David und schnürte ihm die Kehle zu. Ein erstickter Laut verließ seinen Mund, als er sich langsam auf die Knie fallen ließ. William hob erneut den Kopf. Diesmal lief eine Träne über sein rußgeschwärztes Gesicht und zog eine verschmierte, hellgraue Spur nach sich. David streckte die Hand aus. Der Arm, der das Armband trug, war noch warm. Seine Finger glitten über die Haut auf den Sack zu. Doch das war kein Sack, es war nur eine Plane. Seine Finger krallten sich um den Rand des Plastiks und bohrten sich in seinen Handballen. Langsam zog er die Folie zurück und erkannte die blonden Locken, die er so geliebt hatte.

      »Kate«, winselte er kaum hörbar. Er zog die Plane zur Seite, bis er den Oberkörper aufgedeckt hatte.

      »Neeeeiiiiin!« Der Schrei ging im Fauchen der Flammen unter. Sein Kopf fiel auf Kates Schulter und seine gurgelnden Laute erstickten in den verbrannten Kleidern, die sie am Körper trug.

      Nur eine Sekunde später schreckte er hoch und mit dem Namen seiner Tochter auf den Lippen wollte er sich gerade zu William umdrehen, als er spürte, wie sich eine Hand auf seine Schulter legte und die Finger nach Aufmerksamkeit riefen. Er drehte den Kopf und blickte William mit tränenunterlaufenen Augen an. William deutete mit einem Nicken zur Straße. David richtete den Oberkörper auf und wandte sich um. Auf der Straße stand ein Mädchen. Die langen blonden Haare hingen wild um ihren Kopf, die Kleidung war völlig verstaubt.

      »Papa?«

      Tock, Tock, Tock.

      In weiter Ferne vernahm er ein Klopfen, das kräftige Knarren der Holztür seines Büros klang schon deutlich näher und das darauffolgende laute Schließen der Tür holte ihn endgültig aus seinen Gedanken zurück.

      »David?«

      Frank ging direkt auf den Schreibtisch zu, hinter dem David saß. In der Hand hielt er ein Papier.

      »Neue Informationen aus Stockholm.«

      »Und?«, fragte David, der noch nicht ganz aus seiner schrecklichen Vergangenheit zurück war, teilnahmslos. Doch nur den Bruchteil einer Sekunde später hatte er begriffen, dass dieses Blatt Papier das war, worauf er seit zwei Tagen wartete und sprang überraschend flink auf.

      »Zeig her«, sagte er und strecke Frank fordernd die Hand entgegen.

      »Keine guten Neuigkeiten«, sagte Frank, und während David den Inhalt las, sprach er weiter. »Carl hatte einen schweren Unfall. Sie konnten ihn zwar noch aus dem brennenden Fahrzeug ziehen, aber es sieht nicht gut aus. Sein Fahrer konnte nicht mehr gerettet werden und der Wagen brannte völlig aus. Carl hatte zwei Koffer dabei, die beide stark in Mitleidenschaft gezogen wurden. Einen Teil der Unterlagen konnten die Schweden aber vor der endgültigen Vernichtung bewahren.«

      »Ist noch irgendwas verwertbar?« David beschlich ein ungutes Gefühl.

      »Keine Ahnung«, antwortete Frank. »Mehr wissen wir noch nicht.«

      »Ich muss unbedingt mit der britischen Gesandtschaft sprechen.« David ging um den Tisch herum. »Ich muss wissen, wie viel von den Unterlagen noch brauchbar ist. Das ist wichtig. Davon hängt so viel ab.«

      »Ich habe schon nachgefragt und die Antwort kam diesmal umgehend. Sie sagten, sie hätten bisher keine weiteren Informationen erhalten und die Schweden wüssten scheinbar auch nicht mehr.«

      »Das kann nicht sein«, erwiderte David aufgebracht und mit einer deutlichen Handbewegung gab er Frank zu verstehen, dass er sich damit nicht zufriedengab. »Wenn ein Teil der Papiere gerettet werden konnte, dann kann man daraus auch noch irgendetwas verwerten. Ich will wissen, was da drinsteht.«

      David ging wütend in seinem Büro auf und ab. Er dachte nach. Dann blieb er unvermittelt stehen, wandte sich Richtung Frank und ging fingerzeigend auf ihn zu.

      »Wir müssen die Papiere haben.« Er sah Frank an. »Ich bin sicher, unsere Spezialisten können da noch was rausholen. Ich brauche diese Unterlagen und ...«. Er machte eine kurze Pause, dann fuhr er fort: »... und du wirst sie mir holen.«

      Während er dies sagte, streckte er den Arm vor und drückte Frank seinen Finger auf die Brust. Seine Augen leuchteten und sein Blick wirkte entschlossen.

      Frank stand das Entsetzen ins Gesicht geschrieben, als er verstand, worauf David hinauswollte. Sein Mund stand offen, er brachte keinen Ton heraus und starrte David nur an. Es dauerte einige Sekunden, bis er ein krächzendes, lang gezogenes »Ich?« hervorbrachte.

      »Na, wer denn sonst?« Mit entschlossenen Schritten und voller Tatendrang ging David um seinen Schreibtisch und setzte sich. Er würde nicht aufgeben. Er sah eine Möglichkeit, seinen Kampf gegen Deutschland weiterführen zu können und wenn auch nur noch ein Teil der Dokumente verwertbar war, so musste man das Maximale daraus machen.

      Nach Kates Tod hatte er geschworen, alles daran zu setzen, dass die verfluchten Nazis diesen Krieg verlieren. Dieser Schwur verlieh ihm nun seit über drei Jahren Kraft und Energie, Tag und Nacht dafür zu kämpfen. Nach Kates Tod hatte er seine Tochter zu den Schwiegereltern aufs Land geschickt. Dort war sie sicher und er konnte sich auf seine Arbeit konzentrieren.

      Er wusste, dass Frank froh war, als sein Assistent zu arbeiten. Frank war ein überzeugter Brite, war aber niemand, der sich für eine Kampftruppe geeignet hätte. Dafür war er körperlich zu schwach und hatte zudem viel zu viel Angst um sein Leben. Er hatte bereits mehrfach durchklingen lassen, dass er David dankbar war, dass er ihn für sich arbeiten ließ und ihn nicht einer Einsatztruppe überstellte. Auch dass Frank Panik davor hatte, über von Deutschen besetztem Gebiet nach Stockholm zu fliegen, war ihm klar. Aber darauf konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen. Er brauchte diese Dokumente und musste sie haben. Hier in London.

      »Wir müssen sicher sein, dass uns die Schweden nichts verheimlichen. Wir haben ihre Zusage und die müssen sie einhalten. Ich brauche jemanden, der sich vor Ort um alles kümmert und auf den ich mich verlassen kann. Lass dich nicht abwiegeln. Ich will die Dokumente haben. Und zwar alle. Von mir aus können sich die Schweden Kopien machen so viel sie wollen, aber die Originale will ich. Und das so schnell wie möglich.«

      Frank hatte seine Fassung noch nicht ganz wiedergefunden, zumindest aber seinen Mund wieder geschlossen.

      »Du fliegst gleich morgen früh«, ergänzte David und Franks Unterkiefer klappte erneut nach unten.

      »Morgen schon?«, stammelte er und wurde noch blasser im Gesicht.

      »Ich werde alles veranlassen. Pack ein paar Sachen ein, für den Fall, dass du doch einige Tage länger unterwegs bist. Du wirst, soweit möglich, einen Jagdschutz bekommen. Einen Teil der Strecke müsst ihr aber ohne auskommen. So groß ist die Reichweite unserer Jäger nicht.«

      »Und wenn uns die Deutschen abschießen, dann haben wir nichts von den Dokumenten«, witterte Frank eine kleine Chance, doch noch um den Flug herumzukommen.

      »Das Risiko müssen wir eingehen«, erwiderte David. »Die Deutschen haben genug zu tun an ihrer Ostfront. Viele Jäger sind an den Ärmelkanal abgezogen worden. Es bleiben also nicht mehr allzu viele in Dänemark und Norwegen stationiert«, versuchte ihm David Mut zu machen. »Gut. Wir sehen uns dann morgen um acht Uhr wieder hier. Bis dahin habe ich deinen Marschbefehl fertig. Den Flug werde ich gleich noch im schwedischen Konsulat anmelden. Ich versuche, ihn als diplomatische Reise auszuweisen, dass macht das Ganze dann vielleicht etwas sicherer für dich. Den Rest sprechen wir morgen durch.«

      David hob den Telefonhörer ab. »Verbinden Sie mich bitte mit dem schwedischen Konsulat.«

      Lorient, Freitag, 2. Juni 1944, 20:10 Uhr

      »Was wollen Sie denn hören?«

      Langsam reichte es Hans. Verärgert schlug er mit der Faust auf den Tisch. »Ich kann nichts anderes sagen, als ich jetzt schon ein halbes Dutzend Mal erzählt habe. Ich habe keinen Kontakt ins Ausland und auch mit niemandem über