Rainer Homburger

Der Nagel


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gegen einfache Leintücher getauscht. Hans legte sich neben sie und ließ das Tuch locker über sich fallen, sodass es sich in einer geschmeidigen Eleganz um die Rundungen seines Körpers legte. Er lag auf der Seite und sah ihr in die Augen. Es dauerte nicht lange, dann stellte er die Fragen, auf die sie die ganze Zeit schon gewartet hatte und die unausweichlich kommen mussten.

      »Was hast du? Was ist los mit dir?«

      Sie wusste nicht, wie sie es ihm erzählen sollte. Seit sie den Brief gelesen hatte, überlegte sie, ob sie überhaupt darüber sprechen sollte. Sie wollte nicht, dass er sich auch noch Sorgen machte. Er hatte in Frankreich selbst einiges durchgemacht. Auf der anderen Seite musste sie mit ihm reden. Er war ihr Mann und sie brauchte jemanden, der sie stützte. Der ihr half, den Kopf nicht zu verlieren, Kraft zu schöpfen und gemeinsam zu überlegen, wie sie weiter vorgehen sollten. Vielleicht verbarg sich hinter der Aufforderung auch nur eine unbedeutende Formalität, deren Erledigung einen kurzen Gang in die Bismarckstraße erforderte und worüber danach kein Mensch mehr sprechen würde? Aber was, wenn nicht? Sie zögerte noch einen Moment, dann antwortete sie: »Ich habe heute Morgen einen Brief bekommen aus der Bismarckstraße.« Sie schluckte. »Ich war so durcheinander, dass ich erst einmal nicht wusste, was ich machen soll. Mir ging so vieles durch den Kopf. Du, die Kinder, deine Verhaftung in Frankreich, unser ganzes Leben hier, der Krieg, die Juden und weiß Gott was sonst noch alles.« Sie stöhnte kurz auf, dann fuhr sie mit zittriger Stimme fort. »Es ist doch so, dass die Juden abtransportiert werden und per Brief aufgefordert werden, sich an einem bestimmten Tag dafür bereitzuhalten. Sie verschwinden dann einfach und man sieht und hört nichts mehr von ihnen. Und jetzt habe ich auch so einen Brief bekommen.« Ihre Augen wanderten über sein Gesicht. Sie suchte Halt.

      Er nahm sie in den Arm, drückte sie sanft, aber bestimmt, und hielt sie fest. Er spürte ihre Unruhe, die sich langsam auch auf ihn übertrug. Er verstärkte den Druck und versuchte, ihr Kraft und das Gefühl von Sicherheit zu geben.

      »Zeig mir mal den Brief«, forderte er sie schließlich mit leiser, ruhiger Stimme auf. Er bemühte sich, das auch bei ihm aufgekommene, unbehagliche Gefühl zu verbergen.

      Elisabeth wandte sich aus seinen Armen, zog die Schublade ihres Nachttisches auf und nahm den Brief heraus.

      Hans öffnete den Umschlag und hielt das Schreiben eine halbe Armlänge vor sich, sodass er es im Schein der Lampe gut lesen konnte. Elisabeth rutschte von der Seite an ihn heran und legte den Arm um seinen Oberkörper.

      In gespannter Erwartung überflog Hans die Zeilen.

      »Hier steht nichts von einem Termin, an dem du dich bereithalten sollst. Wie kommst du darauf?«

      »Ich konnte die ganze Zeit an nichts anderes denken. Wenn sie mich doch wegbringen wollen?« Ihre Unruhe war deutlich zu spüren. Sie zitterte. »Was soll dann mit den Kindern geschehen und mit dir?«

      »Jetzt beruhige dich erst mal wieder. Dafür gibt es überhaupt keinen Grund. Wir sind keine Juden. Nach dem Gesetz sind wir deutsche Arier, das haben wir ausreichend nachgewiesen und das wurde noch einmal vor meiner Einstellung in Peenemünde umfangreich geprüft. Unsere Abstammungsurkunden belegen das eindeutig. Es kann also nichts von Bedeutung sein, was die Gestapo von dir will.«

      »In dem Brief steht aber etwas von einer wichtigen Reichsangelegenheit«, erwiderte sie und nahm ihm zur Bekräftigung ihrer Worte den Brief aus der Hand. »Hier steht es«, sagte sie, »... wichtige Reichsangelegenheit ...«, zeigte mit dem Finger auf den Text und hielt ihm das Schreiben wieder vors Gesicht.

      »Ja, das steht hier«, versuchte er das Ganze herunterzuspielen. »Meinst du nicht auch, dass wir in Deutschland momentan sehr viele«, und auch er zitierte jetzt, »wichtige Reichsangelegenheiten haben, die es zu klären gibt?«

      »Schon, aber was kann ich damit zu tun haben? Um diesen Krieg zu einem Ende zu bringen, kann ich doch sicherlich nichts beitragen, was eine wichtige Reichsangelegenheit sein könnte.«

      »Mein Schatz«, sagte Hans. »Das klärt sich morgen ganz bestimmt auf und du wirst feststellen, dass du dir völlig umsonst Gedanken gemacht hast. Lass uns zu dem Termin gehen und dann erledigen wir das.«

      »Wenn, dann gehe ich!«, erwiderte sie plötzlich überraschend selbstsicher und der Teil, der Hans nicht weiter mit ihren Problemen belasten wollte, sprach jetzt aus ihr. »Du hast den Kindern versprochen, dass du sie morgen von der Schule abholst. Das war so vereinbart und ich kann auf die Schnelle keinen Ersatz finden. All unsere Freunde und Nachbarn arbeiten in Fabriken und können da nicht so einfach frei bekommen oder zwischendurch verschwinden. Wenn wir dafür jemanden brauchen, müssen wir uns früher darum kümmern. Zudem freuen sich die beiden so sehr darauf, dass du sie auch mal wieder abholst. Übermorgen bist du wieder in Berlin und danach fliegst du zurück nach Peenemünde und wir wissen nicht, wann wir uns wiedersehen.«

      »Wenn du meinst.« Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Er wusste, dass sie innerlich in einem gewaltigen Gefühlschaos gefangen war und sie hin- und hergerissen wurde. Aber er war froh, dass sie dem Ganzen jetzt wieder mit mehr Selbstbewusstsein und einem besseren Gefühl gegenüberstand.

      Elisabeth lag in Hans Armen und keiner sprach mehr über den Brief und den morgigen Tag. Es gelang Hans nicht, die Gedanken zu vertreiben, die sich jetzt in seinem Kopf festsetzten und so dauerte es lange, bis er in einen unruhigen Schlaf fiel.

      Dresden, Bismarckstraße, Freitag, 28. Juli 1944, 13:45 Uhr

      Als Elisabeth in die Bismarckstraße bog, begann ihr Herz deutlich schneller zu schlagen. Die Luft war schwül und heiß. Sie öffnete den oberen Knopf der Bluse und zog am Stoff. Das Material klebte bereits an vielen Stellen ihrer Haut. Sie fühlte sich in ihrer Beweglichkeit eingeschränkt und das nahm ihr endgültig den letzten Rest an Sicherheit. Sie atmete schwer und ihre Schritte wurden langsamer, je näher sie dem Eingang zum ehemaligen Hotel Continental, einem stilvollen alten Gebäude, kam. Sie blieb kurz stehen und versuchte, durch gleichmäßige und tiefe Atemzüge, ihre innere Erregung in den Griff zu bekommen.

      Nichts war mehr geblieben von der kurzzeitig entschlossenen Haltung, mit der sie gestern Abend Hans davon abgehalten hatte, sie heute zu begleiten. Die Selbstsicherheit, die sie ausgestrahlt hatte, damit er wie geplant die Kinder abholte, war komplett verschwunden. Wie sehr wünschte sie ihn jetzt bei sich, in den Arm genommen und festgehalten zu werden. Und einfach den Termin zu ignorieren und gemeinsam mit ihm zur Schule zu fahren. Zu ihren Kindern, die sie über alles liebte und für die sie alles tun würde. Bei dem Gedanken fasste sie neuen Mut. Sie riss sich zusammen und holte noch einmal tief Luft. Bringe es hinter dich, dachte sie und dann zurück zur Familie. Sie zupfte an der Bluse und strich mit den Händen über ihren knielangen Rock.

      Vor dem Eingang standen regungslos zwei SS-Soldaten. Waren die schon immer da gewesen? Vermutlich eine der Vorsichtsmaßnahmen aufgrund des Attentats auf den Führer vor acht Tagen.

      Sie öffnete die Tür und betrat den Eingangsbereich. Rechter Hand saß hinter einer Glasscheibe ein älterer, grauhaariger Mann, der sofort aufstand, als er sie sah. Er kam in leicht gebückter Haltung auf sie zu und zog dabei sein linkes Bein deutlich nach.

      »Kann ich Ihnen helfen, gnädige Frau?«, fragte er höflich.

      »Ich habe einen Termin«, hörte sie sich mit zittriger Stimme sagen. Sie zog das Schreiben aus der Handtasche und reichte es ihm. Er warf einen Blick darauf und kniff die Augen zusammen. Nachdem er festgestellt hatte, dass er den Text nicht lesen konnte, griff er in seine Hemdtasche, zog eine kleine Brille hervor und setzte sie mit einer Hand gekonnt auf die Nase. Er las die Zeilen durch, dann blickte er über den Rand der Gläser zu ihr auf.

      »Den Gang entlang, die vorletzte Tür links.« Er zeigte mit dem Arm auf den Flur, der die Eingangshalle nach rechts verließ und gab ihr das Schreiben zurück. Dann hob er den Kopf und sein Blick fiel auf die Uhr, die über einem großen Gemälde hing. »Aber warten Sie vor dem Büro bis zwei. Er hat, glaube ich, noch Besuch.«

      »Danke«, sagte Elisabeth, nahm das Papier und ging durch die Eingangshalle. Sie spürte seine Blicke im Rücken, bis sie einige Schritte später das deutliche Schleifgeräusch