Rainer Homburger

Der Nagel


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kam es ihr wie eine Ewigkeit vor, bis sie das richtige Zimmer erreicht hatte. Sie sah auf das Türschild. Die Zimmernummer war ordentlich angebracht, darunter Platz für zwei Namen, der aber nicht genutzt war. Sie wusste also immer noch nicht, wer hier auf sie wartete. Sie setzte sich auf die Holzbank gegenüber. Aus den einzelnen Büros drangen kaum Geräusche heraus. Mit einem lauten Knall fiel eine Tür ins Schloss. Erschrocken zuckte sie zusammen. Sie konnte gerade noch einen Mann erkennen, der über den Flur huschte und in einem der anderen Zimmer verschwand. Er hatte Zivilkleidung getragen, mehr war nicht auszumachen. Wieder ging eine Tür. Erneut erschrak sie und sah die Frau an, die aus dem Büro gekommen war, in das sie gleich hinein musste. Sie hatte dunkle Haare, trug einen grauen Rock und eine weiße Bluse. Unter dem rechten Arm hatte sie zwei Ordner geklemmt. Die Frau musterte sie einen Moment, dann zog sie die Tür hinter sich zu und stolzierte den Gang entlang. Die Absätze sind ein bisschen hoch fürs Büro, ging es ihr durch den Kopf, als sie ihr nachsah.

      Ihre Augen fixierten wieder den Türgriff, den sie drücken musste und danach würde sie erfahren, was es mit dem Schreiben auf sich hatte. Eine Stimme ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Die Stimme, die sie gehört hatte, als die Frau aus dem Büro kam und die Tür für einen Moment offen gestanden hatte. Sie war ihr bekannt vorgekommen, doch war sie innerlich viel zu aufgewühlt, um sie mit jemandem in Verbindung zu bringen. Plötzlich zuckte sie zusammen und warf einen Blick auf die Uhr. Eine Minute nach zwei. Hastig stand sie auf. Im Bruchteil einer Sekunde gingen ihr noch einmal eine Vielzahl von Gedanken durch den Kopf, bis sie schließlich die Hand hob und klopfte.

      Es dauerte zwei lange Sekunden, bis sie ein deutliches »Ja, bitte?« vernahm und die Türklinke nach unten drückte.

      Der Raum war unerwartet geräumig und die linke Wand von einer, fast die ganze Wand überspannenden, Hakenkreuzfahne bedeckt. Davor befand sich ein brusthoher, brauner Schrank, auf dem eine Büste von Hitler stand. Der Eingangstür gegenüber saß ein schlanker, groß gewachsener Mann am Schreibtisch. Er hatte beide Fenster direkt im Rücken, sodass sich seine Umrisse vor dem hellen Hintergrund klar abzeichneten. Elisabeth schloss die Tür und ging auf ihn zu. Sie kniff die Augen zusammen, um nähere Einzelheiten zu erkennen. Der Mann schrieb weiter, bis sie nur noch zwei Schritte entfernt war. Dann sah er auf, schien aber noch einen Moment gedanklich weg zu sein. Er hatte dunkle Haare, eine leicht gebogene Nase und eingefallene Wangen, sodass sein Gesicht einen kantigen Eindruck hinterließ. Durch die verschiedenen Lichtreflexionen im Raum und die Schatten unterhalb der Wangenknochen wirkte er unheimlich. Dann fielen ihr seine strahlenden Augen auf, die überhaupt nicht zu dem restlichen Erscheinungsbild passten. Die Augen, die aus Sicht von Himmlers Rassedefinitionen nicht blauer hätten sein können, strahlten etwas Wärme aus zwischen den ansonsten abstoßenden Gesichtszügen. Dieser krasse Gegensatz irritierte sie. Sollte sie sich an die Zuversicht ausstrahlenden Augen halten oder die Wachsamkeit erhöhen? Ihre Nervosität stieg. Sie überflog den dunkelbraunen Holzschreibtisch. Auf der linken Seite stand ein schwarzes Telefon mit einer schon stark abgenutzten Wählscheibe und zwei weißen Knöpfen darunter. Gegenüber lagen ein Aktenordner, einige Blatt Papier, ein Stempelkissen mit mehreren Stempeln, die sich wahllos in dem aufgeklappten Deckel der Box türmten und ein kleines Kästchen, aus dem einige Stifte ragten. Ganz am Rand stand eine Schreibmaschine, deren Position aber eher darauf hindeutete, dass sie hier nur abgestellt war.

      Elisabeth wartete darauf, dass der Mann etwas sagte. Sie zitterte am ganzen Körper und hatte beide Hände ineinander gefaltet. So hoffte sie, ihre Unruhe verbergen zu können. Der Mann schien nach wie vor abwesend zu sein, aber nur kurze Zeit später konnte sie an den Augen erkennen, dass er aus seiner Gedankenwelt zurückkehrte. Sein Blick fiel auf ihre Hände und sie verfluchte sich in Gedanken, dass sie so nervös und angespannt war. Er musste das Zittern bemerken. Langsam richtete der Mann, der ein hellgraues Hemd trug, seinen Blick nach oben und starrte sie an. Er ließ nicht erkennen, ob er ihre Unruhe bemerkt hatte. Obwohl sie darauf gewartet hatte, erschrak sie, als er sie ansprach.

      »Ja, bitte?«

      »Mein Name ist Friedel. Elisabeth Friedel«, begann sie zögerlich. »Ich habe einen Brief bekommen, dass ich mich heute um vierzehn Uhr hier melden soll.« Sie öffnete ihre Handtasche, suchte nach dem Papier und reichte es über den Tisch. »Der Herr am Eingang hat mich zu Ihnen geschickt, Herr ...?« Sie hob leicht die Stimme und wartete auf eine Antwort.

      »Hoffmann«, antwortete er schließlich kurz. »Setzen Sie sich!«

      Ihr Blick fiel auf einen einfachen Stuhl. Sie zog ihn heran und setzte sich. Die Handtasche stellte sie auf ihre Oberschenkel und hielt sich mit beiden Händen daran fest.

      Hoffmann las den Brief. Er ließ sich dafür ungewöhnlich viel Zeit. Dann legte er ihn auf seinen Schreibtisch und nahm den Aktenordner in die Hand. Er öffnete den schwarzen Deckel, löste die Klammer und nahm das oberste Blatt heraus. Auch das betrachtete er noch einmal ausgiebig, legte es dann vor sich ab und sah zu ihr auf.

      »Seit über viereinhalb Jahren kämpft nun das deutsche Volk in ganz Europa um einen angemessenen und den ihm zustehenden Platz in dieser Welt. Das internationale Judentum hat es wieder einmal geschafft, dass wir in einen Weltkrieg gezogen wurden, der eine Unmenge besten und jungen Blutes kostet und für den schon viele deutsche Männer ihr Leben gelassen haben. Damit dies endgültig nie wieder vorkommen wird, hat die nationalsozialistische Partei sich zum Ziel gesetzt, den Juden und anderen Feinden des Landes ...« Er stockte für einen Moment, dann fuhr er fort: »... sagen wir mal so, die Möglichkeit zu nehmen, jemals wieder ihr zerstörerisches Werk zuungunsten Deutschlands durchführen zu können. Die Juden werden umgesiedelt und ihre Zahl wird unter Kontrolle gehalten.« Er schmunzelte um die Mundwinkel, als er die letzten Worte mit einer besonderen Betonung aussprach. »Und wissen Sie was, Frau Friedel?«

      Elisabeth schüttelte den Kopf und öffnete den Mund, brachte aber keinen Ton heraus. Und wieder hatte sie das Gefühl, dass man ihr die Luft abdrückte.

      Hoffmann ließ sie noch etwas in ihrer Beklemmung schmoren. Offensichtlich genoss er es, dann lehnte er sich in seinem Sessel zurück und fuhr in absoluter Ruhe fort. »Wir sind hier in Deutschland eigentlich schon fast fertig mit unserer Aufgabe. Die letzten Juden aus dem Reich werden in den nächsten Monaten aufgefordert, sich für die Umsiedlung bereitzuhalten. Dann haben wir unser Land gereinigt und damit eine lebenswerte Basis für das Volk und seine Zukunft geschaffen. Und dann haben wir auch die Zeit, uns um diejenigen Fälle zu kümmern, die nicht ganz die Reinheit in sich tragen, die der Führer als das Minimum für das Wohl des deutschen Volkes festgelegt hat.«

      Er richtete sich in seinem Sessel auf, lehnte sich mit beiden Unterarmen auf den Tisch und nahm das Papier in die Hand, das er zuvor aus dem Ordner geholt hatte. Er starrte sie an und wartete.

      »Ich verstehe nicht ganz, worauf Sie hinauswollen«, brachte Elisabeth nach einiger Zeit mit zitternder Stimme hervor. Sie war völlig durcheinander und kaum in der Lage, einen halbwegs klaren Gedanken zu fassen. In ihrem Kopf schwirrten Erzählungen umher, die sie über das Schicksal der Juden gehört hatte. Grausame Geschichten, die sie kaum in Worte fassen konnte. Und damit wollte man sie nun in Zusammenhang bringen?

      »Warum erzählen Sie mir das alles? Warum haben Sie mich her befohlen?«, stammelte sie undeutlich.

      »Es gibt viele Feinde Deutschlands, Juden und andere, die sich durch Falschaussagen dem Zugriff entziehen und das mit dem Ziel, zu einem späteren Zeitpunkt unsere Macht im Reich durch ihre verbrecherischen Tätigkeiten zu schwächen. Und das wollen wir natürlich verhindern, Sie verstehen?«, fragte er arrogant und zog dabei erneut die Mundwinkel nach oben. Seine blauen Augen funkelten in den kalten und markanten Umrissen seines Gesichts und jede Freundlichkeit und Wärme war jetzt verschwunden. Er zögerte bewusst noch einige Sekunden, bevor er fortfuhr.

      »Frau Friedel. Es gibt hier ein paar Ungereimtheiten, die wir dringend klären müssen.«

      »Was denn für Ungereimtheiten?«, stotterte sie unsicher und ihr Blick fischte dabei nach dem Papier, das er in der Hand hielt, in der Hoffnung, dort die ersehnte Antwort zu finden. Doch aus ihrer Position heraus war das nicht möglich.

      »Bei der Untersuchung der Abstammung ihrer Familie sind wir auf ein Papier gestoßen, das uns dazu veranlasst hat, Sie herzubitten.«

      »Was