Thomas Manderley

Die Sternenschnüffler


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das ‚Lighthouse’. Da ist zurzeit Polarnacht, das heißt die haben rund um die Uhr auf.“

      Oulax stand schon halb in der geöffneten Tür, als Joe ihn abermals aufhielt: „Übrigens hat sich vor ein paar Minuten Oliver gemeldet. Lora ist los, ihn ablösen.“

      Oulax antwortete nur mit einem kurzen: „Gut!“, und schon war er wieder aus dem Büro verschwunden.

      Lora fuhr hinauf zum Aussichtsdeck, direkt über dem Commercial-Deck. Es führte einmal rund um die Station, aber es gab hier nur wenige kleine Bars und Lounges, dafür aber eine riesige Fensterfront mit scheinbar unsichtbarem Glas.

      Als Lora aus dem Lift trat, eröffnete sich ihr ein grandioses Panorama: Gesius lag in strahlendem Blau vor ihr, umrahmt vom tiefen Dunkel des Weltalls. Eine große Stadt war zu sehen und auch einige der hohen Gebäude waren auszumachen. Sie ragten wie dunkle Pfähle aus dem Lichtermeer heraus. Lora wusste nicht genau, welche Stadt das war, aber es schien ihr in diesem Moment auch vollkommen unwichtig zu sein. Sie trat ganz nah an die Glasscheibe vor ihr, um jeglichen Rest der Station aus ihrem Blickfeld zu verbannen und um dieses malerische Bild so intensiv wie nur möglich zu erleben.

      Natürlich war sie schon zuvor durchs Weltall gereist und hatte oft die Möglichkeit gehabt, einfach aus dem Fenster zu sehen, doch sie tat es nie. Sie betrat, wie die Meisten, einfach nur das Transportschiff, setzte sich und vertrieb sich irgendwie die Zeit. Dabei hätte sie das vielleicht gar nicht gebraucht, denn Zeit spielte hier keine Rolle. Für Gesius war die Zeit bedeutungslos. Was waren schon Stunden oder Minuten für ihn? Er war einfach da, schwebte im endlosen Raum und all die graue Industrie und der Schmutz der Menschen, dort unten auf der Oberfläche, konnten seinem blauen Strahlen nichts anhaben.

      Lora beobachtete ein großes Raumschiff, das gerade von der Station abkoppelte und auf einen Kurs weg von Gesius ging. Es beschleunigte und war nach kurzer Zeit schon nicht mehr zu sehen.

      Loras Gedanken führten sie wieder nach Hause, nach Iridua. Sie dachte an all das, was jetzt so weit von ihr entfernt war, so unerreichbar weit weg: Ihr Elternhaus, ihre Familie, ihre Heimatstadt Lyrr, Mutters gesäuerter Madeneintopf. Lora konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten, so sehr sie sich auch bemühte.

      Unzählige Sterne funkelten da draußen und auch das Band der Milchstraße durchzog das Weltall wie ein heller Pinselstrich. Lora verfolgte es langsam mit ihren Augen voller Tränen, bis sie an der verschwommenen Reflexion des Monitors mit den aktuellen Abflugzeiten hängenblieb, die sich im Glas des riesigen Panoramafensters widerspiegelte.

      „Lora? Alles klar?“, fragte Oliver, der plötzlich neben ihr stand. „Weinst Du? Ist irgendetwas passiert?“

      Lora drehte sich langsam zu ihm um: „Nein, Alles bestens. Das ist nur so überwältigend schön!“

      „Ich weiß. Mir geht es auch immer so, wenn ich mir einen so wundervollen Planeten aus der Umlaufbahn heraus ansehe. Vor Allem deshalb, weil ich in den letzten fünf Jahren nie so etwas sehen konnte. Ich habe die beste Zeit meines Lebens weggeschmissen für ein paar Kröten, hab im Dreck gelegen und darauf gewartet, dass jemand versucht, mich umzubringen.“ Oliver stellte sich neben Lora direkt ans Fenster und Beide sahen gemeinsam hinaus auf das glänzende Blau von Gesius.

      „Und der Hauqurit?“, fragte Lora plötzlich.

      „Der sitzt um die Ecke auf einer Bank und liest Irgendwas und das seit einer Ewigkeit. Der macht nichts. Er läuft rum, trinkt Kaffee, setzt sich irgendwo hin und liest, wie immer!“

      „Na ja, ich werde mich mal an seine Fersen heften und sehen ... Vorsicht, er kommt!“

      Langsamen Schritts und scheinbar komplett entspannt bog der Fremde um die Ecke und ging in Richtung Fahrstuhl.

      Lora und Oliver wandten sich ab und vertieften sich in ein imaginäres Gespräch, aber Oliver konnte den Fremden aus dem Augenwinkel heraus gut beobachten. Und sie hatten Erfolg: Der Fremde beachtete sie nicht und ging einfach an ihnen vorbei zum Lift.

      Die Fahrstuhltür öffnete sich, eine Energiepistole flackerte im Inneren des Lifts auf und im nächsten Moment brach der Fremde mit brennendem Gesicht zusammen. Das Feuer breitete sich rasend schnell auf seinen ganzen Körper aus, der bereits leblos am Boden lag. Ein zweiter Schuss aus dem Lift heraus schlug direkt neben Lora in einen Stützpfeiler ein, der rot aufglühte wie ein Schmiedeeisen.

      Oliver rannte los und riss Lora mit sich. Der nächste Schuss schlug direkt hinter den beiden in den Boden ein. Oliver spürte die Hitzewelle an seinen Beinen, während er mit eingezogenem Kopf und Lora im Schlepptau über das Aussichtsdeck rannte.

      „Lauf Lora! Nun lauf doch!“, schrie Oliver, während die nächste Salve dicht an ihm vorbeischoss und in einen Werbe-Screen einschlug, der regelrecht explodierte. Tausende, glühend heiße Glasscherben spritzten in Raum hinein in Richtung Lora, die in Todesangst aufschrie.

      „Lora! Lora, bist Du getroffen worden?“.

      Lora schrie einfach nur weiter.

      Oliver hielt auf den nächstbesten Notausgang zu, stieß die Tür auf, schubste Lora hindurch und sprang selbst hinterher, kurz bevor eine weitere Energieladung direkt hinter ihm in die offene Tür einschlug.

      Der Notausgang entpuppte sich als Treppe, die hinab zum Commercial-Deck führte. Mit vollem Schwung stürzten Oliver und Lora abwärts, rutschten, überschlugen sich. Die harten Metallstufen krachten wie Hammerschläge auf ihre Knochen und Gelenke. Erst der untere Treppenabsatz bremste die Fahrt.

      „Scheiße!“, schrie Oliver und sah sich um: Lora lag mit zugekniffenen Augen und einer blutenden Wunde an der Stirn auf dem Boden. „Lora bist Du OK?“

      Lora antwortete nicht.

      „Komm Lora, weiter, sonst sind wir tot: Raus hier und aufs Commercial-Deck. In dem Gewühl ist es viel schwerer, uns zu treffen.“ Oliver packte Lora unter den Achseln und stemmte sie nach oben, bis sie wieder auf ihren wackligen Beinen stand. Dann riss er die Tür auf und zog Lora am Arm hinter sich her, mitten hinein in den Strom der Passanten.

      Oliver schlängelte sich durch die Leute, die er wie beim Hindernislauf unsanft zur Seite schob.

      Lora stolperte einem schlingernden Anhänger gleich hinter ihm her, wobei sie durch die unvermeidbaren Zusammenstöße mit einigen der Passanten, langsam wieder zu sich kam: „Oliver, was war das?“

      „Das war jemand, der uns lieber tot, als lebendig sieht.“

      „Aber warum?“

      „Ist mir vollkommen egal, warum mich einer erschießen will.“

      „Aber wo sollen wir jetzt hin? Vielleicht zum ...“ Ein weiterer Schuss ging knapp an den beiden vorbei und schlug in die Glasscheibe eines Schaufensters ein, die unter der Energieladung wie eine Seifenblase zerplatzte.

      Panik brach aus. Alles floh und rannte in jede erdenkliche Richtung gleichzeitig. Leute wurden mitgerissen, umgeworfen und wie Spielzeug zu Boden geschleudert. Immer neue Energiesalven zischten kreuz und quer über das Commercial-Deck: Schreie, Einschläge, glühende Trümmerteile, die wie Brandbomben durch den Raum schossen. Der ohrenbetäubende Lärm zerrte an Loras Trommelfellen, während er sie gleichzeitig wie bei einer Treibjagd voranpeitschte.

      Oliver kämpfte sich durch die Massen, ohne nach links oder rechts zu sehen, wurde umgestoßen, fiel auf die Knie, richtete sich wieder auf und schob sich weiter durch das Chaos, bis er mit Lora, deren Handgelenk er fest umklammert hielt, die gegenüberliegende Seite des Commercial-Decks erreichte. Er riss die erstbeste Tür auf, die er zu fassen bekam und schlüpfte gemeinsam mit Lora hindurch.

      Einem Zeitsprung gleich fanden sich Lora und Oliver in einem gediegenen Restaurant wieder. Von den grauenhaften Szenen auf dem Commercial-Deck war hier nichts zu spüren: Es gab keine Fenster und die Tür war, bestand aus massivem Holz. Zudem war alles perfekt schallisoliert.

      Ein Kellner kam herbeigeeilt: „Wünschen Sie einen Tisch für zwei? Ich muss Sie aber drauf aufmerksam machen, dass unser minimaler Dress-Code ...“

      Oliver schob ihn beiseite