Michael C. Horus

Das Buch der Vergeltung


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übertreibt wie immer, mein lieber Leo, aber auf eine, wie ich zugeben muss, sehr schmeichelhafte und willkommene Art.“

      Der ehrwürdige Protoskriniar Leo war, ebenso wie sein verehrter Vater, der lange Zeit mein Mentor war und mit dem ich die Ehre hatte, in enger Freundschaft verbunden zu sein, ein sehr gebildeter und vielbelesener Mann, ein Bibliothekar durch und durch und ein ebenso guter Notarius. Seit vielen Jahren stand er dem päpstlichen Archiv als Direktor vor und ward von allen Seiten hoch angesehen. Als oberster Kanzler der heiligen Römischen Kirche war er dem Bischof von Rom einerseits sehr nah, andererseits auch nicht. Er gehörte, wenn man es ganz genau nahm, nicht einmal zum engsten Kreise seiner Vertrauten, was bei dem schlechten Rufe des amtierenden Papstes durchaus als Kompliment zu verstehen war. Allein Leos unendlich hohes Ansehen im Klerus und im römischen Adel bewahrte ihn davor, zu sehr in des Papstes Abhängigkeit zu geraten und ein Opfer seiner unsäglichen Attitüden und Intrigen zu werden. Denn der Papst hatte keine taugliche Macht über ihn. Niemand in Rom wäre verwundert gewesen zu hören, dass es eigentlich der Leo war, der Macht über das heilige Amt ausübte und insgeheim die Geschicke der Kirche lenkte, auch wenn er dies kaum für sich persönlich ausnutzen wollte.

      Leo führte uns einen kurzen Weg durch die Arkaden zu einem Seitenportal, was mir Gelegenheit gab, ihm meinen neuen Schüler Franco de Ferrucius vorzustellen, der mir zur Ausbildung und Erziehung an die Seite gegeben worden war. Franco, er mochte damals gerade zwölf Jahre alt geworden sein, verneigte sich ehrfürchtig, wie ich es ihn gelehrt hatte. Er war ein ungewöhnlich aufmerksamer und wissbegieriger Schüler, einer, wie ich ihn noch nie zuvor gekannt habe, ausgestattet mit der besonderen und durchaus neidenswerten Fähigkeit, in fremden Gesichtern und in kleinen Gesten wie auf Pergament lesen und sich in Windeseile auf seinen Gegenüber einstellen zu können, wenn er nur wollte. Leider hatte ich aber auch schon früh bemerkt, dass er seine erstaunlichen Fähigkeiten, von denen er noch einige mehr besaß und auf die ich im Folgenden auch noch zu sprechen kommen werde, nicht immer zu unserem Vorteil einsetzte, sondern zumeist nur dann, wenn es ihm danach gelüstete. Er war überdies launisch und wechselhaft und glich in jenen Momenten den Weibern, deren ewiges Gezänk ich als Kind in der Webstube meiner lieben Mutter oft mit anhören musste. Alle meine Ermahnungen waren schon von frühester Zeit an nutzlos. Franco verfügte über einen unbändigen Willen und eine starke Seele, aber er schaffte es nicht, damit seine Störrigkeit zu besiegen. Nun, für mich war es eine lässliche Sünde, die in den Augen Gottes ganz sicher Gnade und Vergebung finden würde.

      „Kommt, meine lieben Brüder“, sagte Leo, nachdem er die schwere, mit Bronze beschlagene Türe hinter sich geschlossen hatte, „der Heilige Vater erwartet Euch bereits.“

      „In seinen Privatgemächern?“, fragte ich und blickte mich um. Leo hatte uns nicht zu einer der üblichen Audienzen in den Lateranensischen Palast geführt, sondern in den weit ausladenden Seitenflügel des päpstlichen Schlosses, den jener mit seinen engsten Vertrauten und Bediensteten bewohnte.

      „Bitte verzeiht mir, verehrter Liutprand, es ist nicht leicht zu erklären", antwortete Leo zögernd und sah sich ebenfalls um. Als er sicher war, dass wir allein waren und von niemandem belauscht wurden, fügte er leise hinzu:

      „Es ist so, dass der Heilige Vater den Audienzen und offiziellen Terminen tatsächlich nicht sehr viel Zeit widmet. Er hasst diese Dinge und ebenso die schwere Robe, die zu tragen ihm ein Gräuel ist.“ Er machte eine lange, vielsagende Pause, in der er seinen Blick mehrmals zwischen Franco, Landward und mir pendeln ließ, wobei er auf seltsam beirrende Weise länger auf den Zügen meines Schülers verweilte als bei Bischof Landward und mir.

      „Nun ja“, fuhr er fort, „Ihr werdet es ja gleich selbst sehen. Der Heilige Vater ist … wie soll ich sagen … den weltlichen Dingen ein wenig zu sehr zugeneigt … wenn Ihr versteht, was ich meine, ehrwürdiger Liutprand und ehrwürdiger Landward?“

      Ich nickte und gab ihm wortlos zu verstehen, dass es von meiner Seite aus keiner weiteren Erläuterungen bedurfte. Ich hatte über den jungen Papst Johannes XII. und seine überaus weltlichen Vorlieben von vielen Seiten bereits genug gehört, um mir ein gutes Bild machen zu können, wie es um ihn bestellt war. Zumindest glaubte ich das zu jener Zeit.

      „Aber ich bitte Euch, schweigt und erzählt es niemandem außerhalb dieser Mauern“, fügte Leo eilig hinzu. „Ich fürchte ernsthaft um das Seelenheil unseres geliebten Heiligen Vaters. Der Herrgott möge ihm gnädig sein und sich dereinst seiner Seele erbarmen.“ Dabei bekreuzigte er sich voller Demut. Wir taten es ihm gleich und folgten ihm behutsamen Schrittes in den zweiten Stock.

      Johannes XII., der einmal mit gewöhnlichem Namen Octavian von Spoleto hieß, war der einzige Spross einer der ältesten und angesehensten Adelsfamilien des Landes. Sein Vater, der römische Senator und mächtige Fürst Alberich, Markgraf von Spoleto, hatte kurz vor seinem Dahinscheiden im Jahre des Herrn 954 den versammelten römischen Adel schwören lassen, seinen Sohn bei der nächstfolgenden Sedisvakanz4) zum Obersten Bischof und damit auch zum Allgemeinen Papste zu wählen, um seinen weltlichen und geistlichen Einfluss auch über den eigenen Tod hinaus abzusichern. Über zweiundzwanzig Jahre lang war Alberich zuvor als princeps ac senator omnium Romanorum der Herrscher über die Stadt Rom und den Heiligen Stuhl. Unter seiner Herrschaft kehrten Ordnung und Anstand nach Rom zurück. Alle während seiner Regentschaft amtierenden Päpste waren erst nach seiner Fürsprache in das heilige Amt gewählt worden.

      Nun, in den Kalenden des Septembers jenes Jahres verstarb jener Alberich, gerade als er im Begriff war, die Verbindung mit seiner Frau Alda, der Tochter des verstorbenen Königs Hugo von Italien, nach beinahe zwanzig Jahren Ehe aufzulösen.

      Octavian war damals eben sechzehn Jahre alt geworden und folgte, wie es Alberich in die Hand versprochen wurde, dem ehrwürdigen Agapitus II. nach dessen Ableben auf den Stuhl Petri nach. Ein großes Fest ward gegeben im Dezember des Jahres 955 und Rom feierte ganze dreißig Tage lang ohne Unterlass und in nie zuvor gesehener Pracht und Verschwendung.

      Als wir die Gemächer des Papstes betraten, umfing uns ein süßlicher Duft von Weihrauch und allerlei Essenzen. Leo rümpfte angewidert die Nase und er tat es durchaus so, dass wir es gut sehen sollten. Ein ferner Gesang, keinesfalls eine Liturgie, eher ein Schwärmen (so empfand ich es) war zu hören. Leo schloss die schweren Flügeltüren so kräftig, dass der dumpfe Knall von den Wänden widerhallte. Der Gesang erstarb augenblicklich. Ein junger Mann, höchstens fünfundzwanzig Jahre alt und in rotes Tuch gekleidet, erschien zwischen zwei marmornen Pfeilern am Ende des Raumes.

      „Leo, was gibt es? Warum unterbrichst Du mich mit diesem Lärm?“

      Der altehrwürdige Protoskriniar und Kanzler verneigte sich tief und vollkommen wortlos vor dem jungen Manne, der langsam näherkam. Wir taten es ihm gleich, darauf bedacht, alles genauso zu tun, wie Leo es empfohlen hatte. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich immer wieder meinen Schüler Franco, aber es gab keinen Anlass zur Sorge. Er gehorchte und hielt sich genauestens an meine Worte.

      „Wen hast Du mir mitgebracht? Ich brauche frischen Wein, Leo. Geh und hol ihn mir! Und bring Trauben mit, recht viele von den roten.“

      „Ehrwürdiger Papst, es sind Besucher aus Pavia. Sie sind Gesandte des Kaisers“, sagte Leo, immer noch gebeugt und ohne aufzusehen. Johannes XII. winkte ihm zum Zeichen, dass er sich nun entfernen dürfe, um das Verlangte zu holen.

      „Ich mag ihn nicht so sehr“, sagte der Heilige Vater zu uns, als Leo außer Sichtweite war, „er ist so verbiestert und ich habe ihn noch nie scherzen sehen. Doch, nun erhebt Euch und sprecht: Wer seid Ihr und welch Begehr führt Euch zu mir, Ihr lieben Bischöfe?“

      Landward, dem das gebeugte Stehen nicht mehr ganz so leichtfiel, ächzte schwer und stellte sich mühsam gerade. Ich richtete mich ebenfalls auf und blickte in das knabenhafte Gesicht des Papstes. Ein weicher Bartflaum umschloss seine Wangen und sein Kinn, kaum so viel, dass man es hätte abschaben können. Seine dunklen Augen stierten mich neugierig, aber auch misstrauisch an, so als hätte ich ein großes Geschwür an der Nase, welches jeden Moment aufbrechen könne. Das mit dicken goldenen Borten bestickte rote Tuch, in welches er gewandet war, wirkte aus der Nähe sehr viel