Christian Jesch

Renaissance 2.0


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man einen tiefen Stollen in die Erde getrieben, um möglichst viel der Hitze aus dem Inneren des Planeten zu bekommen. Das Antiquar besaß nur zwei Eingänge, die perfekt getarnt waren. Einer war für die Menschen, die hier lebten, der andere für die Fahrzeuge, die das Rempa Luak anlieferten, welches in einigen Kilometern Entfernung übernommen und auf die Transporter des Antiquar umgeladen wurde, nachdem man es auf eventuelle Sender untersucht hatte. Somit war der Standort fast zu hundert Prozent gesichert. Sein Weg führte ihn unweigerlich an der riesigen Bibliothek, dem Herzstück der Anlage, vorbei. Sie lag in der Mitte und war aus allen Richtungen zu betreten. Tebeel hielt eine Sekunde inne, bevor er dann seinem Wunsch nachgab und den schier endlosen Raum mit all den Büchern und Datenträger betrat. Unzählige Regale waren dort aufgereiht. Wie hypnotisiert wanderte er durch einige der Gänge, bis er schließlich stehen blieb und eines der Bücher nahm. Ehrfürchtig blätterte er darin. Hier stand die komplette Geschichte des Landes, vom ersten Tag ihrer Existenz. Vermutlich gab es kein Ereignis, das nicht zwischen den Seiten dieser Bücher festgehalten wurde. Im Laufe der Zeit hatte man angefangen, jedes Papier zu laminieren, um es für die Ewigkeit zu erhalten. Der Text, den Tebeel in seinen Händen hielt, war über einhundert Jahre alt. Doch er sah noch immer so aus, als hätte man ihn erst gestern verfasst.

      "Was für eine Ehre", begrüßte der Bibliothekar Tebeel, der fast einen Herzinfarkt bekommen hatte. "Ich bitte um Entschuldigung", fügte er deswegen sogleich hinzu, als er das Zusammenzucken des Mannes wahrnahm.

      "Schon gut", beruhigte ihn der Ordensführer. "Ich war nur so fasziniert von all diesem hier", sagte er weiter, während seine Augen bewundernd über das zirka zweieinhalb Meter hohe und etwa einhundert Meter lange Regal wanderten.

      "Ein erhebender Anblick. Dem stimme ich zu."

      "Wenn man gesagt bekommt, wie lang unser Land schon existiert, ist das nur eine wenig beeindruckende Zahl. Wenn man dann aber hier steht und sieht, was in all diesen Jahren geschehen ist, kann man es sich kaum vorstellen."

      "Ich liebe diese Bibliothek", schwärmte der Mann, der irgendwo in den Fünfzigern war. "Die Entwicklung von den ersten Tagen bis heute zu kennen, die Dramatik, welche dieses Land schon erlebt hat. Einfach unbeschreiblich."

      "Sie klingen so, als hätten Sie jedes einzelne Buch hier gelesen."

      "Ich habe es versucht. Seit fast dreißig Jahren bin ich für diesen Schatz verantwortlich. Da hat man viel Zeit. Trotzdem habe ich, wenn es hoch kommt, gerade mal geschafft, fünf oder zehn Prozent aller Aufzeichnungen zu lesen."

      "Das ist weitaus mehr, als so manch anderer Mensch", kommentierte Tebeel beeindruckt.

      "Falls Sie sich für etwas Bestimmtes interessieren…"

      "Im Moment nicht. Ich war gerade auf dem Weg zu einer anderen Aufgabe. Aber ich komme auf Sie zurück, wenn es soweit ist. Vielen Dank."

      "War mit ein Vergnügen. Dann werde ich mich mal wieder an meine Arbeit machen."

      Tebeel lächelte und verließ die Bibliothek wobei er sich neu orientieren musste, da er einen anderen Ausgang wählte, als den, durch den er die diese betreten hatte. Nach einigen falschen Abzweigungen war er endlich wieder im richtigen Gang angekommen. Mit schnellen Schritten suchte er die Quartiere der Navigatoren auf und erkundigte sich bei jedem einzelnen, ob alles in Ordnung sei. Dann begab sich der Ordensführer in die erste Etage der Anlage, wo sich das Heiligtum befand. Auf dem Weg dorthin traf er auf Thevog, der ein wenig verirrt aussah.

      "Hallo, Junge. Hast du dich soweit eingelebt?"

      "Ja. Vielen Dank. Ich bin vollkommen fasziniert von diesem Antiquar. Etwas Derartiges habe ich noch nie gesehen. Sie müssen mir irgendwann alles darüber erzählen."

      "Oh, da bin ich wohl der Falsche. Aber wenn du zum Bibliothekar gehst, der kann dir mit Sicherheit alles berichten, was du wissen willst."

      "Bibliothekar?", fragte Thevog überrascht. "Das heißt, es gibt hier einen Bibliothek?"

      "Das wusstest du noch nicht? Daher stammt eigentlich der Name dieser Anlage. Du kannst gleich hier den Eingang nehmen und schon bist du mitten in der Welt der Bücher und Historie." Thevog war so überwältigt, dass er kein Wort herausbrachte. Tebeel musste lächeln. Er konnte sich gut vorstellen, wie überwältigt der Junge sein würde, wenn er die unzähligen Regale sieht. Vermutlich würde er sich an Ort und Stelle auf den Boden setzten und stundenlang darauf warten, dass das Staunen ein Ende hat. "Was hast du jetzt eigentlich vor?", wechselte der Ordensführer das Thema.

      "Mir liegt immer noch alles daran, Shilané wiederzufinden. Das heißt, ich muss nach den Magus suchen und dort hingehen. Glauben Sie, die Bibliothek kann mir dabei helfen?"

      "Da fragst du am besten den Bibliothekar. Der kennt all seinen Bücher."

      "Das wäre großartig", antwortete der Junge mit einem strahlenden Lächeln.

      "Du kannst dich im Übrigen überall frei bewegen." Der Jugendliche bedankte sich überschwänglich. "Sag mal, Thevog, du bist, wie mir Misuk erzählt hat, ein überaus intelligenter und belesener Mann." Die Wangen des Jungen liefen leicht rot an, ob des Lobes. "Die Navigatoren könnten jemanden, wie dich, in ihren Reihen gut gebrauchen. Du bietest von Grund her schon mehr Potenzial, als die meisten anderen der Männer und Frauen. Ich bin wirklich neugierig darauf, welche Zukunft du berechnen würdest. Natürlich würden wir erst einmal einen Bluttest, wegen der Verträglichkeit des Rempa Luak bei dir machen, wenn du Interesse hast. Ich werde dich aber zu nichts zwingen. Lass es dir nur vielleicht einmal durch den Kopf gehen." Thevog schaute den Mann nachdenklich an. Mit seiner Menschenkenntnis versuchte der Junge herauszubekommen, was in Tebeel vorging. Ob er es ernst meinte mit der Freiwilligkeit. Nach einer kurzen Bedenkzeit kam er zu der Überzeugung, dass der Ordensführer es wohl so meinte, wie er es gesagt hatte. Trotzdem ließ sich Thevog zu keiner definitiven Antwort verleiten.

      "Ich werde darüber nachdenken. Allerdings muss ich zugeben, bin ich nicht begeistert von dem Gedanken, in einer ergonomisch geformten Sitzschale gefangen zu sein."

      "Vielleicht muss das auch gar nicht der Fall sein. Ich habe darüber nachgedacht, ob du vielleicht einen neue Generation Navigatoren einführen könntest. Solche, die sich frei bewegen."

      "Das wäre schon eher etwas, über das ich nachdenken könnte. Ich lasse es mir durch den Kopf gehen und werde Ihnen dann meine Entscheidung mitteilen. Für den Moment ist allerdings meine Freundin mir wichtiger. Ich hoffe, Sie verstehen das?"

      "Natürlich verstehe ich das. Ich hoffe, wir können dir dabei helfen, sie und die Magus zu finden. Wie ich schon sagte, die Sache mit dem Navigator ist so eine Idee von mir. Ich würde mich sehr freuen, wenn du dem Experiment zustimmst, aber ich werde nichts in die Wege leiten, was du nicht willst. Das verspreche ich dir."

      Kapitel 8

      "Ihr werdet euch wahrscheinlich fragen, warum ich euch aus der Armee ausgegliedert habe und was ihr hier sollt." Marah stand vor etwa siebzig Mutanten, die sie erwartungsvoll anschauten. Keiner von ihnen kannte den Grund, weswegen sie sich in dieser Halle versammeln sollten. Aber jeder hatte bereits mitbekommen, dass Ysana seit kurzem verschwunden war. Daher hofften die Anwesenden endlich zu erfahren, was mit ihrer Anführerin geschehen war. "Zunächst einmal möchte ich aber eine andere Frage klären, die ihr seit kurzem immer wieder untereinander gestellt habt. Ysana. Ich muss euch leider mitteilen, dass unsere Anführerin von einer falschen Schlange, die sie selber in unser Nest geholt hat, umgebracht wurde. Vielleicht kennt jemand von euch sogar diese Person. Es war die Frau, die Ysanas Bruder wiedererweckt hatte. Jetzt sind beide tot. Daher haben Ambisi und ich die Führung übernommen. Somit kommen wir auch schon zum zweiten Punkt, warum ich euch hier versammelt habe. Ihr seid diejenigen, die in einer Schlacht das Geringste ausmachen könnt. Eure Fertigkeiten beschränken sich auf Telepathie, Fernortung, Empathie und andere, nicht tödliche Fähigkeiten. Daher habe ich beschlossen, euch zu einer speziellen Garde auszubilden. Hierzu verwenden wir technische Ausrüstung der ProTeq, welche diese freundlicherweise zurückgelassen haben, als sie aus der Stadt flohen. Es hat uns einige Zeit gekostet, diese zu verstehen, doch es hat sich gelohnt. Mit diesem Equipment werden Wissen, Bewegungsabläufe und vieles mehr in eure Gehirne übertragen, die ihr im Kampf gebrauchen könnt.