Christian Jesch

Renaissance 2.0


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gegenüber jedem, der unser Feind ist. Ihr werdet die Menschen töten, noch bevor ihr überhaupt nur daran gedacht habt. Zusätzlich werdet ihr ein spezielles Krafttraining absolvieren, um eure Muskeln auf den Einsatz eures neuen Könnens abzustimmen. In zehn Tagen erwarte ich euch dann vollständig einsatzfähig. Zehn Tage deswegen, weil wir schon bald in unsere erste Schlacht ziehen werden und ich euch unbedingt dabei haben will. Wollt ihr mit mir in den Kampf ziehen?", beendete Marah ihre Ansprache mit einem letzten Aufruf. Die Antwort war eindeutig. Obwohl die Metas zu Anfang noch sehr unsicher waren, hatten die Worte sie ermutigt. Und Teil einer besonderen Garde zu sein, machte die Individuen zu einer Einheit. Die junge Frau verließ den Raum unter dem Jubel der Mutanten, die sich sofort danach an ihre Ausbildung machten. Keiner wollt Marah oder auch Ambisi enttäuschen. Als sie in ihrem Büro ankam, wartete bereits die Kommandantin der Armee der Finsternis auf sie.

      "Gute Neuigkeiten", empfing die dunkelhäutige Frau sie, mit einem breiten Grinsen. "Einige meiner Soldaten aus den verschiedenen Bataillonen haben sich bereits bei mir gemeldet und von sechs weiteren Anlagen und zwei Einrichtungen in den Bergen berichtet, wo wir weitere Metamenschen finden könnten."

      "Das ist großartig. Unter diesen Umständen solltest du sofort aufbrechen und mit deiner Suche anfangen. Wir benötigen so schnell wie möglich Ersatz für die Mutanten, die bei der Explosion der Finsternis III ums Leben gekommen sind. Wenn wir noch länger warten, werden unsere Feinde zu viel Zeit haben, sich auf einen Angriff vorzubereiten. Das können wir nicht erlauben."

      "Wo willst du sie denn angreifen?", erkundigte sich Ambisi sichtlich überrascht. Es gefiel ihr nicht, dass Marah bereits Pläne für einen offenen Kampf schmiedete, ohne sie bei diesen einzubinden und zu fragen. Ihrer Meinung nach war es dazu noch viel zu früh. Selbst, wenn sie die Kampfkraft der Armee verdoppeln oder gar verdreifachen konnten, bedeutete dies noch immer, dass sie in der Unterzahl waren, was das Militär der ProTeq anging. Natürlich hatten die Mutanten die Vorteile ihrer Fähigkeiten auf ihrer Seite, doch das bedeutete noch lange nicht ein Ausgleich des Kräfteverhältnisses.

      "Ich will sie da angreifen, wo sie es am wenigsten erwarten. In Çapitis. Wir werden unsere Armee als einfach Bürger in die Stadt schicken und sie dann aktivieren. Wir werden Chaos stiften, Untergang und Verderben, um dann schließlich die Regierung zu übernehmen." Ambisi versuchte einen möglichst neutralen Gesichtsausdruck zu machen, damit Marah nicht erkennen konnte, dass sie den Plan für vollkommenen Blödsinn hielt. Ein derart unbedachtes Vorgehen konnte nur in einer Katastrophe enden. Das musste die junge Dunkelhäutige unbedingt verhindern. "Wie gefällt dir der Plan?"

      "Dir ist schon klar, dass Çapitis einen Millionenstadt ist und wir, wenn es mit den Anlagen und Verstecken wirklich stimmen sollte, vielleicht zweitausendfünfhundert bis dreitausend neue Mutanten dazu bekommen. Das würde dann insgesamt knapp viertausend Ligisten und Soldaten bedeuten. Viertausend, von mir aus lass es auch fünftausend Metamenschen sein, gegen eine Millionenstadt die von militärischen Stützpunkten nur so umringt ist. Hältst du das allen Ernstes für klug?"

      "Der Überraschungsmoment und unsere außergewöhnlichen Fertigkeiten, werden dies schon wieder wettmachen. Natürlich werden wir, bevor wir zuschlagen werden, diverse Vorkehrungen treffen, damit das Militär nicht eintrifft und uns bei unserem Vorhaben stört. Auch die Sicherheit werden wir im Vorfeld ausschalten. Du wirst schon sehen."

      "Hast du das mit unseren Strategen bereits besprochen?"

      "Welche Strategen meinst du? Wir sind diejenigen,die die Pläne erstellen. Ysana hat auch nie jemanden um Rat gefragt, warum sollten wir jetzt damit anfangen?", erwiderte Marah wie im Fieber.

      "Ysana hat aber auch keinen derartige Angriff geplant. Ich denke, das hatte auch seinen Grund, warum sie das nicht tat", gab Ambisi zu bedenken. "Du willst doch nicht Ysanas Erbe aufs Spiel setzen, nur um schnell Erfolg zu haben. Sie wäre maßlos enttäuscht, wenn du ihre gesamten Bemühungen einen Mutantenstaat zu errichten zunichtemachst." Marah schaute die junge Frau stumpf an. Sie hatte recht. Was würde Ysana dazu sagen, wenn sie die Schlacht verliert und damit die Mutanten dem Untergang weihen würde? Für einen Moment zweifelte das Mädchen an ihrem Einfall. Sie fragte sich, ob Ysana auch so gehandelt, oder ob sie eine bessere Idee gehabt hätte. "Wir sollten erste einmal nachsehen, ob wir weitere Metas überreden können, sich uns anzuschließen. Erst, wenn wir keine weiteren mehr finden, wissen wir auch, wie stark unsere Streitkraft ist und was wir mit dieser ausrichten können. Wenn wir bestehen wollen, brauchen wir mindestens zehntausend unserer Leute, um überhaupt über eine Kampf nachdenken zu können. Und dann auch nicht in einer Stadt, wo unserer Feind die Trümpfe in der Hand hält."

      "Wahrscheinlich hast du wirklich recht", sagte Marah, die wie aus einem Traum aufzuwachen schien. "Ich habe mich da wohl unerheblich verleiten lassen. Letzte Nacht hatte ich einen Traum, in dem wir genauso vorgegangen sind und gewonnen haben. Es schien alles so real, als hätte ich in die Zukunft gesehen."

      "Es war ein Traum, wie du schon sagtest. Vielleicht war es auch die Zukunft, die du gesehen hast. Vielleicht war es aber auch nur ein Wunschtraum", bekundete Ambisi ihr Mitgefühl. "Ich will es ja auch, dass wir so bald wie möglich die Macht übernehmen. Aber, wenn wir angreifen, dann müssen wir auch absolut sicher sein, dass wir gewinnen. Wenn wir uns dessen nicht sein können, besteht die Option, alles zu verlieren, was wir bereits erreicht haben."

      "Sieh zu, dass du noch ein paar Sturmbringer findest. Du solltest deine Bataillone auf zwei oder drei Hover verteilen. Ich nehme an, ihr werdet viel Platz benötigen, wenn ihr aus den Anlagen zurückkommt."

      "Das will ich stark hoffen. Mit den sieben- bis achthundert Männern und Frauen, die wir derzeit haben, können wir nicht wirklich einen Start machen."

      "Nein, das stimmt. In meinem Traum waren es, glaube ich, auch eher sieben- bis achttausend, die die Stadt mit uns zusammen stürmten."

      "Sieben- bis achttausend", wiederholte Ambisi. "Das klingt schon realistischer. Kopf hoch. Wir werden Ysana stolz auf uns machen."

      Eine dreiviertel Stunde später bestieg Ambisi die Finsternis VII und begab sich zum Kommandostand. Dreißig Minuten danach hoben mit ihr noch zwei weitere Hover ab und machten sich in Richtung Nord-West-West auf. Dort sollte eine alte Umspannungsanlage liegen, die einmal sechs kleinere Dörfer und Städte versorgt hatte, dies jedoch schon seit Jahren nicht mehr tat. Sie ähnelte somit dem Anlagen, in denen Ysana ihr erster Sturmbringer gefunden und überredet hatte, sich ihr anzuschließen. Die farbige junge Frau mit den kurzen, lockigen Haaren war entsprechend aufgeregt. Sie erinnerte sich noch gut daran, dass es nicht leicht war, die Mutanten, die so lange in der totalen Abgeschiedenheit gelebt hatten davon zu überzeugen, ihr gewohntes Terrain zu verlassen. Ganz besonders war ihr die erste der Anlagen im Gedächtnis geblieben, in der die Metamenschen vollkommen degeneriert waren, sodass sie die Ligisten angriffen und ermordeten, um sie dann auszusaugen oder zu verspeisen. Bei diesem Gedanken wurde Ambisi mulmig im Magen und sie hätte sich beinahe übergeben müssen. Doch sie durfte unter gar keinen Umständen Schwäche zeigen. Daher konzentrierte sich das Mädchen auf andere Dinge und ließ die Situation einfach auf sich zukommen. Sie konnte sich noch immer Sorgen machen, wenn alles wirklich anfing schiefzulaufen. Auf der anderen Seite war es jedoch auch gut, dass sie sich an diese Probleme erinnerte, denn das hielt Ambisi davon ab, leichtsinnig zu werden. Kurz vor der Landung instruierte die Frau noch einmal alle Besatzungsmitglieder, was alles auf dem Gelände der leerstehenden Anlage auf sie warten könnte. Niemand sollte voreilig oder nachlässig handeln. Sie selbst hielt sich zunächst im Hintergrund, während die Armee alles durchsuchte. Aus dem Kommandostand der Finsternis VII wurde das gesamte Gelände nach Wärmequellen gescannt. Immer dann, wenn eine auftauchte, wurden einige Soldaten dort hingeschickt, um das Entdeckte zu überprüfen. Leider erwies sich diese Anlage als ein Fehlschlag. Nach etwas mehr als einer Stunde zog sich das Bataillon wieder zurück auf die Hover, welch dann Kurs auf das nächste Objekt nahmen. Ambisi war schwer enttäuscht. In den ersten drei Anlagen, die sie noch mit Ysana durchforscht hatte, waren jeweils drei- bis vierhundert Männer, Frauen und Kinder gewesen. Da man ihr nun von weiteren sechs Anlagen und zwei Verstecken in den Bergen berichtet hatte, hoffte sie auf mindestens dreitausend neue Mutanten und Sturmbringer. Mit jedem Ort, an dem sie niemanden faden, verringerte sich die Zahl und die Übernahme des Staates rückte weiter in die Ferne.