Michael Kothe

Quer Beet aufs Treppchen


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Er strahlte Britta an. Nach mehrmaligem Schmatzen war er eingeschlafen.

      Britta wischte sich mit beiden Handrücken die Tränen ab. Es reichte nicht, erst ein Papiertaschentuch aus ihrer Tasche trocknete sie ganz. Während sie rieb, wuchs in ihr ein furchtbarer Verdacht. Waren die Zwillinge mit der gleichen Missbildung gezeichnet?

      Sie pirschte die Treppe hinab, öffnete die Türe ein wenig. Das Licht aus dem Treppenhaus schien über sie hinweg, erhellte das Kinderzimmer gerade so, dass sie die beiden Säuglinge in ihren Bettchen liegen sah. Sie schlich hin, beugte sich nacheinander bei beiden über die seitlichen Gitter. Sie nahm allen Mut zusammen und tastete die Beinchen bis zu den Füßen ab. Sie redete sich ein, dass sie die Missgestaltung ja nicht sehen musste. Das Befühlen barg etwas Anonymisierendes, Beruhigendes. Und Britta war beruhigt, in den Strampelhöschen ertastete sie kleine, normal geformte Füßchen mit je einer großen und mehreren kleinen Zehen, deren Zahl sie nur vermuten konnte, aber ihr stellten sich die Härchen an den Armen und im Nacken auf, wenn sie daran dachte, die Vermutung überprüfen zu wollen.

      Sie richtete sich ruckartig auf, als sie ihr auffielen. Warum trugen die Säuglinge Handschuhe? Gestrickt, farblich abgestimmt auf ihre Strampelanzüge. Deshalb hatte sie sie vorher nicht bemerkt. Britta beugte sich nochmals in das erste Bettchen, ergriff das kleine Händchen – und hätte beinahe aufgeschrien vor Schreck und Schmerz. Etwas Spitzes hatte sie durch den kleinen Strickhandschuh gestochen oder gekratzt. Unwillkürlich steckte sie den Finger in den Mund. Er schmeckte salzig und nach Eisen. Blut! Sie fasste nach, tastete vom Ellbogen zum Ende, hielt den Atem an, tastete weiter, fühlte, wie das Ärmchen dünner wurde – und wie ein Hühnerfuß in drei nach vorn gerichteten Krallen und einer rückwärts wachsenden auslief. Die anderen Händchen zu erforschen, fehlte ihr der Mut.

      Britta setzte sich auf die Treppe, stützte die Ellbogen auf die Knie und vergrub das Gesicht in den Händen, ließ ihren Tränen freien Lauf. Die armen kleinen, missgestalteten Geschöpfe! Die arme Familie! Womit hatten sie das verdient? Wofür hatte Gott sie so hart bestraft? Gab es ihn wirklich, wenn er so etwas zuließ?

      Britta wusste nicht, wie lange sie so gesessen hatte. Sie hatte ein Klicken oder Knacken vernommen, aber dass das Geräusch mit einem Kurzschluss einhergegangen war, der auch im Treppenhaus das Licht gelöscht hatte, bemerkte sie erst nach einer Weile. Im Haus herrschte Dunkelheit. Sie stand auf, stolperte über die Stufe, an die sie nicht mehr gedacht hatte. Der Griff ans Treppengeländer verhinderte ihren Sturz. Als sie sich nach oben tastete, schlich ihr eine Gänsehaut über den Rücken. Sie schüttelte sich, fröstelte. Ihr fiel wieder ein, dass sie so gut wie nichts anhatte. Aber Licht war wichtiger. Sie schlang die Arme um ihre Schultern, vertrieb die Kälte durch leichte Schläge.

      Schemenhaft erkannte sie das Kinderbettchen, die Couchgarnitur an der Wand. Sie setzte sich. Aus ihrer Tasche fingerte sie ihr Smartphone, schaltete es an und startete die Taschenlampen-App. Licht!

      Aber ein schwacher Akku. Anstatt nach dem Netzteil und dem Ladekabel zu kramen, zog sie es vor, für Licht im Haus zu sorgen. Im Kellergeschoss hatte sie ja die Klappe hinter dem Spiegel entdeckt. Dahinter verbarg sich wahrscheinlich der Sicherungskasten.

      Die Tür neben dem Kasten stand einen Spalt breit offen. Als Britta die Hauptsicherung eingeschaltet hatte, war im Treppenhaus, gleichzeitig auch hinter der Türe, das Licht angegangen. Sie schaltete ihr Smartphone aus, sie brauchte dessen Licht nicht mehr, und linste durch den Spalt. Eine holzvertäfelte Wand, dunkelroter Teppichboden, eine rustikale Deckenlampe. Was Britta sehen konnte, erinnerte an ein Hauswirtschafts- oder Bügelzimmer. Es herrschte Stille.

      Sie hätte selbst nicht sagen können, was sie bewegte, die Tür aufzudrücken und den Raum zu betreten. Sie fühlte sich magisch angezogen. So, wie jemand mit Höhenangst nicht vermeiden kann, sich über die Kante zu lehnen und in die Tiefe zu spähen.

      Der Raum war unspektakulär eingerichtet. Ein Hobbyraum der 60ger Jahre. Ein Schrank, Stühle, ein Tisch, auf dem zwei Päckchen mit Spielkarten lagen. An einer Wand eine Fototapete, die einen Wald zeigte, aus dessen Rand die Mauern einer Burgruine wuchsen. Am Ende der Tapete war nur noch Mauer, und so dauerte es eine Weile, bis Britta es entdeckte – das Loch in der wirklichen Wand. Eher ein Durchgang. Mit glatten Seiten und oben einem gemauerten Rundbogen.

      Sie fühlte sich wie Alice im Wunderland, als sie gebückt den Torbogen durchschritt und im Halbdunkel dem Gang folgte. Irgendwann versperrte ihr Körper dem Licht aus dem Hobbyraum den Weg nach vorn. Ganz dunkel wurde es dennoch nicht, ein schwacher Schein blinkte ihr entgegen, füllte den Gang stroboskopartig mit einem diffusen Hellgrau.

      »Jetzt muss nur noch das Kaninchen kommen!«

      Brittas stummer Scherz war ein Ausdruck von Galgenhumor. Sie kam sich gewiss nicht vor wie eine Figur in Disneys sympathisch animierten Zeichentrickfilm, sondern eher wie in dem düsteren Film aus 2010 von Tim Burton. Irgendetwas ließ sie entgegen ihrem eigenen Streben nicht umkehren, zog sie immer weiter vorwärts. Das Licht wurde nicht heller.

      Unerwartet weitete sich der Tunnel zu einer kleinen Halle. In der Mitte hing von der Decke eine flackernde Neonröhre unter einem blinden Reflektor. Die Röhre selbst war von einer Dreckschicht umhüllt, der Schein erlaubte gerade einmal, Umrisse zu erkennen. Als Britta zu dem hohen, langen Tisch in der Mitte trat, stieß sie an einen kleineren, der zur Seite auswich. Sie fasste nach. Es war eine Art Servierwagen, nur größer und aus Blech oder Edelstahl. Etwas darauf hatte bei dem Stoß geschabt. Offenbar Werkzeug. Sie fasste hin, tastete. Und schrie auf. Sie hatte sich geschnitten.

      Ihr fiel das Smartphone wieder ein. Sie schaltete es ein, verzichtete auf die Taschenlampenfunktion. Für den Raum reichte die normale Displaybeleuchtung, auch wenn sie einen Rotstich aufwies, ein Tribut an den blutigen Bildausschnitt der zeitgenössischen Darstellung einer Hinrichtung mit dem Fallbeil.

      Britta zuckte zusammen. In ihrem Zeigefinger klaffte ein Schnitt über die gesamte Länge des vorderen Gliedes, hervorgerufen durch den Griff in ein Skalpell, wie sie nun erkannte. Es war Teil eines Operationsbestecks, das auf dem nackten Blech des Wagens ausgebreitet lag. Sie entdeckte noch zwei Wagen, einen davon mit weiterem Operationswerkzeug, angefangen mit Skalpellen, über Zangen, Klistiere bis hin zu Knochensägen. Der letzte Wagen trug Flaschen mit Betäubungsmitteln, wie sie aus den Wattebäuschen daneben schloss, steril verpacktes Verbands- und Nähzeug und ein Knäuel blauer Operationshandschuhe.

      Ihr wurde richtig kalt. Sie trat von den Blechwagen zurück, fuhr zusammen, brach in Tränen aus. Etwas hatte sie von hinten berührt. Hart, kantig. Sie schaute über ihre Schulter und stieß erleichtert die angehaltene Luft aus, sie war an die Tischkante gestoßen. Nach einem zweiten Blick schlug sie die Hände vors Gesicht. Für die unregelmäßigen, im roten Licht schwarz erscheinenden Flecken auf der Tischplatte gab es in diesem Ambiente nur eine Erklärung: Blut. Sie stand in einem Operationssaal, in Frankensteins Schreckenskammer.

      Sie schluckte trocken, nahm den Rest ihres Mutes zusammen und hob die Augen. An den Wänden gaben die Lücken zwischen den wahrscheinlich blechernen Medizinschränken, wie aus den runden Kanten und Ecken zu schließen war, den Blick frei auf fünf angrenzende Räume. Nur einer hatte eine Türe.

      Britta pirschte sich an den nächstliegenden heran, schlich über die Schwelle, stets darauf bedacht, möglichst kein Geräusch zu verursachen. Das fiel schwer, der Boden war übersät mit Scherben, medizinischem Besteck, Spritzen und einigem mehr. Ihr stockte der Atem, als sie vor dem Durchgang auf einem Haufen Unrat einen Finger liegen sah. Sie beugte sich zur Seite, würgte.

      Sie kam sich plötzlich winzig vor, bereute, Frau Häuslers Reizwäsche angezogen zu haben. Die machte sie verletzlich, klein. In ihrer Jeans und der Lederjacke wäre sie nicht so schutzlos gewesen! Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Als ob das helfen könnte! Es funktionierte auch nicht, das Smartphone leuchtete die Umgebung nicht mehr aus. In Brittas Schluchzen lag Verzweiflung.

      Sie zwang sich weiter.

      Sie hielt das Licht auf den Boden. Der sah aus wie in der Halle, Unrat auf ehemals weißen Fliesen. Ein Lichtreflex ließ sie aufblicken, in Augenhöhe. Sie hob das Smartphone, presste vor Schreck die freie Hand auf den Mund. Vor ihr stand eine fast unbekleidete junge Frau, die sie mit einem Licht blendete. Britta erstarrte und