Michael Kothe

Quer Beet aufs Treppchen


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trug Jeans und lange Haare«, in der ein Typ seiner Flamme zuliebe nicht nur zum Friseur geht, sondern sein T-Shirt gegen den Rollkragenpulli, die Lederweste gegen ein Sakko und die Jeans gegen eine Stoffhose mit Bügelfalten tauscht. Seine Harley Low Rider mit Chopper-Gabel und Sissibar weicht dem konservativen VW Golf. Und nach dem Abschluss seiner Metamorphose beendet sie die Beziehung. Er sei so spießig geworden, nicht mehr der taffe Typ, in den sie sich vormals verliebt hatte. Als er dann mit seinem Köfferchen auf der Straße steht, sieht er sie aus dem Haus kommen und sich hinter einem Kerl aufs Motorrad schwingen. Der trug Jeans und lange Haare.

      Der Typ aus der Geschichte war ich.

      Seit ihrer Scheidung sahen wir uns regelmäßig. Nach einem Vierteljahr verkaufte Hannelore die Wohnung, die ihr zugesprochen worden war, und zog zu mir. Wir heirateten. Nun habe ich sie am Hals und weiß nicht, wie ich sie wieder losbekomme. Im Tessin habe ich die Hecke geschnitten und den Rasen gemäht. Gleich, nachdem ich den Kofferraum ausgeräumt hatte. Sie lag auf der Terrasse im Liegestuhl in der Sonne. Sie wollte für mich hübsch braun werden. Die Brötchen mag sie übrigens warm und mit Kruste, und die Gartenabfälle lasse ich höchstens ein halbe Stunde liegen.

      Manchmal trifft man im Leben eine falsche Entscheidung, und manche Fehler macht man mehrmals. Mit Herbert verstehe ich mich übrigens wieder prima. Im Grunde meines Herzens beneide ich ihn.

      ***

      Die Aufgabenstellung hieß »Manchmal trifft man im Leben eine falsche Entscheidung – vielleicht auch mehrmals«.

      Im Forum des Schreiblustverlages bewerten die Einsender der bis 40 Beiträge am Monatsende ihre Werke gegenseitig. Der eigene Beitrag erhält dabei keine Punkte. Aussagekräftiger als die oftmals vom Geschmack beeinflusste Punktevergabe sind die Kommentare zur Umsetzung der Monatsaufgabe, zu Idee und Schreibstil.

      ***

      Nikolaus

      Ich bin Nikolaus. Der Nikolaus.

      Es ist Advent, die Vorweihnachtszeit.

      Ich lebe in einer Wohngemeinschaft. Wir sind ein bunter Haufen, jeder sieht anders aus, jeder hat eine andere Geschichte, eine andere Meinung. Jeder hat sein Zimmer, seine eigene Tür nach draußen. Da ist der Tannenbaum, der von früh bis spät seine Spitze mit dem goldenen Stern wiegt, da sind Stars und ein paar Sternchen, die sich dafür halten. Da sind unter anderem das Schaukelpferd und der Junge, der nichts tut außer sich in seiner Wiege zu schaukeln, die mit goldfarbenen Fasern ausgelegt ist – Stroh nennt er es –, und vor sich hin zu summen. Auf ihn bin ich etwas neidisch. Ausgerechnet der Jüngste hat das größte Zimmer, die breiteste Tür. Verzaubert bin ich von der Blonden im weißen Kleid, sie ist wirklich hübsch mit ihren Flügeln, die sie hier nicht richtig ausbreiten kann. Altersmäßig passen wir trotz all meiner Sehnsucht nach ihr nicht zusammen: Ich könnte ihr Großvater sein.

      So sehe ich auch aus. Mein Haar ist lang und weiß, ich sollte mal wieder zum Friseur gehen, finde aber keinen, und mein Bart überwuchert mein Gesicht. Zugenommen habe ich, fühle mich mit meinem Übergewicht besonders in Gegenwart meines Rauschgoldengels unwohl. Aber wir haben wenig Bewegung, und die Weihnachtsvorbereitungen bauen nicht wirklich Kalorien ab. Meistens sitzen wir zusammen und philosophieren.

      Stammtischpolitik hat es neulich einer aus unserer Runde genannt.

      »Wir ändern ja sowieso nichts.«

      Das ist es, was mich stört. Früher war alles besser! Da ging ich auf die Straße, habe brave Kinder beschenkt, hin und wieder auch Erwachsene, und unartige bestraft. Heute schert sich kaum jemand um mich und um das, was ich tue oder auch nicht. Die richtigen Geschenke überbringe ich auch nicht mehr, höchstens ein paar Süßigkeiten, und wenn jemand verantwortungsvoll ist, auch etwas Obst nach Marktlage.

      Zwar habe ich noch meinen Tag wie beinahe vier Wochen vorher ein anderer Heiliger aus meiner Epoche. Martin. Sein Namenstag wird begangen mit Gänsebraten, abends ziehen Eltern mit ihren Sprösslingen durch die Straßen, erhellen sie mit Laternenumzügen. Sogar besungen wird Martin, zumindest in einigen Gegenden, etwa im Rheinland, dessen Dialekt ich nur bruchstückhaft verstehe. »D´r hillije Zinter Mätes, dat wor ne jode Mann. Dä jof der Kinder Kääzcher un stoch se selver an.« Ja, Martin ist ein guter Mann, aber dass er Kerzen verschenkt und Spaß am Zündeln hat, wusste ich vorher nicht. Die Kinder werden auch ihn verdrängen, wenn sie älter sind. Erst, wenn sie selbst Kinder haben, werden sie sich erinnern und ihren Kindern Bastelmaterial für Papierlaternen in den Kindergarten mitgeben.

      Und wer besingt mich? Ich meine das nicht wörtlich, aber heutzutage, halbwegs vergessen, gibt es gerade noch am Vorabend meines Namenstages kurzzeitig Vorbereitungen in manchen Haushalten, mein Namenstag ist ein normaler Tag. Gefeiert wird höchstens, wenn er auf ein Wochenende fällt, indem man ausschläft und sich darüber freut, dass man nicht zur Arbeit muss – Busfahrer und Krankenschwestern ausgenommen. Das ist so, seit mir der andere den Rang abgelaufen hat. Auch er heißt Claus, wenigstens mit »C«, er lässt sich Santa nennen. Zwar eine Werbeerfindung des amerikanischen Herstellers koffeinhaltiger Limonade, aber sehr rege. Er hetzt in seinem roten Kapuzenmantel durch Großstadtstraßen, und wenn er müde ist, setzt er sich auf das Sims eines Schaufensters. Oder, wenn man ihn lässt, geht er in das Kaufhaus hinein und lässt sich mitten in der Weihnachtsdekoration nieder, wippt Kinder auf seinen Knien und lässt sie an seinem Bart ziehen. Und die Kaufhäuser belohnen ihn, wenn die Eltern der Kinder, die auf seinen Knien sitzen, im Geschäft teure Geschenke kaufen. Im Gegensatz zu mir ist er nicht authentisch, er ist nur ein Abziehbild, die Gallionsfigur des Konsums!

      Aber meine Gedanken schweifen ab. Das Problem ist der Umgang der Menschen mit dem bevorstehenden Fest. Ich frage mich: Wann habe ich den Anschluss verpasst? Wir leben recht zurückgezogen, haben vielleicht von unseren alten Identitäten zu großen Abstand genommen. Uns gibt es ja nur einmal im Jahr.

      Wir sitzen mal wieder zusammen.

      »Es gibt eine Parallelwelt. Hauptsächlich Menschen leben dort. Zumindest prägen sie ihr ihren Stempel auf.« Der Tannenbaum sagt es, er ist der älteste in unserer Gemeinschaft, hat die meiste Lebenserfahrung.

      »Ich erinnere mich wieder. Menschen. Ganz früher hat sich abends die Familie versammelt«, sinniere ich, »um einen Weihnachtsbaum herum mit Wachskerzen und Lebkuchenanhängern. Oder, wer …«

      »Das war ich.« Die Stimme des Tannenbaums zittert leicht, er seufzt. Dann verbarrikadiert er sich in seiner Erinnerung.

      »Oder, wer noch keinen zu Hause hatte«, fahre ich fort – mit erhobener Stimme, um nicht nochmals unterbrochen zu werden – »um den Adventskranz. Gesungen hat man. Und vorgelesen. Später, als hätte man die Stimme verloren, kamen die Weihnachtslieder von Schallplatten, Tonbändern oder CDs. Heute? Nichts mehr. Außer Kommerz. Im allerschlimmsten Fall werden noch am Heiligen Abend ein paar Verlegenheitsgeschenke besorgt, man lässt sie im Geschäft verpacken und ist enttäuscht, wenn sie nicht gefallen.«

      Diesmal seufze ich.

      »Man müsste den Menschen mal die Leviten lesen«, beendet mein Rauschgoldengel die peinliche Pause. »Nikolaus, du könntest doch …« Sie verstummt, als ich die Augenbrauen zusammenkneife.

      Aber sie hat etwas in mir berührt. Eine vergessene Saite beginnt zu schwingen. Erst ganz zart, dann stärker, am Ende heftig. Ich hatte doch früher … und warum nicht heutzutage wieder? Ein kurzes Nicken in die Runde, dann verlasse ich die Gemeinschaft, ziehe mich in mein Zimmer zurück. Ich muss nachdenken.

      Es ist wieder soweit, wie jedes Jahr in der Adventszeit. Wie in Big Brother oder dem Dschungelcamp verschwindet jeden Tag einer von uns. Da ihre Zimmer nicht nebeneinander liegen, wird die Reihenfolge wohl durch die Nummer an ihrer Tür bestimmt. Sie werden in die Parallelwelt geholt, zu den Menschen. Was die mit ihnen machen? Ich weiß es nicht, keiner kann es mir sagen.

      Ich zähle eins und eins zusammen.

      »Ich gehe«, stelle ich in unserer abendlichen Runde fest. »Zwei Dinge treiben mich. Erstens weil, wie unser Engel hier gesagt hat, …« Ich strahle sie an, sie