Michael Kothe

Quer Beet aufs Treppchen


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holen.«

      Ein Raunen geht durch unsere Gemeinschaft. Der Stern auf der Tannenspitze verliert beinahe den Halt, so stark schüttelt sie sich, das Schaukelpferd nickt zustimmend, mein Engel drückt mir einen Kuss auf die Wange, und der Junge summt weiter, als habe er nicht zugehört.

      Gestern habe ich an einer Seite meiner Türe einen Schlitz entdeckt, aber ich bekam sie nicht aufgestemmt. Ich habe kein Werkzeug, nur meine Rute. Sie ist kein Zweig, eher ein Reisigbesen ohne Stiel. Einzelne Reiser kann ich herausziehen, mit ihnen stochere ich in dem Schlitz, er wird breiter und länger, das Türblatt wellt sich dort, wo ich gearbeitet habe. Dann entdecke ich weitere Schlitze, darüber und darunter, auf drei Seiten. Ich muss also nur die Stege durchtrennen. Das macht es mir leichter, in die Freiheit der Parallelwelt zu kommen, meine Mission auszuführen.

      Was ich zu tun habe, ist nebulös. Ich werde improvisieren müssen. Leicht wird es nicht werden, darüber sind wir uns hier alle einig. Traue ich es mir zu? Will ich überhaupt?

      Schon wieder wird uns heute einer entrissen, ein kleiner Stern. Wir sind schockiert, verkriechen uns in die hintersten Winkel unserer Kammern und verhalten uns ganz still. Wann sind wir dran? Als nichts mehr passiert, treffen wir uns, lamentieren aufgeregt. Mein Engel wiederholt seinen Vorschlag, diesmal mit deutlich mehr Vehemenz.

      »Wir werden zwar für uns nichts ändern, aber die Menschen werden mehr auf uns achten.«

      »Uns achten! Nicht auf uns!« verbessert der Weihnachtsbaum. Die alte Tanne hat irgendwoher Lametta aufgetrieben und sich in Schale geworfen. »Uns wieder achten!«

      »Ich weiß nicht recht.« Ich äußere meine Zweifel.

      »Du schaffst das schon!« Rundum ertönt Zuspruch.

      Aber …

      »Ich weiß nicht recht.«

      »Karl, hast du …? Kaaarl, hast du die Haken etwa in den Türrahmen geschraubt?« schallt es spätabends aus der Parallelwelt in mein Stübchen. Ich unterbreche meine Arbeit.

      »Nein, Schatz, zwischen Wand und Rahmen ist ein Spalt, da habe ich sie eingeklemmt. Morgen nehme ich sie wieder heraus. Siehst du, so! Oder willst du wieder Stiefel hinstellen?«

      »Kommt gar nicht in Frage! Wozu hätte ich denn dann ein halbes Dutzend rote Strümpfe gestrickt?«

      »Naja, mal eben vier!«

      Ich höre ein Kichern, ein gehauchtes »Lass das!«, dann ein zärtliches Schmatzen. Es erinnert mich an den Kuss meines Engels.

      Ich setze mich erst einmal hin, muss meine Gedanken sammeln, mir über meine Absicht klarwerden. Will ich überhaupt hinaus? Was ist mir beschieden? Bleibt die Adventszeit geprägt von Hektik, Ärger über Schmuddelwetter und Vorweihnachtsstress? Oder bin ich in der Lage, den Menschen ihre Beschaulichkeit, ihre innere Ruhe und Ausgeglichenheit, ja Freude, zurückzubringen? Ich bin der Nikolaus, der Nikolaus, aber schaffe ich es? Und wenn ich bei meiner Familie, bei Karl und Schatz und den Strümpfen anfange?

      Ich bohre unentschlossen weiter.

      Irgendwann habe ich es erreicht. Alle Stege sind durchtrennt, die verbliebene Seite der Tür ist durchgehend von oben bis unten geschlossen, aber das Türblatt lässt sich aufbiegen. Ich lausche, zuerst in mich hinein, dann nach draußen.

      Es ist still im Raum. Ich treffe die längst fällige Entscheidung und öffne die Tür.

      ***

      Diese besinnliche Geschichte entstand in der Vorweihnachtszeit 2019 als Antwort auf die Ausschreibung des Schreiblustverlags »Ich traf die längst fällige Entscheidung und öffnete die Tür«.

      Wie bei allen Schreibwettbewerben dieses Verlags war die Länge des Textes auf 10.000 Zeichen einschließlich Leerzeichen begrenzt.

      ***

      Boah ey! oder Münchhausens Schreckensfahrt

      »Scharfe Sache! Was hast du dafür gelöhnt?«

      »Ach, das willst du gar nicht wissen!«

      »Komm, nun sag schon!«

      »Gut zweimal dein Jahresgehalt.«

      »Seit ich in die Teppichetage eingezogen bin oder vorher?«

      »Seit. Und mit Prämie.«

      »Boah ey!« Dieser Spruch, den Hans-Peter aus der Ära der Manta-Filme und Manta-Witze ins Erwachsenenalter herübergerettet hat, drückt alles aus. Anerkennung, ein bisschen Neid, aber noch mehr Freude für Heinz und eine Portion Stolz darauf, mit dem Besitzer dieses Boliden befreundet zu sein. Ein »Wir wär´s mit ´ner Probefahrt?« reißt ihn aus seinem kurzen Tagtraum.

      »Klar, aber wie komm´ ich da rein und nachher wieder raus?»

      »Der Schuhlöffel liegt im Fußraum. Und raus? Da gab es mal einen, der hat sich an den Haaren aus dem Sumpf gezogen, da wirst du das wohl aus ´nem Auto schaffen!«

      Amüsiert über ihre eigenen platten Bemerkungen grinsen beide sich gegenseitig an.

      »Wollen wir?«

      »Klar, ich leg´ nur schnell noch mein Jackett in den Jaguar.«

      Mit sonorem Schnurren rollt der italienische Sportwagen die breite Einfahrt vor dem Luxusbungalow hinunter und rauscht keine 10 Minuten später durch die scharfe Kurve des Zubringers auf die Autobahn. Heinz wirkt locker, Hans-Peter aber weiß, wie konzentriert er in Wirklichkeit ist. Zwar lässt der Verkehr hier noch kein Freilassen der unbändigen Pferdchen zu, aber die linke Spur muss einfach sein. Einige Kilometer später – eine Strecke, die die Geduld der beiden reichlich strapaziert – sind sie fast allein auf der Piste. Eine dritte Spur öffnet sich, die Geschwindigkeitsbeschränkung endet, der Motor hat seine Betriebstemperatur erreicht.

      »Nu´ lass laufen! Freie Fahrt für freie Bürger!«

      »Hast Recht! Solange die Regierung einen noch lässt.«

      »Eben. Es kann nur schlimmer kommen.«

      Das »Ach so« von Heinz klingt lässig, wird aber Lügen gestraft durch das ironische Lachen, das er nicht unterdrücken kann.

      Hans-Peter ist neugierig, was das neue Spielzeug seines Freundes hergibt. Angst hat er nicht. Er ist hohe Geschwindigkeiten gewohnt, als Beifahrer genießt er das exponentielle Ansteigen der Adrenalinkurve. Nervenkitzel wie in der Achterbahn! In seinem Sitz versteift registriert er mit einem Seitenblick auf die traditionellen Rundinstrumente die zunehmende Geschwindigkeit.

      »Gleich biegt sich die Tachonadel um den kleinen Stift da unten. Da, wo hinter der 320 die Zahlen aufhören.«

      Heinz grinst, dreht das Gesicht seinem Freund zu.

      »Noch nicht ganz, das kommt aber noch. Wozu habe ich denn ´nen Biturbo, Resonanzauspuff, zwei polierte Nockenwellen und ausgefräste Stirnräder? Übrigens alles eingetragen. Sch…« Ruckartig korrigiert er den Lenkradausschlag, um den Augenblick seiner Unaufmerksamkeit auszugleichen.

      »Hape, kannst du bitte mal das Autoradio ausschalten? Es nervt. Die Lautstärke wird geschwindigkeitsabhängig hochgeregelt. Muss ich noch einstellen.«

      Mit einem breiten Grinsen beugt sich Hans-Peter in seinem Sitz nach vorn und drückt die »Off«-Taste.

      »So ein Armleuchter! Der sieht doch auch, dass der Laster da vorn überholt. Und hier fahr´ ich nicht mehr rechts ´rüber.«

      Hans-Peter hört zu, dreht sich in dem Sportsitz so weit nach hinten, wie es geht, schaut durch das schmale Heckfenster.

      »Porsche 997«, kommentiert er. Das Modell erkennt er an den ovalen, schräg liegenden Scheinwerfern, denen die markanten »Tränensäcke« seines Vorgängers fehlen. »Du, der Spoiler! Das muss ´was Besonderes sein. Der normale is´ das nich´.«

      »Na und? Deswegen muss er mir nicht