Klara Chilla

Die Tränen der Waidami


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in seiner Erinnerung. Es hatte beständig gebrannt, wie ein unsichtbar schwelendes Feuer. Er hatte sich schnell daran gewöhnt und es später gar nicht mehr wahrgenommen. Dies hier war anders. Statt der Hitze legte eine ungewohnte Kälte eine Spur über seine linke Brust. Aber vielleicht war dies so bei einer neuerlichen Tätowierung. Auch daran würde er sich gewöhnen. Jess atmete erneut ein und umschloss mit einer zärtlichen Geste das glatte Holz der Reling. Die Monsoon Treasure stürzte sich wie mit der überschwänglichen Umarmung einer Frau auf ihn und riss ihn mit sich. Überrascht von der Intensität dieser Begegnung schnappte Jess nach Luft, griff fester zu und hielt sich fest. Bilder und Empfindungen aus der Zeit mit McDermott schlugen wie Wellen über ihm zusammen, die ihm die Monsoon Treasure gestern unter der ersten Berührung vorenthalten hatte. Die Treasure hatte unter der Verbindung mit McDermott gelitten, fühlte sich als Verräterin und bat um Vergebung. Jess ließ sich fallen, folgte jeder einzelnen Geschichte, folgte jedem Schmerz und der Trauer seines Schiffes, als sie ihn verloren hatte. Nach einer Weile wurde sie ruhiger und nahm ihn mit sich in die Tiefe. Gemeinsam trieben sie dahin, sanken bis auf den Grund der See und fanden ihren Frieden.

      Irgendwann lockerte Jess den Griff und ließ dann ganz los. Er war zurück. Die Monsoon Treasure gehörte wieder ihm, und die Waidami waren zumindest für dieses eine Mal geschlagen. Er war frei. Die Wände um ihn herum, die ihn seit der Trennung von den Strömungen seiner Umgebung ausgeschlossen hatten, waren gefallen.

      Dennoch schmeckte der Gedanke an seine Freiheit bitter. Es hatte viel gekostet, um bis hierhin zu gelangen. Menschen waren gestorben, um ihm zu helfen oder weil sie ihm hätten helfen können. Der nächste Atemzug war tief und voll Trauer bei dem Gedanken an Hong. Der Chinese war mehr als sein Koch und Arzt hier an Bord gewesen, mehr als ein Freund. Es war das erste Mal, dass Jess den Gedanken an ihn zuließ und den Schmerz ertrug. Hong hatte verhindert, dass aus Jess Morgan ein seelenloses Monster wurde. Er war es gewesen, der ihm von seinem ersten Tag an Bord immer wieder gezeigt hatte, wie wichtig es war, seine Menschlichkeit zu bewahren, gleich, was das Schicksal für einen Mann bereithielt. Ihm war es gelungen, den maßlosen Zorn, den Jess als junger Kapitän der Waidami empfunden hatte, zu zähmen. Eine Welle hilfloser Wut überrollte ihn. Jess ballte die Hände zu Fäusten, bis seine Knöchel weiß hervortraten. Torek würde dafür bezahlen. Das war ein Versprechen an Torek und sich selbst. Und damit der unausgesprochene Beweis, dass seine Freiheit nur fadenscheinig war und nur von vorübergehender Natur sein konnte. Der Feind hatte eine Niederlage erlitten, nicht mehr. Bairani und Torek lebten noch und schmiedeten höchstwahrscheinlich längst neue Pläne. Nachdenklich glitt sein Blick über die Backbordseite der Treasure bis zum Bug. Der Anblick war vertraut, genau wie die Männer, die ihre Arbeit verrichteten, als wäre es nie anders gewesen. Als hätten sie nicht monatelang um ihren Captain fürchten müssen. McPherson, sein Schiffszimmermann, kam mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck auf ihn zu. Sein Schritt wirkte trotz des Holzbeines beschwingt. In seinem Schlepptau befand sich Kadmi, der sich jedoch unter den Niedergang verzog. Jess öffnete sich für die Strömungen seiner Crew. Die Männer wirkten angekommen, zufrieden. Jeder Einzelne von ihnen war erfüllt von dem Gefühl, wieder komplett zu sein. Der Pirat empfand tiefe Zuneigung für diese Männer, die ihm so unerschütterlich die Treue gehalten hatten.

      Sie hatten sich dafür mehr als nur eine Zeit der Ruhe verdient. Ihr Kurs würde sie zunächst nach Cartagena führen. Cale und Jintel sollten ein bis zwei Tage nach ihnen dort ankommen. Sobald die Mannschaft komplett war, würden sie nach Hause segeln. Bocca del Torres wartete. Zumindest für eine Weile sollten sie sich dorthin zurückziehen.

      »Captain!« McPherson blieb mit dem breiten Grinsen eines beschenkten Kindes vor ihm stehen. Das Wort betonte er, als sei es eine kostbare Gabe. »Du hast nicht die geringste Ahnung, wie sehr ich mich freue, dich hier auf diesen Planken wieder vor mir zu sehen.«

      Jess lächelte unwillkürlich. Der untersetzte, aber kräftige McPherson war der älteste Mann an Bord. Sein Gesicht war gezeichnet von Wind und Wetter. Falten und Narben erzählten von den langen und harten Jahren auf See. Wenn er auch wegen seines Holzbeines nicht mehr zum Kampf taugte, war er doch der beste Schiffszimmermann, den man sich nur denken konnte. Unzählige Male hatte er die Treasure auch unter widrigsten Umständen zusammengeflickt und damit auch das Wohlergehen von Jess selbst gewährleistet.

      »Ich freue mich auch, McPherson.« Dankbar klopfte er dem Älteren auf die Schultern. »Schön, dass ich dich wieder hier als Zimmermann habe. Ich kenne niemanden, dem ich sonst diese Arbeit anvertrauen wollte.«

      Das Grinsen seines Gegenübers wurde noch breiter, soweit dies noch möglich war. Mit stolzgeschwellter Brust richtete er sich auf. »Deshalb habe ich unsere Lady auch bereits bis in die letzten Spanten untersucht. Außer einigen kleinen Schäden hat sie nichts abbekommen, aber das wusstest du natürlich bereits.«

      »Und ich weiß auch, dass du diese Schäden noch im Licht der Laternen in der Nacht repariert hast.« Noch bevor Jess Schlaf gefunden hatte, hatten sich die leichten Verletzungen, die er davongetragen hatte, geschlossen und waren verheilt.

      »Ich hoffe, es hat euch - ähem - dich nicht allzu sehr gestört.« Das wettergegerbte Gesicht verzog sich mit einer leisen Spur Schamhaftigkeit. Jess konnte sich das Schmunzeln nicht verkneifen. Kaum zu glauben, wie empfindlich diese Kerle doch immer wieder sein konnten. Angesichts ihrer Taten der vergangenen Jahre, wirkte es beinahe lächerlich, bewies aber auch ihre Menschlichkeit.

      »Du hast nur deine Pflicht getan«, entgegnete er daher nur. So wie jeder Mann seiner Crew. »Und darüber hinaus. Ich bin euch allen zu tiefstem Dank verpflichtet. Ohne euer Zutun stände ich jetzt nicht hier.«

      McPherson räusperte sich verlegen und schüttelte dann entschieden den Kopf.

      »Wenn ich dich daran erinnern darf, dass ich bereits einige Jahre in einer Grube auf irgendeiner Insel verfaulen würde, wenn du mir nicht das Leben gerettet hättest.«

      »Das ist lange her.«

      »Und nicht vergessen. - Du schuldest uns nichts.«

      Jess verschlugen die entschlossenen Worte die Sprache. Er wusste nicht, was er noch darauf erwidern sollte. Spürte er doch die ehrliche Dankbarkeit und Hingabe von McPherson so deutlich, als könnte er sie als Gewichte in eine Waagschale legen. Gerührt legte er ihm die Hand auf die Schulter. »Ich schulde dir wenigstens eine Mütze voll Schlaf, alter Freund. Während die meisten von uns die Zeit hatten, sich in der Nacht auszuruhen, hast du gearbeitet. Schlaf dich aus, solange du willst. - Wer hat dir bei den Arbeiten geholfen?«

      »Kadmi, Sam und Bill, Captain.«

      Gut! Sie sollen sich ebenfalls in ihre Hängematten verholen. Ich will keinen von ihnen an Deck sehen, bis sie sich ausgeschlafen haben.«

      »Aye, Sir!« McPherson wandte sich zum Gehen, hielt dann aber doch inne.

      »Ich habe da noch eine Bitte, Captain.«

      »Was kann ich für dich tun?«

      »Kadmi, Sir. Er ist wirklich sehr gelehrig, was das Zimmererhandwerk angeht. Der Junge hat da mehr in seinem Schädel als die anderen Kerle und zwei wirklich geschickte Hände. Vielleicht wäre es gut, wenn ich ihm alles beibringe, was man als Schiffszimmermann wissen muss.«

      Jess lächelte unwillkürlich, als er an den Jüngsten der Crew dachte. Deshalb hatte der Junge sich gerade verdrückt und versprühte eine angespannte Strömung wie ein Skunk seinen Urin.

      »Du meinst also, er hat das Zeug dazu?«

      »Ich wüsste keinen Besseren, Captain.«

      »Gut, dann gib Jintel bei seiner Rückkehr Bescheid, dass er Kadmi von seinen Pflichten freistellt. Und frag N’toka, ob er unter den Männern eine andere Hilfe findet. Sonst muss der Junge ihm weiterhin bei den Mahlzeiten behilflich sein.«

      »Danke, Captain!«

      »Und jetzt ab in die Koje, Mann.«

      »Aye, aye, Sir!«

      Jess sah McPherson hinterher, wie er unter dem Niedergang verschwand und kurz darauf die überschlagende Freude Kadmis darunter hervorspritzte. Er lächelte bitter. Für seine Männer schien der Kampf gegen die Waidami genau hier zu Ende zu sein.

      Ihr Captain wusste es besser.

      *