Klara Chilla

Die Tränen der Waidami


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und nickte: »Dann macht es also Sinn, dass mein Admiral dem einzigen Piratenschiff in dieser Bucht seine gesamte Aufmerksamkeit zuteilwerden lässt.«

      »Ich plane keinen Verrat, wenn Ihr das vermuten solltet.«

      Tirado warf ihm einen Blick von der Seite zu. »Nein, das glaube ich Euch sogar. Auch wenn ich selbst zutiefst überrascht darüber bin.« Ein flüchtiges Lächeln glitt über sein Gesicht, bevor ein Schatten darauf zurückblieb. »Aber möglicherweise tragt Ihr, ohne es zu wissen, etwas mit Euch, was den Waidami einen Vorteil verschafft. - Wir sollten unseren gemeinsamen Feind nicht unterschätzen.«

      Jess nickte langsam. Tirado hatte Recht und sprach nur aus, worüber er selbst sich bereits seit dem Ende der Schlacht seine Gedanken machte. »Ich werde meine Männer anweisen, das Schiff noch einmal zu durchsuchen.« Doch er hatte nicht die geringste Ahnung, wonach die Männer suchen sollten. »Ich fürchte jedoch, dass es zu einfach wäre, wenn die Waidami etwas oder jemanden an Bord versteckt hätten. Versprecht Euch nicht zu viel davon.«

      »Ich denke, das wäre auch zu einfach. Lasst uns die Zeit nutzen, während Ihr hier auf die Ankunft Eurer Männer wartet. Wir können den Hergang der Schlacht in Ruhe durchgehen und nach möglichen Fallen suchen. Also erweist mir den Gefallen und nehmt eine offizielle Einladung von mir an. Es ermöglicht Euch das Betreten meines Palastes durch die Tür wie gewöhnliche Menschen und macht es nicht nötig, unbescholtene Damen in Aufruhr zu versetzen«, sagte er und spielte damit auf Jess’ letzten Besuch während eines Maskenballes an. Ein Grinsen breitete sich jetzt auf seinem Gesicht aus. Es war das erste Mal seit Betreten des Schiffes, dass Jess den Eindruck hatte, dem Tirado gegenüberzustehen, den er bei seinen bisherigen Begegnungen kennengelernt hatte.

      »Nebenbei bemerkt, Señor Capitan, würdet Ihr mir eine Freude bereiten, wenn Ihr Eure bezaubernde Navigatorin als Begleitung mitbrächtet. Ich hoffe, sie ist unbeschadet aus der Schlacht mit Euch zurückgekehrt?« Tirado hatte sich jetzt ihm wieder ganz zugewandt und drehte dem Fenster und den drohenden Schiffen den Rücken zu. Das Interesse an Lanea wehte wie eine frische Brise durch den Raum und überraschte Jess, wie der leichte Schmerz, der sich im selben Moment wieder über die Tätowierung auf seiner Brust ergoss.

      »Es geht ihr gut, danke«, entgegnete er und fuhr sich mit der Hand über die schmerzende Stelle. Kälte drang durch den Stoff des Hemdes in seine Handfläche. »Ohne Eure Hilfe hätte sie es wohl kaum rechtzeitig geschafft, zur Schlacht dazuzustoßen. Eine neue Verbindung wäre ohne den Dolch nicht möglich gewesen. Ich bin Euch mehr als nur zu Dank verpflichtet.«

      Tirado winkte ab und ging langsam auf die Tür zu. »Seid mein Gast, Señor Capitan. Damit erweist Ihr mir Dank genug. Ich werde eine Kutsche schicken, die Euch und Eure Begleiterin abholen wird.«

      »Es wird uns ein Vergnügen sein.«

      Der Spanier nickte ihm kurz zu und verließ den Raum. Jess blieb nachdenklich zurück.

      Entscheidungen

      Tirado öffnete die beiden Fenster und machte einen Schritt hinaus auf den schmalen Balkon. Der Garten lag still und friedlich vor ihm. Das leise Plätschern des Brunnens mischte sich mit dem Spiel der Zikaden zu einer einschläfernden Hintergrundmelodie. Genau das, was er jetzt brauchte. Die Gespräche mit den Kommandanten der Silberflotte, die aus ihrer Sicht das Geschehen in der Schlacht geschildert hatten, waren ermüdend gewesen und hatten ihn letztendlich nur zu der gleichen Erkenntnis geführt, die auch Morgan bereits festgestellt hatte. Trotz aller Verluste war die Übernahme der Monsoon Treasure beinahe zu einfach gewesen. Der Kapitän war, laut Bericht von Admiral Gonzalez, geradezu mühelos überwältigt worden. Gonzalez hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass er Morgan verdächtigte, ein falsches Spiel zu spielen, um die Waidami direkt in den Hafen von Cartagena zu bringen. Unnachgiebig hatte er dazu geraten, den Piraten augenblicklich in Ketten zu legen und ihn nicht als Gast im Palast weilen zu lassen. Dazu war die überraschende Botschaft gekommen, dass die Waidami eine kleine Küstenstadt und ein Kloster überfallen hatten und niemand diese Massaker überlebt hatte. Tief atmete Tirado die kühle Abendluft ein. Nein, nicht Morgan war das Problem. Er seufzte und kniff die Augen zusammen.

      Aus den Schatten der Gartenanlage traten zwei Gestalten, die eng beieinander gingen.

      Am Brunnen blieben sie stehen, sodass das matte Licht sie beleuchtete. Das azurblaue Kleid, das Lanea trug, schimmerte tiefgründig wie das Meer in der Abenddämmerung. Der Manteau, der in Wellen dabei von ihren schmalen Schultern fiel, verstärkte den Eindruck. Schweigend stand das Paar sich gegenüber, vertieft in der Betrachtung des anderen, als müssten sie sich jede Einzelheit einprägen. Dann begann Lanea zu sprechen. Tirado konnte sie nicht verstehen, aber an den Gesten ihrer Hände und ihren unruhigen Schritten bemerkte er, dass ihre eigenen Worte sie stark aufwühlten. Schließlich blieb sie wieder vor dem Piraten stehen. Die junge Frau schüttelte heftig den Kopf. Eine Hand legte sie über ihren Mund, als wollte sie zu lautes Weinen unterdrücken, während sie mit der anderen ihre Mitte umschlang. Tirado spürte ihren Schmerz nahezu körperlich. Er konnte nur vermuten, dass sie gerade von dem Tode ihres Vaters berichtete.

      Da stand diese junge Frau, vor der er ehrlichen Respekt empfand. So entschlossen, wie sie damals hier aufgetaucht war, um ihn um Hilfe zu bitten, hatte sie kaum etwas von den tiefen Wunden in ihrem Inneren gezeigt. Jetzt verlor sie jegliche Selbstbeherrschung. Ihr Gesicht war nach unten gesenkt, während ihre Schultern von Weinkrämpfen geschüttelt wurden. Jess Morgan stand ruhig da und hörte zu, ließ ihr Raum für ihren Schmerz. Erst als sie geendet hatte, nahm er sanft ihr Gesicht in seine Hände, hob es zu sich heran und sprach. Seine Worte schienen wie ein unsichtbarer Halt zu sein. Ihre Gestalt richtete sich daran auf, ihr Blick saugte seinen Anblick in sich auf. Der Pirat senkte seinen Mund auf ihre Lippen und küsste sie zärtlich. Laneas Arme schlossen sich dabei um seine schlanke Gestalt, und sie drängte sich an ihn, als ob nur in seiner unmittelbaren Nähe Trost zu finden war.

      Tirado räusperte sich verlegen und ging rückwärts zurück in das Gebäude, bis er die beiden aus dem Blick verlor. Dieser Augenblick war nicht für ihn bestimmt. Dennoch war er froh, dass er Zeuge davon geworden war; bestätigte es ihn doch in seiner Meinung, dass man einen Mann nicht stur nach Gut und Böse einordnen konnte. Sicher hatte Morgan Verbrechen begangen, die ohne jede Rücksicht auf Geschlecht und Alter vorgegangen waren. Die Schiffe, die er gekapert hatte, waren allesamt mit der an Bord befindlichen Besatzung versenkt worden. Dennoch hob er sich von den anderen Piraten ab, hatte sich von seinem Gewissen leiten lassen und die Seiten gewechselt. Und daran hegte er keinen Zweifel, gleich, was Admiral Gonzalez glaubte. Morgan hatte bewiesen, dass es viele Facetten gab. Selbst zu tiefen Gefühlen war er fähig. Aus jedem Blick und jeder Geste in Richtung Laneas sprach eine Liebe, die er selbst bisher nicht kennengelernt hatte. Was Morgan und diese Frau füreinander empfanden, war unübersehbar ein kostbarer Schatz. Tirado seufzte leise. Seine Gedanken wanderten von alleine zu der Pergamentrolle, die ihm der Seher für Morgan ausgehändigt hatte und nun wie ein zu fettes Abendmahl schwer in seinem Magen lag. Es war an der Zeit, die Rolle zu übergeben. Ein Gedanke schlich wie ein dunkler Schatten durch die Nacht und setzte sich in ihm fest. Was, wenn dieses Schreiben nichts Gutes zu verkünden hatte?

      Leise schloss Tirado die Fenster und damit den Garten und die beiden Menschen dort aus seiner Gegenwart aus. Er fürchtete, dass ihr Glück nur von kurzer Dauer sein könnte.

      *

      Im Verlaufe des Abends wurde Tirado immer ungeduldiger. Es war nun schon Stunden her, dass er Lanea und Jess im Garten beobachtet hatte. Das Mahl mit seinen Gästen zog sich dahin. Admiral Gonzalez und seine Gattin, vor allem diese, plauderten angeregt mit Morgan. Während seine Begleiterin Lanea sich nur zaghaft beteiligte, was dem Umstand geschuldet war, dass sie sich auf ungewohntem Terrain befand, kam von Kardinal Joaquin García Álvarez tadelnde Blicke und Worte der Geringschätzung. Nur mühsam konnte Tirado sich an die gebotene Höflichkeit halten und sich an der Konversation beteiligen, wie es von einem Gastgeber erwartet wurde. Seine Verpflichtungen, die er als Gouverneur hatte, waren an diesem Abend mehr als unerquicklich. In seinem Hinterkopf drohte die zu überreichende Pergamentrolle allgegenwärtig und verdarb ihm den Appetit, ohne dass er ihren Inhalt kannte.

      »Für einen Piraten seid Ihr ungewöhnlich gebildet«, sagte gerade die Frau des