Klara Chilla

Die Tränen der Waidami


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das unterhalb des Vulkankraters aus den Höhlen führte. Von hier hatte er einen hervorragenden Überblick über die Insel und das Meer. Weit unter ihm lagen das Dorf und die Bucht, in der sich einige neue große Segler aufhielten. Doch seine Aufmerksamkeit galt den kleinen Flecken am Horizont, die sich langsam der Insel näherten. Auch ohne eines dieser Fernrohre wusste Bairani, wer dort kam. Es war der Rest der entsandten Schiffe, die unter der Führung von Captain McDermott aufgebrochen waren, um die spanische Silberflotte zu stellen.

      Für einen kurzen Moment überlegte er, nach Torek rufen zu lassen, damit dieser ihm Genaueres von der Schlacht berichten konnte. Doch er verwarf den Gedanken wieder. Toreks Wissen um die Dinge war mehr als hilfreich, zumal bei ihm selbst die Visionen mit zunehmendem Alter immer schwächer wurden, aber er durfte den Jungen auch nicht unterschätzen. Seine Verschlagenheit und der Genuss der Macht, die er in der letzten Zeit gewonnen hatte, machten ihn zu einem Partner, den man nicht aus den Augen lassen durfte.

      Die Flecken am Horizont wurden schnell größer und nahmen Gestalt an. Bairani konnte nun die Schiffe erkennen. Angespannt leckte er sich über die Lippen und kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Die Schiffe waren beschädigt. Eins hatte schwere Schlagseite und schien sich nur noch mühsam über Wasser zu halten. Plötzlich schob sich ein anderes Bild in seinen Kopf. Bairani richtete sich auf und erstarrte. Ein Meer aus weißen Segeln fegte wie eine gewaltige Sturmfront daher. Hinter ihm erwachte der Vulkan und ein kollerndes Geräusch drang aus seinem Schlund wie das drohende Knurren eines angriffslustigen Tieres. Der Oberste Seher taumelte und fiel so plötzlich aus der Vision, wie sie gekommen war.

      Hastig warf er einen Blick auf den hinter ihm aufragenden Bergkegel. Alles war völlig ruhig. Keine Rauchsäule hob sich in den azurblauen Himmel, kein Grollen drang heraus. In der Geschichte Waidamis war dieser Berg nur zur Entstehung der Insel ausgebrochen. Seitdem schlief der Riese in aller Friedlichkeit.

      Bairani lenkte wieder seinen Blick auf die Segelschiffe. In Ruhe betrachtete er jedes Einzelne davon. Er kannte jedes dieser Schiffe. Er kannte jeden der Kapitäne, denen er in der Verbindungszeremonie mit dem Dolch der Thethepel das Bild ihres Schiffes auf die linke Brusthälfte tätowiert hatte. Jeder dieser Männer war auf besondere Weise an sein Schiff und an Waidami gebunden.

      Bei einem war es anders.

      Sein Schiff segelte nicht mit den Heimkehrern.

      Die Hand des Obersten Sehers glitt an das Amulett um seinen Hals, das warm unter seinen Fingern pulsierte. Ein zufriedenes Lächeln fraß sich auf seine dünnen Lippen.

      Die Monsoon Treasure war wie geplant nicht mehr unter ihnen.

      *

      Als Lanea das Deck betrat, stand die Sonne bereits hoch am Himmel, wie sie beschämt feststellte. Sie hatte lange noch wach in der Koje gelegen und die Ereignisse des vergangenen Tages in ihren Gedanken wieder und wieder durchgespielt. Es war so unendlich viel geschehen. Die Schlacht, der Kampf um die Monsoon Treasure und nicht zuletzt die Wiederbegegnung mit Jess.

      Mit dem Jess, wie sie ihn von ihrer ersten Begegnung in Erinnerung hatte. Stark und entschlossen, nicht der Schatten, den Bairani mit der Trennung von seinem Schiff aus ihm gemacht hatte. Laneas Herz klopfte heftig, als sie daran dachte, wie Jess sich selbst den Dolch der Thethepel in die Brust gerammt hatte.

      Lanea wendete den Kopf und entdeckte ihn augenblicklich. Er stand auf dem Achterdeck am Steuer und sah natürlich zu ihr hinüber. Es hätte sie auch gewundert, wenn er nicht bemerkt hätte, dass sie kam. Wieder beschleunigte sich ihr Herzschlag bei seinem Anblick. Seine weizenblonden Haare hatte er wie immer im Nacken zu einem Zopf zusammengebunden. Der Blick aus seinen eisblauen Augen fuhr direkt in ihren Magen und löste dort ein angenehmes Prickeln aus. Sein Blick glitt fragend zu ihrem linken Bein, das sie immer noch versuchte, beim Gehen zu schonen. Jess hatte zwar in der Nacht den Verband bemerkt, aber sie hatten sich nicht mit vielen Worten aufgehalten. Lanea huschte bei der Erinnerung eine leichte Wärme in die Wangen, die in Flammen aufgingen, als sein Lächeln in ein anzügliches Grinsen überging.

      Wie sie es hasste, dass dem Mann, den sie liebte, schlicht nichts verborgen blieb. Jede noch so kleinste Gemütsregung las er von ihr ab, wie aus einem aufgeschlagenen Buch.

      Lanea trat an die Reling und sog tief die frische Seeluft ein, um ihre Gedanken und ihr Gemüt wieder abzukühlen. Prüfend betrachtete sie den Stand der Sonne und das Spiel der schaumgekrönten Wellen, die gleichmäßig über das tiefblaue Meer rollten und die Treasure wie eine Eskorte zu ihrem Ziel hin geleiteten. Ein letzter Blick in die Segel bestätigte ihr, dass ihr Kurs sie wie verabredet nach Cartagena führte.

      Für einen Moment schloss sie die Augen und genoss die sanften Bewegungen des Schiffes. Es tat so gut wieder hier zu stehen und sich den Wind um die Nase wehen zu lassen. Zu Beginn ihres Abenteuers hätte sie sich niemals träumen lassen, dass sie je so empfinden könnte. Schmunzelnd dachte sie daran zurück, wie entsetzt sie gewesen war, als ihr Vater sie auf die Treasure geschickt hatte. Damals hatte sie sich nicht vorstellen können, unter skrupellosen Piraten zu leben. Jetzt war dieses Schiff ihr Zuhause. Die Piraten nicht so skrupellos, wie sie gedacht hatte, und inzwischen mehr als bloß Freunde. Für nichts auf der Welt hätte sie woanders sein wollen. Das bewies aber auch, dass die Seher sehr wohl wussten, für welche Aufgaben ein Kind geboren wurde. Trotzdem waren sie eine Plage, die dem Volk keine eigenen Entscheidungen überließen, sondern diese mithilfe ihrer Visionen in die gewünschte Richtung lenkten. Der Gedanke an die Seher riss sie aus ihrer friedlichen Stimmung. Lanea öffnete die Augen, um den Niedergang hinauf zu Jess zu gehen, der seinen Blick fest auf den Horizont gerichtet hielt. Seine schöngeschwungenen Lippen umspielte dabei ein leichtes Lächeln.

      »Bereit wieder deinen Dienst als Navigatorin der Monsoon Treasure anzutreten?«, fragte er und schenkte ihr einen Blick, der sich direkt in ihren Bauch setzte.

      »Aye, Sir!«, entgegnete sie. »Wie ich sehe, haben wir bereits Kurs auf Cartagena gesetzt.«

      »Seit dem Morgengrauen«, nickte Jess.

      »Konnten noch viele Überlebende geborgen werden?«

      Seine Miene wurde ernst. Dann schüttelte er den Kopf.

      »Die wenigen, die gerettet werden konnten, werden an Bord der spanischen Schiffe versorgt. Admiral Gonzalez traute uns dergleichen nicht zu.«

      »Was hast du erwartet?«, fragte sie und warf einen Blick nach achtern. In einiger Entfernung hinter der Monsoon Treasure folgten die Schiffe der Spanier. »Dass sie dir vertrauen, nur weil du eine einzelne Schlacht mit ihnen geschlagen hast? Sie sind alles gottesfürchtige und rechtschaffene Männer des stolzen Spanien, und du?« Lanea deutete auf die frische Tätowierung der Treasure, die durch das halboffene Hemd deutlich zu sehen war. Unwillkürlich sah sie nach oben in die Segel und dann wieder auf die Brust von Jess. Nur zu gerne hätte sie das Hemd weiter geöffnet, um das Bild besser betrachten zu können. Aber, wenn sie sich nicht irrte, hatten die Segel der Tätowierung exakt den gleichen Stand wie die des Originals. Fasziniert fuhr sie fort:

      »Du bist ein Pirat, der irgendeinen gottlosen Bund mit seinem Schiff eingegangen ist.«

      »Daran wird sich wohl bis zu meinem Ende auch nichts mehr ändern. Jedenfalls nicht, wenn ich es verhindern kann.«

      »Ich hoffe«, sagte sie und verspürte den Wunsch, ihn zu berühren.

      Noch während die Sehnsucht in ihr wuchs, löste Jess eine Hand von dem Steuerrad, legte ihr den Arm um die Hüften und zog sie dicht an sich heran.

      »Manchmal kann es auch Vorteile haben, wenn ich deine Strömungen lese«, lächelte er und schenkte ihr einen intensiven Blick.

      Keiner der Männer an Deck achtete auf sie. Glücklich schmiegte Lanea sich an ihn.

      Für eine Weile standen sie schweigend beieinander und genossen die Nähe des anderen. Doch Lanea lag eine Frage auf der Seele, die sie seit dem Ende der Schlacht nicht mehr losließ.

      »Was hast du gestern damit gemeint, als du sagtest, dass es nur der Anfang sei?«, brach es nach einiger Zeit aus ihr heraus. Sie hob den Kopf, um seine Reaktion sehen zu können.

      Jess löste sich aus der Umarmung und warf ihr einen abschätzenden Blick zu. Mit beiden Händen hielt er wieder das Steuerrad und drehte