Klara Chilla

Die Tränen der Waidami


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war ruhig, einzelne Öllampen verbreiteten ein angenehmes Licht, das gerade so viel aus der Dunkelheit riss, dass er seinen Weg erkennen konnte. Als er die große Halle erreichte, verharrte er kurz. Sein Herz jagte immer noch schuldbewusst, und er holte tief Luft. Auch die Halle lag noch im Schlaf und verbarg ihre wahre Pracht wie eine schüchterne Dame hinter einem Fächer aus Schatten. Jess sah sich um. Die Stühle, die an den Seiten aufgereiht waren, konnte er jetzt nur erahnen. Der Teppich, der bisher seine Flucht gedeckt hatte, endete hier, und zu seinen Füßen lag kalter Marmorboden. Wieder machte Jess einen tiefen Atemzug und ging entschlossen auf die große, doppelflügelige Eingangstür zu. Das Klacken seiner Stiefelabsätze hämmerte dabei nachhaltig gegen sein Gewissen. Als er zwischen zwei hohen Säulen hindurch schritt, die zusammen mit anderen in der Halle verteilten Säulen die prunkvoll verzierte Decke trugen, erklang plötzlich eine gelassene Stimme: »Ich frage mich, was es ist, das Euch derart in Bedrängnis bringt, mein Haus heimlich wie ein Dieb in der Nacht zu verlassen?«

      »Ihr vergesst, was ich bin, Tirado. Nämlich genau das – ein Dieb und ein Mörder!«, antwortete Jess tonlos und begegnete herausfordernd dem Blick des Gouverneurs, der gelassen aus dem Schatten einer Säule trat. »Ich kehre lediglich zu dem zurück, was ich am besten kann.«

      »Und dennoch besitzt Ihr mehr Ehre im Leib als die meisten hochwohlgeborenen Herren, die mein Haus aufsuchen.« Der Gouverneur runzelte nachdenklich die Stirn. »Tamaka scheint wirklich große Macht über Euch zu besitzen, und dies noch über seinen Tod hinaus. Das ist wirklich interessant, und ich hätte es wohl nicht geglaubt, wenn ich es jetzt nicht mit eigenen Augen sehen würde.« Tirado schob seine Gestalt zwischen Jess und dem Ausgang. »Meint Ihr nicht, es ist ein Fehler, noch nicht einmal meine Hilfe in dieser Sache, wie auch immer sie jetzt aussehen mag, zu überdenken? Warum seid Ihr Euch so sicher, dass der Seher Recht hat, mit dem, was er Euch rät?«

      »Bisher sind leider seine Vorhersagen ziemlich genau eingetroffen. Ohne seine Hinweise hätte ich die Treasure nicht zurückerhalten.«

      »Was habt Ihr jetzt vor? Direkt nach Waidami segeln, und Lanea lasst Ihr einfach hier zurück? Es ist nicht zu übersehen, was Ihr für diese Frau empfindet, mein Freund. Und dennoch geht Ihr, ohne ein Wort?«

      Jess betrachtete Tirado aus schmalen Augen. Der Gouverneur sah ihn mitleidig an, als wüsste er um die Verzweiflung, die in Jess tobte.

      »Wenn Ihr der Freund seid, wie Ihr es so sehr betont, dann erbitte ich einen Gefallen von Euch, für den ich Euch nicht mehr anbieten kann, als meinen aufrichtigen Dank.«

      »Ich bitte Euch, sprecht. Ich erwarte nichts von Euch, außer dem Versprechen, Euer Ziel nicht aus den Augen zu lassen, denn sonst fürchte ich, ist der Preis, den Ihr hier und heute zahlt, zu hoch.«

      Jess wollte gerade antworten, als ihn etwas innehalten ließ, und er drehte sich um, um in den Gang zu blicken, aus dem er gerade erst gekommen war.

      *

      Lanea erwachte mit einem Gefühl der Ruhe, die sie in den letzten Wochen und Monaten nicht mehr gekannt hatte. Immer war ein dumpfes Loch in ihrem Inneren gewesen, das sich auch nicht mit der Fülle der vergangenen Ereignisse hatte stopfen lassen.

      Glücklich seufzte sie an die Erinnerungen der letzten Nacht und tastete mit der linken Hand über das Bett, um Jess zu fühlen. Doch ihre Hand tastete ins Leere, und Lanea setzte sich abrupt auf.

      »Jess?«, fragte sie in die Leere des Raumes und ihr Herz klopfte von einem Augenblick auf den anderen in ihrer Brust, als wollte es sie mit Gewalt darauf aufmerksam, was sie bereits ahnte. Verwirrt sah sie sich in dem Zimmer um, das langsam von dem aufwachenden Tag aus der Dunkelheit geholt wurde und offenbarte, was ihr Herz verzweifelt zu sagen versuchte.

      Jess war nicht da.

      Mit einem Schlag war das Loch wieder da und löschte das kurze Glück aus, als wäre es nie da gewesen.

      Sicher war er nur gegangen, um auf der Treasure zu schlafen. Doch eine böse Ahnung zwang sie, aufzustehen. Lanea dachte nicht weiter darüber nach. Sie griff nach dem Kleid, das sie gestern über der Kleidertruhe ausgebreitet hatte, schlüpfte rasch hinein und raffte den Stoff vor ihrem Körper zusammen. Dann fuhr sie sich eilig durch ihre langen Haare und eilte auf nackten Sohlen zur Tür und riss sie auf. Der Diener, der neben der Tür auf einem Stuhl gesessen hatte, fiel vor Schreck beinahe zu Boden. Im letzten Augenblick fing er den Sturz ab und stand auf. Erschrocken starrte er sie an.

      »Verzeiht, Señora, was kann ich für Euch tun?«

      »Ist Señor Morgan vorbei gekommen?«, fragte sie außer Atem und schalt sich gleichzeitig eine Närrin. Als ob Jess durch das Fenster gestiegen wäre.

      »Er ist den Gang hinunter gegangen. Der Señor wollte an die frische Luft.« Der Mann zeigte in die Richtung, die geradewegs in die große Eingangshalle führte.

      Laneas dunkle Vorahnung warf sich wie ein Mantel über sie und erstickte ihr Herz.

      Er geht! Er geht, schrie es in ihr, und sie rannte los.

      *

      Laneas Strömung traf Jess ungebremst mit der Wucht einer Explosionswelle und ließ ihn aufkeuchen. Sie war wach und ahnte zweifellos, dass etwas nicht stimmte. Gehetzt wandte er sich wieder Tirado zu, der ihn fragend ansah.

      »Kümmert Euch um Lanea!«, stieß er hervor und schob den überraschten Gouverneur beiseite. »Mir bleibt keine Zeit, es tut mir leid.«

      Er musste fort, bevor sie ihn erreichen konnte. Ihre Strömung war bereits kaum zu ertragen, die sich an ihn klammerte und mit ihrer ganzen Verzweiflung auf ihn einschlug.

      Tirado sah ihn enttäuscht an. Doch der Enttäuschung wich Mitleid, als die laufenden Schritte immer näher klangen, die Laneas Kommen ankündigten, und Tirado begriff. Langsam nickte er Jess zu und ergriff dessen Rechte.

      »Lebt wohl. Es wird ihr an nichts mangeln.«

      Jess atmete tief ein und erwiderte den Händedruck. Er begegnete dem aufrechten Blick seines Freundes.

      »Habt Dank, mein Freund«, sagte er rau und rannte auf den Ausgang zu.

      »Jess!«

      Der Ruf traf ihn wie eine Musketenkugel, die hinterhältig auf seinen Rücken abgeschossen worden war und sein Innerstes zerriss. Jess ignorierte den Schmerz und passierte den Ausgang. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, rannte er die Treppe hinunter, an deren Fuß überraschenderweise ein Diener mit einem Pferd auf ihn wartete. Beide wirkten müde und sahen Jess verschlafen entgegen.

      »Guten Morgen, Señor! Der Gouverneur entbietet Euch seine besten Wünsche und die Bitte, diese kleine Aufmerksamkeit anzunehmen.« Der Mann richtete seine Gestalt ein wenig auf, als hätte er sich besonnen, doch noch Haltung anzunehmen.

      »Danke!«, antwortete Jess knapp und ergriff die Zügel, die der Diener ihm reichte. Er zögerte kurz und fuhr fort, während er sich in den Sattel schwang: »Richtet dem Gouverneur gleichfalls eine Bitte von mir aus: Er möge mir bei unserer nächsten Begegnung aus dem Weg gehen. Wir stehen nicht wirklich auf derselben Seite.«

      Eilig schwang er sich in den Sattel und trieb das Pferd an. Ohne einen Blick zurück, lenkte er es in einem zügigen Trab auf die Straße in Richtung Hafen. Das laute Klappern der Hufe erfüllte mit seinem eiligen Rhythmus den Morgen. Die Häuser glitten mit ihren dunklen Fensterhöhlen an ihm vorbei. Langsam erwachte das Leben in den Straßen, und die ersten Männer und Frauen liefen umher. Doch Jess nahm sie nicht wahr. Sah nur den Weg, der ihn fort von Lanea und hin zu seinem Schicksal führte. Mit seinen letzten Worten hatte er die Brücke in dieses andere Leben eingerissen, und er war sicher, dass es damit kein Zurück mehr für ihn gab.

      Jess atmete auf, als er den Hafen erreichte und sein Blick auf die Monsoon Treasure fiel, die friedlich und unversehrt an der Pier lag. Ein Piratenschiff, Seite an Seite mit den spanischen Schlachtschiffen. Ein seltsamer Anblick, den er wohl so nie wieder sehen würde. Für ihn selbst hielt das Ende von Tamakas Vision nichts Gutes bereit, das hatte ihm der Seher damals auf Bocca del Torres nicht verschweigen können. Trotzdem würde er heute der Vision folgen, was blieb ihm anderes übrig, als es wenigstens zu versuchen. Schließlich waren Visionen nur Möglichkeiten. Wenn er den Tod fand, war Lanea nun wenigstens